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Informationen zum Dokument  BGE 107 IV 55  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Nach Art. 36 Abs. 4 SVG darf der Führer, der sein Fahrzeu ...
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17. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. Februar 1981 i.S. S. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde).
 
 
Regeste
 
Art. 36 Abs. 4 SVG, Art. 17 Abs. 1 VRV; Einfügen eines Trolleybus in den Verkehr.  
 
Sachverhalt
 
BGE 107 IV, 55 (55)A.- Am 1. Oktober 1979 steuerte S., Chauffeur der STJ Thun, den Trolleybus Nr. 1 von Hilterfingen nach Oberhofen. Auf der Höhe der zu seiner Rechten gelegenen alten Jugendherberge querte er die Strasse nach links, wendete das Fahrzeug auf dem dafür vorgesehenen Platz "Rider" und hielt den Bus neben dem Parkhaus in Richtung Thun an. Das vor und nach dem Wendeplatz die Strasse säumende Trottoir ist auf der ganzen Länge dieses Platzes unterbrochen. Immerhin befindet sich in dessen Mitte eine Verkehrsinsel, deren Distanz bis zur linken vorderen Ecke des haltenden Busses 11,8 m beträgt.
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Zu dieser Zeit bewegte sich der 1911 geborene, ca. 165 cm grosse, infolge einer Lähmung stark gehbehinderte und vornüber gebeugte Sch. mit seiner 148 cm grossen Frau langsam in Richtung Thun zwischen der Verkehrsinsel und dem haltenden Bus gegen das Trottoir vor dem Parkhaus. Nachdem S. mehrere Passagiere in sein Fahrzeug hatte einsteigen lassen und Billete BGE 107 IV, 55 (56)ausgegeben hatte, blickte er nach links und fuhr an, um seine Fahrt in Richtung Thun fortzusetzen. In diesem Augenblick befanden sich die Eheleute Sch. unmittelbar vor der Front des Busses und strebten dem Trottoir zu. Da Frau Sch. ihrem Mann etwas voranschritt, konnte sie ungehelligt den Trottoirrand erreichen, während ihr Mann vom Fahrzeug erfasst und ca. 2,75 m nach vorne geschoben wurde. Er erlitt dabei eine Schwartenrisswunde am Hinterkopf und starke Prellungen und Quetschungen an Rücken und Unterschenkeln.
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Polizeiliche Messungen ergaben, dass die Sicht des Chauffeurs durch den unteren Frontscheibenrand des Busses beschränkt war und dass jener eine Person von der Körpergrösse des Sch. nicht sehen konnte, wenn sie weniger als 90 cm von der Front des Fahrzeuges entfernt war.
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B.- Der Gerichtspräsident II von Thun sprach S. am 9. April 1980 von der Anschuldigung der Missachtung von Verkehrsregeln frei.
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Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte ihn dagegen am 23. September 1980 wegen Verletzung von Art. 36 Abs. 4 SVG und Art. 17 Abs. 1 VRV zu einer Busse von Fr. 100.-.
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C.- S. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung zurückzuweisen.
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Der Generalprokurator-Stellvertreter des Kantons Bern beantragt Abweisung der Beschwerde.
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Aus den Erwägungen:
 
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a) Nach dem angefochtenen Urteil und den ihm zugrunde liegenden Akten (polizeiliche Planskizze, Fotos s. Seite 57) ist Sch. vom Trolleybus noch auf dem Wendeplatz "Rider", also ausserhalb der Staatsstrasse, angefahren worden. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass jene Verkehrsregeln auch auf dem genannten Platz Anwendung fanden. Die Verkehrsregeln gelten nämlich nach Art. 1 Abs. 1 SVG für die BGE 107 IV, 55 (57)Führer von Motorfahrzeugen auf allen, dem öffentlichen Verkehr dienenden Strassen. Strassen aber sind gemäss Art. 1 Abs. 1 VRV die von Motorfahrzeugen, motorlosen Fahrzeugen oder Fussgängern benützten Verkehrsflächen, und öffentlich sind Strassen, die nicht ausschliesslich privatem Gebrauch dienen. Da der Wendeplatz "Rider" nicht nur von Trolleybussen, sondern auch von ein- und aussteigenden Passagieren und Fussgängern, die von einem zum andern Ende des durch den Platz unterbrochenen Trottoirs gelangen wollen, also von einem unbestimmbaren Personenkreis benutzt werden, ist er eine öffentliche Strasse und fällt deshalb der Verkehr auf ihm unter die Bestimmungen des SVG und seiner Nebenerlasse (BGE 104 IV 108, BGE 86 IV 31).
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b) Aus dem Gesagten folgt, dass S. im vorliegenden Fall sich vor dem Wegfahren von der Haltestelle zu vergewissern hatte, dass er Kinder oder andere Benützer des Platzes nicht gefährde. Diesen gegenüber war er auf dem Wendeplatz wartepflichtig. Art. 17 Abs. 5 VRV ändert daran nichts. Er regelt das Verhältnis des Busführers im Linienverkehr zu von hinten auf der Fahrbahn herannahenden Fahrzeugführern und entbindet den ersteren nicht von der allgemeinen Pflicht, beim Wegfahren von einer Haltestelle allfällige vor seinem Fahrzeug durchgehende Strassenbenützer nicht zu gefährden.
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BGE 107 IV, 55 (58)c) Nach den verbindlichen Annahmen des angefochtenen Urteils befanden sich die Eheleute Sch., die ganz nahe am Trolleybus vorbeigingen und dabei hintereinander liefen, im Moment, als der Bus losfuhr, im sichttoten Winkel des Fahrzeuges. Frau Sch. habe allerdings nur einen Schritt schräg nach links vom Bus weg gegen das Trottoir tun müssen, damit ihr Kopf im Blickwinkel des Beschwerdeführers erschienen sei, was sie beim Anlassen des Motors auch getan habe. In diesem Augenblick habe S. jedoch nach links beobachtet und er sei erst durch den Funkspruch seines Kollegen F. darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich Sch. vor der Front seines Fahrzeugs befand. S. habe die Eheleute Sch. im übrigen schon zuvor beim Abbiegen zum "Rider" als auch während des Halts gesehen. Während des Abbiegens befand sich das Ehepaar auf oder bei der Verkehrsinsel, als der Bus anhielt, bei der auf dem Plan mit "c" bezeichneten Stelle. Dabei war die Sicht des Beschwerdeführers - wie die Vorinstanz erneut verbindlich feststellt - nicht behindert.
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Geht man davon aus, so wusste der Beschwerdeführer, dass sich ein älteres Ehepaar, dessen einer Partner erkennbar schwer gehbehindert war, langsam von links her gegen den Bus zu bewegte. Auch wenn er während des Halts damit beschäftigt war, an einsteigende Passagiere Billete abzugeben, und ihm deshalb nicht als Verschulden zur Last fällt, dass er während dieser Zeit nicht auch noch das Geschehen rings um sein Fahrzeug beobachtete, so musste er doch unmittelbar vor dem Wegfahren sich nach den beiden Fussgängern umsehen. Als er den Bus angehalten hatte, hatte er die beiden bei Position "c" gesehen, also in der Nähe des Strassenrandes und ca. 6,20 m von der linken vorderen Ecke seines Fahrzeugs entfernt. In diesem Zeitpunkt lagen keine Anzeichen dafür vor, dass das Ehepaar Sch. hinten um den Bus herumgehen würde, dies umso weniger, als S. die beiden Personen im Zeitpunkt des Abbiegens bei der Verkehrsinsel gesehen hatte und sie von dort nicht etwa nach rechts, sondern weiter dem Strassenrand entlang in gerader Linie (durch Position "c") auf das dem Parkhaus vorgelagerte Trottoir zu gehalten hatten. Angesichts dessen lag es nahe, dass sie unmittelbar vor seinem Fahrzeug durchgehen würden. Da er sie jedoch vor dem Wegfahren bei der Beobachtung nach vorne nicht sehen konnte, weil sie sich im sichttoten Winkel des Fahrzeuges befanden, stellt sich die Frage, ob er es bei einer Beobachtung BGE 107 IV, 55 (59)aus sitzender Stellung heraus bewenden lassen durfte oder ob er ein mehreres hätte tun müssen.
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Wie der Kassationshof entschieden hat, handelt es sich beim sichttoten Winkel um einen in der Bauart des Fahrzeugs liegenden Faktor, den der Führer grundsätzlich zum vorneherein in Rechnung zu stellen hat; insbesondere hat der Wartepflichtige dafür besorgt zu sein, dass die sich aus jenem Faktor ergebenden Risiken ausgeschaltet werden (BGE 83 IV 166). Wo die Sicht nach vorne beschränkt ist und am Fahrzeug keine Spiegel angebracht sind, welche vom Führersitz aus Einsicht in die vorne liegenden sichttoten Winkel ermöglichen, wird sich der Führer gegebenenfalls kurz vom Sitz erheben, sich vorbeugen oder seitlich etwas verschieben müssen, um genügende Sicht zu gewinnen. Das ist auch dem von einer Haltestelle wegfahrenden Chauffeur eines Linienbusses dann zuzumuten, wenn nach den Umständen eine nahe Möglichkeit besteht, dass Fussgänger (Kinder wie Erwachsene) unmittelbar vor seinem Fahrzeug durchgehen, die er wegen der in der Bauart des Wagens liegenden Sichtbehinderung vom Führersitz aus in sitzender Stellung nicht sehen kann. Hier wird er sich kurz vom Sitz erheben müssen, um sich zu vergewissern, dass sich niemand im sichttoten Winkel seines Fahrzeuges befindet.
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Im vorliegenden Fall musste S. nach dem Gesagten mit der Möglichkeit rechnen, dass das zuvor beobachtete, kleingewachsene Ehepaar Sch., dessen einer Teil erkennbar gebrechlich war und sich nur mühsam voranbewegte, vor dem Bus durchgehen würde. Er hätte deshalb vor dem Wegfahren sich kurz vom Sitz erheben und nötigenfalls leicht vorbeugen müssen, um einen Blick in den der Fahrzeugfront unmittelbar vorgelagerten Raum zu tun. Hätte er es getan, hätte er die beiden Fussgänger gesehen. Der ihm von der Vorinstanz gemachte Vorwurf mangelnder Aufmerksamkeit und Vorsicht besteht deshalb zu Recht.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist.
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