BGE 109 IV 78 | |||
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22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. Januar 1983 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 44 Ziff. 3 StGB; Anrechnung des Massnahmevollzugs auf die aufgeschobene Freiheitsstrafe. |
2. Von der Anrechnung kann ganz oder teilweise abgesehen werden, wenn der Misserfolg der Massnahme auf vorwerfbare, böswillige Obstruktion zurückzuführen und mit der Krankheit oder Sucht des Betroffenen nicht erklärbar ist. | |
Sachverhalt | |
A.- Am 16. November 1981 wurde S. vom Kantonsgericht Schaffhausen wegen Raubes, Diebstahls, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruches zu acht Monaten Gefängnis, abzüglich 110 Tage Untersuchungshaft, verurteilt. Der Vollzug der Strafe wurde aufgeschoben und die Einweisung des rauschgiftsüchtigen Angeklagten in eine Anstalt gemäss Art. 44 Ziff. 1 und 6 StGB angeordnet. Vom 25. November 1981 an war S. im Massnahmevollzug im AEBI-HUS in Leubringen. Am 5. Mai 1982 verliess er ohne Zustimmung der Vollzugsbehörde diesen Ort. Nach seiner Verhaftung am 23. Mai 1982 wurde er in die kantonale Anstalt Realta, Cazis, und später in die psychiatrische Klinik Breitenau, Schaffhausen, zum weiteren Massnahmevollzug eingewiesen. Sowohl die Leitung des AEBI-HUS wie auch der Anstalt Realta erklärten S. für ihre Heimstätten wegen mangelnder konstruktiver Mitarbeit (u.a. Konsum von Haschisch, Diebstahl von Betäubungs- und Schmerzmitteln) als nicht weiter tragbar. Ebenso wie die vorerwähnten Anstalten erachtete die psychiatrische Klinik Breitenau die Chance, S. von seiner Drogenabhängigkeit zu heilen, infolge nicht vorhandener Motivation beim Patienten als gering. Gestützt auf die Berichte der obenerwähnten Institutionen ersuchte die Polizeidirektion des Kantons Schaffhausen das Kantonsgericht, im Sinne von Art. 44 Ziff. 3 StGB zu entscheiden.
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Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 15. Oktober 1982 den Beschluss des Kantonsgerichts hinsichtlich der Anrechnung auf und erklärte die Strafe von acht Monaten Gefängnis abzüglich 110 Tage Untersuchungshaft für vollziehbar.
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C.- S. erhob gegen diesen Entscheid Beschwerde an das Bundesgericht mit dem sinngemässen Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben.
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In ihrer Vernehmlassung beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen Abweisung der Beschwerde.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Art. 44 Ziff. 3 StGB regelt die Aufhebung der Massnahme, wenn der Eingewiesene nicht geheilt werden kann. Der Richter entscheidet dann über die Vollstreckung der aufgeschobenen Strafe. Während in Ziffer 3 die Anrechnung des Massnahmevollzugs auf die aufgeschobene Freiheitsstrafe nicht erwähnt wird, sieht Art. 44 Ziff. 5 StGB die obligatorische Anrechnung vor.
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c) Der Gesetzesentwurf des Bundesrates (BBl. 1965 I, S. 616) sah in Art. 44 Ziff. 3 StGB noch folgende Regelung vor: "Die Dauer der bereits vollzogenen Massnahme ist zu berücksichtigen, soweit sie der Eingewiesene nicht böswillig erschwert hat." In der Botschaft wurde dazu ausgeführt, dass der Richter in seinem Entscheid über den Vollzug der aufgeschobenen Strafe die Dauer der Massnahme "ordentlicherweise" anzurechnen hat (BBl. 1965 I, S. 577). Der Ständerat übernahm diese Regelung in Ziffer 3, ergänzte aber Ziffer 4 (Entlasssung des geheilten Eingewiesenen) mit der Pflicht zur Anrechnung (Amtl. Bull. 1967, SR, S. 64). Der Nationalrat stimmte seinerseits der Ergänzung von Ziffer 4 zu, strich aber in Ziffer 3 den Satz, wonach die Dauer des Massnahmevollzugs, soweit er nicht böswillig erschwert wurde, anzurechnen ist, ersatzlos. Berichterstatter A. SCHMID (Amtl. Bull. 1969, NR, S. 120) begründete dies damit, dass es problematisch sei, bei der Frage der Anrechnung darauf abzustellen, ob der Eingewiesene die Massnahme böswillig erschwert habe. Zudem stelle dieser Satz ohnehin nur eine Direktive dar, die dem Richter keine genaue Richtlinie gebe, wie weit die aufgeschobene Strafe vollstreckt werden solle. Nebenbei sei noch bemerkt, dass Art. 44 StGB später in redaktioneller Hinsicht Art. 43 StGB angepasst wurde, indem die bisher in Ziffer 4 vorgesehene Regelung der Vollstreckung der aufgeschobenen Strafe sowie der Anrechnungspflicht im Falle des geheilten Eingewiesenen in einer neuen Ziffer 5 aufgeführt wurde.
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d) Aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich, dass Ziffer 5 nur im Falle der geheilten Eingewiesenen gemäss Ziffer 4 zur Anwendung kommt (sonst hätte im übrigen die bis auf die Frage der Anrechnung identische Regelung der Vollstreckung aufgeschobener Strafen in den Ziffern 3 und 5 keinen Sinn). Die Frage, ob bezüglich der Anrechnung in Ziffer 3 eine echte Gesetzeslücke vorliege, die durch analoge Anwendung von Ziffer 5 zu schliessen wäre, ist zu verneinen, wurde doch die ursprünglich vorgesehene Regelung vom Nationalrat bewusst ohne Ersatz fallen gelassen (vgl. auch SCHULTZ, AT II, 4. Aufl., S. 163 und 172). Aus den Materialien folgt weiter, dass der Richter im Rahmen des Entscheids über die Vollstreckung der aufgeschobenen Strafe zu prüfen hat, ob und allenfalls wieweit der Massnahmevollzug auf die Freiheitsstrafe anzurechnen ist. Der Entstehungsgeschichte kann indessen nicht entnommen werden, wann der Richter eine Anrechnung des Massnahmevollzugs verweigern darf oder soll.
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e) SCHULTZ (a.a.O. S. 163, 172; ZBJV 110 (1974) S. 73; ZBJV 113 (1977) S. 279) tritt dafür ein, dass der Richter den Massnahmevollzug in der Regel anrechnen sollte. Der Eingewiesene solle nicht für eine falsche Prognose des Gerichts im Zeitpunkt der Anordnung der Massnahme, d.h. für den aus der Abnormität des Verurteilten zu erklärenden Misserfolg der Behandlung mit der Verweigerung der Anrechnung "bestraft" werden. Dies entspreche auch den Grundsätzen des dualistisch-vikariierenden Systems. Während SCHULTZ und LOGOZ (N 6 zu Art. 44 StGB) eine Ausnahme von der Regel der Anrechnung dann befürworten, wenn der Eingewiesene das Scheitern der Massnahme böswillig herbeigeführt hat, hält STRATENWERTH (ZStrR 89 (1973) S. 147) dafür, dass die Anrechnung aus den obgenannten Gründen ausnahmslos gewährt werden sollte. Demgegenüber will REHBERG (ZStrR 93 (1977) S. 188) dem Richter in der Anrechnungsfrage freie Hand lassen; zu Begründung schildert er das Beispiel des die Behandlung aus vorwerfbaren Gründen verhindernden Verurteilten.
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f) Das schweizerische Strafgesetzbuch vermeidet grundsätzlich die Kumulation von Freiheitsstrafe und freiheitsentziehenden Massnahmen. Entsprechend hielt die bundesrätliche Botschaft fest, dass die Dauer der Massnahme "ordentlicherweise" anzurechnen sei (vgl. Ziff. 3c hiervor). Die Ansicht, wonach die Anrechnung des Massnahmevollzugs auf den Strafvollzug den Regelfall darstellt, erscheint auch deshalb begründet, weil die Verweigerung derselben einen deutlich schwereren Eingriff in das Leben des Verurteilten zur Folge hätte, als dies bei alleiniger Strafverbüssung der Fall wäre. Die Erfolglosigkeit der Massnahme ist nun aber für sich allein noch kein Grund, den Betroffenen "strenger zu bestrafen"; dies trifft insbesondere dann zu, wenn der Misserfolg der Therapie Ausdruck der abnormen Persönlichkeit, deretwegen ein Verurteilter im Massnahmevollzug steht, ist. Anders verhält es sich bloss dann, wenn die Erfolglosigkeit auf vorwerfbare, böswillige Obstruktion des Betroffenen zurückzuführen ist, welche mit seinem Suchtverhalten nicht erklärt werden kann. Die vollständige Anrechnung in einem solchen Fall könnte den Missbrauch der Massnahme zur Umgehung der Verbüssung der Freiheitsstrafe begünstigen. Ausserdem ist der drohende Strafvollzug gerade für willensschwache Eingewiesene Motivationshilfe, die Behandlung zumindest nicht zu erschweren.
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g) Ausgehend davon, dass die freiheitsentziehende Massnahme grundsätzlich anzurechnen ist, hat der Richter in jedem Fall zuerst die anrechenbare Dauer zu bestimmen. Diese muss nicht unbedingt mit der in einer Massnahmevollzugsanstalt verbrachten Zeitdauer übereinstimmen. Erhebliche Unterschiede im Ausmass effektiver Beschränkung der persönlichen Freiheit in einer konkreten Massnahmevollzugsinstitution einerseits und im Strafvollzug andererseits könnten bei alleinigem Abstellen auf die Zeitdauer zu einer ungerechtfertigten Privilegierung der erfolglos in einer freiheitlichen Vollzugseinrichtung Betreuten führen. Dies ist aus der Sicht der Gleichwertigkeit von Massnahme und Freiheitsstrafe zu vermeiden. Der Richter hat deshalb bei der Bestimmung der grundsätzlich anrechenbaren Dauer des Massnahmevollzugs den Grad der Beschränkung der persönlichen Freiheit im Vergleich zum Freiheitsentzug in einer Strafanstalt mitzuberücksichtigen. Ist der Massnahmevollzug in einer konkreten Anstalt dem Strafvollzug in dieser Hinsicht ungefähr gleichzusetzen, so ist die ganze Dauer anrechenbar. Wird die Massnahme hingegen in einer Anstalt vollzogen, welche die persönliche Freiheit wesentlich weniger beschränkt, kann nur eine entsprechend gekürzte Dauer in Rechnung gestellt werden.
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h) Von der grundsätzlichen Anrechnung der so bestimmten Dauer des Massnahmevollzugs kann und soll der Richter bei vorwerfbarer, böswilliger Obstruktion durch den Verurteilten ganz oder teilweise absehen. Nicht jeder Widerstand gegen die therapeutische Behandlung ist aber ohne weiteres mit böswilliger Obstruktion gleichzusetzen. Angesichts der Schwierigkeit, die fehlende Behandlungsfähigkeit von der vorwerfbar nicht vorhandenen Behandlungswilligkeit zu unterscheiden, ist bei Beantwortung der Frage Zurückhaltung geboten. Zur Abklärung inwieweit Böswilligkeit gegeben ist und in welchem Grad sie den Vollzug beeinträchtigt hat, ist der Richter auf nähere Angaben einerseits über das Verhalten des Verurteilten im Vollzug und andererseits über Ursache und Auswirkungen der Obstruktion angewiesen. Er hat deshalb - im Rahmen des in Art. 44 Ziff. 3 StGB ohnehin vorgesehenen Berichts - bei der Anstaltsleitung eine entsprechende Stellungnahme einzuholen. Ergibt sich u.a. aufgrund dieses Berichts, dass der Misserfolg der Therapie gänzlich oder doch teilweise nicht auf die Krankheit oder Sucht des Betroffenen, sondern auf dessen böswilligen Widerstand zurückzuführen ist, hat der Richter die Verweigerung der Anrechnung zu prüfen. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz führt vorwerfbare Obstruktion aber nicht in jedem Fall dazu, dass die Anrechnung gänzlich zu verweigern ist. Dies ist besonders deutlich im Fall der langen im Prinzip anrechenbaren Dauer der bisherigen Internierung und einer bloss kurzen Freiheitsstrafe. Der Richter hat deshalb entsprechend dem Grad der vorgeworfenen Obstruktion und der Dauer der anrechenbaren Massnahme resp. der zu verbüssenden Freiheitsstrafe nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip die Anrechnung ganz oder bloss teilweise zu verweigern. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass die zu verbüssende Freiheitsstrafe auch durch die nur teilweise anzurechnende Massnahme doch ganz abgegolten ist.
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i) Die Vorinstanz geht deshalb fehl, wenn sie die Verweigerung der Anrechnung im wesentlichen schon durch die Feststellung als begründet erachtete, dass der Beschwerdeführer sowohl im AEBI-HUS als auch in der Anstalt Realta nach kurzer Zeit untragbar wurde und es an genügender Motivation fehlen liess.
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Das Obergericht hat es unterlassen, die vom Beschwerdeführer im Massnahmevollzug verbrachte Zeit genau festzustellen und davon ausgehend die grundsätzlich als strafgleich anrechenbare Dauer zu bestimmen (vgl. Ziff. 3g hiervor). Ebenso traf sie keine weiteren Abklärungen über die Gründe des Misserfolgs der Therapie. Die Ansicht, der Beschwerdeführer habe die Erfolglosigkeit der Massnahme zu vertreten, lässt sich nicht allein mit der Feststellung, es fehle ihm an der genügenden Motivation, begründen. Suchtkranke werden - auch bei zuvor erklärter Besserungswilligkeit - häufig die Entziehungskur z.B. durch Beschaffung von Suchtmitteln, Umgehung von Kontrollmassnahmen usw. zeitweise in Frage stellen. Dieses Verhalten kann gerade in der Süchtigkeit selbst begründet sein. Mit dem Hinweis allein, der Beschwerdeführer habe sich zu Beginn konstruktiv verhalten und sich erst im Verlaufe der Therapie widersetzt, lässt sich eigentliche Böswilligkeit deshalb nicht schlüssig belegen.
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Da die Vorinstanz weder zur Dauer der Massnahme (inkl. Abklärungen über die Beschränkung der persönlichen Freiheit in den drei Anstalten) noch zur Frage der böswilligen Obstruktion Sachverhaltsfeststellungen getroffen hat, die eine Überprüfung der Verweigerung der Anrechnung erlauben würden, ist das Urteil vom 15. Oktober 1982 aufzuheben und die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an das Obergericht zurückzuweisen.
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