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35. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. August 1986 i.S. F. und C. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 23 Abs. 1 ANAG, Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens; Art. 96 OG, Art. 269 BStP, Art. 73 VwVG. |
2. Der Richter kann in einem Strafverfahren selber vorfrageweise über die für die strafrechtliche Beurteilung einer bestimmten Handlung wesentliche Frage der Flüchtlingseigenschaft des Angeschuldigten entscheiden, wenn die Asylbehörden darüber noch nicht befunden haben (E. 4a). | |
Sachverhalt | |
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B.- Am 2. Juli 1985 verurteilte die Gerichtskommission Sargans F. und C. wegen rechtswidrigen Betretens des Landes gemäss Art. 23 Abs. 1 ANAG zu bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafen von acht Tagen, unter Anrechnung der Untersuchungshaft von acht Tagen. Das Kantonsgericht St. Gallen wies die von den beiden Verurteilten dagegen erhobene Berufung am 3. Februar 1986 ab.
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C.- Die Verurteilten fechten den Entscheid des St. Galler Kantonsgerichts entgegen der darin enthaltenen Rechtsmittelbelehrung nicht mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde, sondern, unter Hinweis auf Art. 73 Abs. 1 lit. b VwVG und BGE 101 IV 375 sowie VPB 1985 Nr. 1, mit Beschwerde beim Bundesrat an. Sie machen geltend, ihre Verurteilung gemäss Art. 23 Abs. 1 ![]() | 3 |
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragt unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde.
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Aus den Erwägungen: | |
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Die in der Beschwerdeschrift erwähnten BGE 101 IV 375 und VPB 1985 Nr. 1 betrafen Fälle der richterlichen Landesverweisung gemäss Art. 55 StGB. Der Kassationshof hielt in einem neuesten Urteil (BGE 111 IV 12) fest, der Strafrichter müsse bei der Anordnung der Nebenstrafe der Landesverweisung nicht prüfen, ob sich diese nach den Bestimmungen des Asylgesetzes überhaupt vollziehen lasse; allenfalls "aus dem Asylrecht" sich ergebende Einwände seien erst in jenem Zeitpunkt zu prüfen, in dem feststeht, dass die angeordnete Landesverweisung vollzogen werden muss; denn bei diesen "asylrechtlichen Argumenten" gehe es "nicht um eigentliche Vorfragen, deren Entscheidung für die Anwendung von Art. 55 StGB notwendig wäre, sondern es handelt sich um Hindernisse, welche gemäss Asylrecht aus humanitären Gründen dem Vollzug einer Landesverweisung im konkreten Fall eventuell entgegenstehen können" (BGE 111 IV 13 /14). Diesen Gedanken hatte der Kassationshof bereits in seiner Stellungnahme im Rahmen des im Jahre 1984 durchgeführten Meinungsaustauschs mit dem Bundesrat festgehalten (vgl. VPB 1985 Nr. 1 S. 18). Die vorliegend zu beurteilende Frage, ob die beiden türkischen Beschwerdeführer, die sich als Flüchtlinge bezeichnen und Asylanträge gestellt haben, gemäss Art. 23 Abs. 1 ANAG wegen illegaler Einreise verurteilt werden dürfen, kann indessen nicht entschieden werden, ohne dass zuvor geprüft wird, ob die in Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens genannten Voraussetzungen erfüllt sind und damit eine ![]() | 6 |
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Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens lautet:
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Die vertragschliessenden Staaten ergreifen wegen illegaler Einreise oder unrechtmässigen Aufenthalts keine Strafmassnahmen gegen Flüchtlinge, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, wo ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht war und sofern sie sich unverzüglich den Behörden stellen und triftige Gründe für ihre illegale Einreise oder Anwesenheit darlegen.
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Nach Auffassung der Vorinstanz sind mehrere der in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen für den Ausschluss einer strafrechtlichen Verfolgung wegen illegalen Grenzübertritts vorliegend nicht erfüllt. Die Beschwerdeführer können gemäss den Ausführungen im angefochtenen Urteil nicht als Flüchtlinge im Sinne des Flüchtlingsabkommens betrachtet werden, vermochten zudem keine triftigen Gründe für die illegale Einreise darzulegen und stellten sich schliesslich nach der Einreise nicht unverzüglich den Behörden.
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3. Das Kantonsgericht legte unter Berufung auf die Aussagen der Beschwerdeführer im Strafverfahren ausführlich dar, weshalb ![]() | 11 |
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a) Der Ausländer, dem die Schweiz Asyl gewährt hat, gilt gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtling im Sinne dieses Gesetzes sowie des Flüchtlingsabkommens (Art. 25 AsylG). Der Richter ist mithin in einem Strafverfahren wegen rechtswidrigen Betretens des Landes an den positiven Asylentscheid der zuständigen Behörden (siehe Art. 11 AsylG) gebunden und kann die Flüchtlingseigenschaft nicht erneut überprüfen (anders die Praxis verschiedener Gerichte vor dem Inkrafttreten des Asylgesetzes, siehe Botschaft des Bundesrates, BBl 1977 III 128 mit Hinweis auf BGE 93 II 362; VIKTOR LIEBER, Die neuere Entwicklung des Asylrechts im Völkerrecht und Staatsrecht, Diss. ZH 1973, S. 305, 318). Art. 25 AsylG hindert den Richter indessen nicht daran, in einem Strafverfahren selber vorfrageweise über die für die strafrechtliche Beurteilung einer bestimmten Handlung wesentliche Frage der Flüchtlingseigenschaft des Angeschuldigten zu entscheiden, wenn diese von den Asylbehörden noch nicht durch einen positiven Asylentscheid bejaht worden ist. Aus der Bindung des Strafrichters an einen positiven Asylentscheid der zuständigen Behörden kann nicht eine bundesrechtliche Pflicht zur Sistierung solcher Strafprozesse bis zum Abschluss des hängigen Asylverfahrens abgeleitet werden (vgl. auch WOLFGANG ECKERT, Begriff und Grundzüge des schweizerischen Flüchtlingsrechts, Diss. ZH 1977, S. 56/7, 73). Im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Urteils, am 3. Februar 1986, lag kein positiver Asylentscheid der zuständigen Behörden vor. Gemäss den Ausführungen ![]() | 13 |
Die Pflicht zur Sistierung des Strafverfahrens bis zum Abschluss des hängigen Asylverfahrens kann auch nicht aus dem in Art. 33 des Flüchtlingsabkommens festgelegten Grundsatz des "non-refoulement" abgeleitet werden. Dieser schon für die Dauer des Asylverfahrens geltende Grundsatz betrifft die Frage, ob und wohin eine Person ausgeschafft werden kann. Er steht der Bestrafung eines Asylbewerbers wegen rechtswidrigen Betretens der Schweiz nicht entgegen. Eine Person kann selbst im Falle der Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 23 Abs. 1 ANAG verurteilt werden, wenn eine der übrigen, in Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens genannten Voraussetzungen nicht erfüllt ist.
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Wohl führte der Kassationshof in BGE 111 IV 14, auf den sich die Beschwerdeführer ebenfalls berufen, aus, es erscheine "aus prinzipiellen und aus praktischen Gründen [...] weder notwendig noch zweckmässig, dass der Strafrichter sich mit der ihm nicht vertrauten Problematik des Asyl- und Flüchtlingsrechts auseinandersetzt". Damit wollte er aber, wie sich aus den übrigen Erwägungen in jenem Entscheid ergibt, lediglich zum Ausdruck bringen, dass der Strafrichter sich nicht mit flüchtlingsrechtlichen Fragen auseinandersetzen soll, wo dies nicht notwendig ist. So sind nach dem zitierten Urteil Einwände aus dem Asylrecht nicht schon vom Strafrichter bei der Ausfällung der Nebenstrafe der Landesverweisung, sondern erst von der zuständigen Behörde beim Vollzug der Landesverweisung zu berücksichtigen, da sie erst in diesem Stadium echte Vorfragen sind. Wo aber die Beantwortung der Frage der Flüchtlingseigenschaft des Angeschuldigten wie im vorliegenden Fall für die strafrechtliche Verfolgung einer bestimmten Handlung unerlässlich ist, muss sich der Strafrichter mit ihr befassen. Dass er mit den Problemen des Flüchtlingsrechts weniger vertraut ist als die zur Beurteilung der Asylgesuche zuständigen Behörden und dass zudem die Gefahr von Widersprüchen zu deren späteren Entscheiden besteht, ist kein Grund für die Sistierung des Strafprozesses bis zum Abschluss des Asylverfahrens, welches erfahrungsgemäss lange Zeit dauern kann. Der Strafrichter hat sich ![]() | 15 |
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