BGE 114 IV 55 | |||
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17. Urteil des Kassationshofes vom 10. Juni 1988 i.S. C. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 35 Abs. 1 SVG, Art. 8 Abs. 3 und Art. 36 Abs. 5 VRV. |
Offengelassen, ob er zusätzlich wegen unzulässiger Benützung des Pannenstreifens (Art. 36 Abs. 3 VRV) zu verurteilen sei. | |
Sachverhalt | |
Am 11. Juli 1986, um ca. 20.40 Uhr, fuhr C. mit einem Personenwagen auf der Autobahn N 13 von Landquart in Richtung Chur. In der Nähe des Anschlusswerks Chur-Nord bildete sich wegen einer Baustelle und der dadurch bedingten einstreifigen Verkehrsführung ein längerer Stau. C. schwenkte nach rechts auf den Pannenstreifen, fuhr auf diesem über eine Strecke von 400-500 m mit einer Geschwindigkeit von 40-60 km/h rechts an der teils stehenden, teils langsam fahrenden Fahrzeugkolonne vorbei und verliess die Autobahn über die Ausfahrt Chur-Nord.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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Der Beschwerdeführer fuhr unbestrittenermassen als Einzelfahrer, nicht als Glied einer Kolonne, auf dem Pannenstreifen rechts an der stockenden Fahrzeugkolonne vorbei.
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b) Das dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Manöver kann entgegen den Ausführungen in der Beschwerde nicht als Rechtseinspuren zum Zweck des Rechtsabbiegens qualifiziert werden. Auf einer Autobahn kann im Bereich einer Ausfahrt erst beim Beginn des Verzögerungsstreifens durch Ausschwenken auf diesen im Rechtssinne rechts eingespurt werden; der Verzögerungsstreifen dient dem Einspuren beim Verlassen der Autobahn (Art. 90 Abs. 2 in fine SSV; vgl. auch Art. 86 Abs. 2 lit. c und Abs. 6 in fine SSV). Vorher kommt im Bereich einer Autobahnausfahrt ein Rechtseinspuren nicht in Betracht.
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c) Ein Überholen im Rechtssinne ist allerdings nur gegeben, wenn das überholende und das überholte Fahrzeug sich auf der gleichen Fahrbahn befinden (BGE 81 IV 251; RUEDI HUG, Die Verkehrsregeln über das Überholen und Vorbeifahren und ihr strafrechtlicher Schutz, Diss. Zürich 1984, S. 6; SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I, S. 199 RN 542). Zu prüfen ist somit, ob der Pannenstreifen ein Teil der Fahrbahn sei. Diese Frage wird zwar in der Nichtigkeitsbeschwerde nicht aufgeworfen, sie ist aber von Amtes wegen zu entscheiden.
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Der Pannenstreifen wird vom rechten Fahrstreifen durch eine weisse, ununterbrochene Linie abgegrenzt. Dabei handelt es sich um eine Randlinie (Art. 76 Abs. 1 SSV). Nach Art. 90 Abs. 1 2. Satz SSV werden auf Autobahnen und Autostrassen die Fahrstreifen durch eine Randlinie vom Pannenstreifen oder vom Fahrbahnrand getrennt. Die Randlinie zeigt somit nicht in jedem Fall den Rand der Fahrbahn an. Der Pannenstreifen weist den gleichen oder einen ähnlichen Belag auf wie die Fahrstreifen. Der Pannenstreifen dient dem Fahrverkehr (siehe Art. 1 Abs. 4 VRV) als Ausweich- und Haltefläche in Notfällen. Im Bereich von Baustellen sowie bei Unfällen wird der Fahrverkehr durch Signale und Markierungen bzw. durch Weisungen der Polizei häufig über den Pannenstreifen geführt. Der Pannenstreifen hat eine Hilfsfunktion und keine selbständige Bedeutung; er ist ohne die Existenz von Fahrstreifen sinnlos. Der Pannenstreifen ist daher zwar kein Fahrstreifen, aber ein Teil der Fahrbahn, der - im Unterschied zur sog. "Kriechspur" - nur unter bestimmten Voraussetzungen benützt werden darf, was durch die Markierung einer weissen, ununterbrochenen Linie optisch deutlich zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Sinne hat auch der deutsche Bundesgerichtshof in Strafsachen in einem Beschluss vom 6. Mai 1981 entschieden (NJW 1981 S. 1968 ff. mit Hinweisen auf die unterschiedlichen Auffassungen in der Literatur und in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte).
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d) Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen unzulässigen Rechtsüberholens verstösst somit nicht gegen Bundesrecht. Ob er zusätzlich auch wegen unzulässiger Benützung des Pannenstreifens (Art. 36 Abs. 3 VRV) hätte verurteilt werden müssen, kann offenbleiben, da im vorliegenden Verfahren eine reformatio in peius ohnehin nicht zulässig wäre.
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3. Indem der Beschwerdeführer auf dem Pannenstreifen über eine Strecke von 400-500 m mit einer Geschwindigkeit von 40-60 km/h eine stockende Fahrzeugkolonne rechts überholte, schuf er nach den zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil eine abstrakte Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer, welche leicht zu einer konkreten Gefährdung hätte werden können, wenn ein anderer Fahrzeuglenker aus irgendeinem Grund hätte auf den Pannenstreifen fahren müssen. Dem Beschwerdeführer war es entgegen seiner Meinung offensichtlich nicht unzumutbar, bis zur Ausfahrt in der Kolonne zu verharren, auch wenn er noch vor Ladenschluss (Abendverkauf) in Chur eintreffen wollte. Die in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG ausgefällte Busse von Fr. 300.-- hält sich auch unter Berücksichtigung der Vorstrafenlosigkeit und des guten Leumundes des Beschwerdeführers im Rahmen des dem kantonalen Richter zustehenden weiten Ermessens, in das der Kassationshof nach ständiger Rechtsprechung (BGE 107 IV 62 E. 2a) nicht eingreift. Die Voraussetzungen eines besonders leichten Falles (Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG) sind offensichtlich nicht gegeben.
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