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27. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. Dezember 1988 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 44 StGB; ambulante Behandlung mit aufgeschobener Strafe. |
2. Im Falle einer stationären Behandlung kann die freiwillige Therapie unter Umständen auf die Strafe angerechnet werden, auch wenn sie im Ausland durchgeführt worden ist (E. 4). |
3. Die zugunsten der ambulanten Behandlung aufgeschobene Strafe kann nachträglich bedingt vollziehbar erklärt werden (E. 5). | |
Sachverhalt | |
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Am 7. April 1986 entwich X. aus der psychiatrischen Klinik Breitenau. Er begab sich nach Frankreich und weilte bis zum 1. August 1986 in der Drogenentzugsstation "Le Patriarche". In der Folge lebte er drogenfrei in Paris und am 5. Januar 1988 stellte er sich freiwillig beim Verhöramt Schaffhausen.
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Wegen der zwischen Februar 1985 und April 1986 begangenen Delikte (u.a. BetmG-Vergehen) wurde X. am 24. Februar 1988 durch das Kantonsgericht Schaffhausen zu acht Monaten Gefängnis (unbedingt), abzüglich 99 Tage Untersuchungshaft, verurteilt. Nach der Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe konnte er am 27. April 1988 bedingt aus dem Strafvollzug entlassen werden.
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B.- Nachdem die Staatsanwaltschaft bereits im September 1985 den Vollzug der am 21. Dezember 1984 zugunsten der ambulanten Drogenentzugstherapie aufgeschobenen Freiheitsstrafe von zehn Monaten Gefängnis beantragt hatte, befasste sich das Kantonsgericht Schaffhausen erst am 18. März 1988 mit diesem Begehren; es entschied, auf den Vollzug der Strafe werde verzichtet. Dagegen führte die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen Beschwerde.
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Am 8. Juli 1988 hiess das Obergericht des Kantons Schaffhausen die Beschwerde teilweise gut und erkannte, der Vollzug der am 21. Dezember 1984 ausgesprochenen Freiheitsstrafe werde bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von zwei Jahren. Nebst den seinerzeit abgezogenen 115 Tagen Untersuchungshaft wurden weitere 89 Tage Massnahmenvollzug (im "Le Patriarche") angerechnet.
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C.- Mit der vorliegenden eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, es sei der angefochtene Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen "zur Anordnung des Vollzuges der vom Kantonsgericht am 21. Dezember 1984 ausgefällten und zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschobenen Strafe von 10 Monaten Gefängnis unter Anrechnung von 115 Tagen Untersuchungshaft, aber ohne Anrechnung der 1986 in einer ausländischen Drogenentzugsinstitution verbrachten Zeit und ohne nachträgliche Gewährung des bedingten Strafvollzuges".
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Die Vorinstanz ging demgegenüber davon aus, die seinerzeitige Anordnung einer ambulanten Massnahme habe sich als unzweckmässig erwiesen und das Kantonsgericht hätte bereits früher entscheiden müssen, ob der Beschwerdegegner gemäss Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB in eine Heil- oder Pflegeanstalt einzuweisen oder ob die aufgeschobene Strafe noch zu vollstrecken sei; im Aufenthalt in einem französischen Drogenentzugszentrum könne kein vollwertiger Ersatz für die angeordnete, aber noch nicht durchgeführte ambulante Behandlung gesehen werden; am ehesten dem Sinn der gesetzlichen Ordnung entspreche es, wenn man die Therapie in Frankreich als erfolgreich abgeschlossene, vom Kantonsgericht nachträglich akzeptierte, stationäre Massnahme i.S. von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB auffasse; als "nachträglich genehmigt" habe auch das Fehlen eines Entlassungsbeschlusses der zuständigen Behörde gemäss Art. 44 Ziff. 4 Abs. 1 StGB zu gelten; folglich sei Art. 44 Ziffer 5 anwendbar; da die Massnahme erfolgreich gewesen sei und die objektiven und subjektiven Voraussetzungen des Art. 41 Ziff. 1 StGB erfüllt seien, könne der bedingte Vollzug für die zehnmonatige Gefängnisstrafe gewährt werden.
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3. a) Im vorliegenden Fall wurde die ambulante Massnahme in der Schweiz nicht angetreten. Dennoch ist nach der Feststellung der Vorinstanz davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner "seit der erfolgreich durchgeführten Drogenentzugstherapie (in Frankreich) eine nachhaltige Persönlichkeitsveränderung erfahren (hat), die im heutigen Zeitpunkt eine günstige Prognose zulässt". Es stellt sich die Frage, was mit der aufgeschobenen Strafe zu geschehen hat, wenn die angeordnete ambulante Massnahme in der Schweiz gar nicht begonnen worden ist, das angestrebte Ziel der Drogenfreiheit auf andere Weise jedoch trotzdem erreicht wurde, in casu durch den freiwilligen Eintritt des Beschwerdegegners ![]() | 10 |
Im Entwurf der Expertenkommission von 1959 wurde bei den Massnahmen für geistig Abnorme bestimmt, dass der Richter den Vollzug der zugunsten einer ambulanten Behandlung aufgeschobenen Strafe anordnet, wenn sich der Verurteilte, bei dem eine Anstaltseinweisung nicht als notwendig erscheint, "böswillig" der ambulanten Massnahme entzieht (Art. 44bis Ziff. 3 Abs. 3 des Entwurfes, zitiert nach FRAUENFELDER, Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger als strafrechtliche Massnahme nach Art. 43 und 44 StGB, Diss. ZH 1978, S. 13). Der Entwurf des Bundesrates von 1965 und der heute geltende Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB sehen demgegenüber vor, der Entscheid über den Vollzug der Strafe nach einer als unzweckmässig aufgehobenen ambulanten Behandlung werde ganz ins richterliche Ermessen gestellt, unbekümmert darum, ob sich der Täter der Behandlung entzogen habe oder nicht (FRAUENFELDER, a.a.O., S. 14-18, insbesondere S. 15). Dasselbe gilt auch für Art. 44 StGB, der die Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen zum Gegenstand hat (REHBERG, ZStR 93/1977, S. 198 bei Fn. 76).
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Nach diesen Ausführungen kann bei der Beurteilung der oben aufgeworfenen Frage jedenfalls nicht allein darauf abgestellt werden, ob der Betroffene die Massnahme angetreten hat oder nicht. Es ergibt sich aus dem Gesetz nicht, nach welchen Kriterien der Richter die Frage zu entscheiden hat. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Hauptzweck der Massnahmen die Besserung des Täters und damit die Bekämpfung der Rückfallgefahr darstellt. Folgerichtig kann nach einer Entlassung aus der (durchgeführten) Massnahme denn auch vom Vollzug der Strafe abgesehen werden, wenn zu befürchten ist, dass der Strafvollzug den Erfolg der Massnahme erheblich gefährdet oder gar vereitelt (Art. 43 Ziff. 5 Abs. 1, 44 Ziff. 5 StGB).
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Dieser Aspekt kann auch dann nicht ausser acht gelassen werden, wenn die angeordnete ambulante Massnahme zwar nicht begonnen worden, die Heilung oder Suchtfreiheit jedoch gleichwohl eingetreten ist. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn der Betroffene - wie hier - sich einer (wenn auch nicht der vom ![]() | 13 |
Im Lichte dieser Überlegungen erscheint der Entscheid des Kantonsgerichts vom 18. März 1988 jedenfalls dann als zutreffend, wenn feststeht, dass der nachträgliche Vollzug der Freiheitsstrafe den Resozialisierungserfolg gefährdet. Die Frage, ob ein solcher Erfolg tatsächlich eingetreten ist und durch den Strafvollzug gefährdet werden könnte, ist in Fällen der vorliegenden Art jedoch zunächst (analog zu Art. 44 Ziff. 5 StGB) der zuständigen Behörde (oder einem Fachmann, wenn sich die zuständige Behörde mit dem Fall gar nicht befasst hat) zur Prüfung vorzulegen, bevor der Richter entscheidet.
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b) Das Obergericht ging davon aus, die stationäre Massnahme im "Le Patriarche" und das Fehlen des "Entlassungsbeschlusses" seien durch das Kantonsgericht "nachträglich akzeptiert" worden. Mag dies hinsichtlich der Massnahme noch angehen, so verletzt der nachträgliche Verzicht auf einen Entlassungsbeschluss sowohl Ziff. 3 als auch Ziff. 5 von Art. 44 StGB (s. oben E. 3a, ![]() | 15 |
c) Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist demnach gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Obergericht wird zu prüfen haben, ob vom Vollzug der seinerzeit aufgeschobenen Strafe abgesehen werden kann oder ob die Strafe nachträglich verbüsst werden muss. Sie wird dabei insbesondere einen Bericht darüber einzuholen haben, inwieweit beim Beschwerdegegner ein Resozialisierungserfolg eingetreten ist und ob dieser durch den nachträglichen Vollzug der Strafe aus dem Jahre 1984 in Frage gestellt würde.
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Zu prüfen ist, ob und inwieweit Art. 44 Ziff. 5 Satz 3 StGB auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, wonach die Dauer des Freiheitsentzuges durch den Vollzug der Massnahme in einer Anstalt auf die Dauer der bei ihrer Anordnung aufgeschobenen Strafe anzurechnen ist. Im Zusammenhang mit einer ambulanten Behandlung kommt diese Bestimmung nach ihrem Wortlaut grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn die Behandlung mindestens teilweise stationär erfolgt ist.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts können privat gewählte Anstaltsaufenthalte dann auf eine Strafe angerechnet werden, wenn die freiwillig durchgeführte Massnahme eine vom Richter anzuordnende Sanktion mit ausdrücklicher oder stillschweigender Zustimmung der Strafverfolgungsbehörden antizipiert hat; einen Anstaltsaufenthalt, den das Gericht nicht angeordnet hätte, braucht es auch bei der nachträglichen Beurteilung nicht zu berücksichtigen (BGE 105 IV 299 E. 2). Im zitierten bundesgerichtlichen Präjudiz wurde eine Freiheitsstrafe als durch den Aufenthalt in einer Trinkerheilanstalt getilgt erachtet, wobei dieser Aufenthalt im Anschluss an die gerichtlich angeordnete psychiatrische Begutachtung, aber noch vor Fällung des erstinstanzlichen Urteils stattgefunden hatte.
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Der heute zu beurteilende Fall ist in wesentlichen Punkten anders gelagert als das genannte Präjudiz des Bundesgerichtes. Zunächst erkannte das Kantonsgericht auf eine ambulante Behandlung, die in der Folge nicht begonnen wurde. Der Richter konnte sich zu jenem Zeitpunkt gar nicht mit dem Drogenentzug im "Le Patriarche" befassen, da dieser noch gar nicht zur Diskussion stand. Der Beschwerdegegner unterzog sich in der Folge dieser Therapie, ohne mit dem Richter oder den Vollzugsbehörden Kontakt aufzunehmen.
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Nun stellt das Obergericht aber für das Bundesgericht verbindlich fest, das Kantonsgericht habe die erfolgreich durchgeführte Massnahme "nachträglich akzeptiert". Es stellt sich die Frage, ob auch in einem solchen Fall analog zu BGE 105 IV 297 ff. der freiwillig absolvierte Aufenthalt in einer Heilanstalt auf die Strafe angerechnet werden darf. Gegen eine solche Lösung spricht nichts. Es wäre sachlich nicht gerechtfertigt und würde überdies dem ![]() | 22 |
Dass der Drogenentzug im Ausland stattgefunden hat, ändert nichts. Auch in solchen Fällen kann der erkennende Richter abklären, ob die Beschränkung der persönlichen Freiheit in der ausländischen Institution ungefähr dem Freiheitsentzug in einer schweizerischen Heil- und Pflegeanstalt gleichkommt. Diese Frage hat das Obergericht bejaht. Wie erwähnt, wird sich der neue Entscheid dazu noch näher auszusprechen haben.
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Diese Rechtsprechung ist auf berechtigte Kritik gestossen (SCHULTZ, Strafrecht AT II, 4. Aufl., S. 40; FRAUENFELDER, a.a.O., S. 168; Obergericht des Kantons Zürich in ZR 80/1981, Nr. 47, S. 146 ff.), und die Frage wurde beim trunk- und rauschgiftsüchtigen Täter durch kantonale Behörden denn auch anders entschieden (s. Obergericht des Kantons Bern in ZBJV 109/1973, S. 128; 82/1946 S. 266 f.). Die Frage, ob der nachträgliche Vollzug angeordnet werden muss, beurteilt sich in erster Linie darnach, inwieweit beim Betroffenen eine Besserung eingetreten ist und inwieweit diese Besserung durch den nachträglichen Vollzug in Frage gestellt würde. SCHULTZ bemerkt dazu richtig, dass der bedingte Strafvollzug ![]() | 25 |
Was die Beschwerdeführerin gegen die hier vertretene Auffassung vorbringt, überzeugt nicht. Der Variantenreichtum im Massnahmerecht ist von der Sache her begründet, da das Ziel der Resozialisierung individuell möglichst angepasste Lösungen verlangt. Auch hat es der Gesetzgeber in Fällen, in welchen sich eine Massnahme als angezeigt erweist, bewusst in Kauf genommen, dass bis zur endgültigen Erledigung geraume Zeit verstreichen kann. Was die Frage der Prognose betrifft, ist es durchaus sachgerecht, von der heutigen Situation auszugehen, denn die zwischenzeitlich durchgeführte Massnahme ist für die Frage der Zukunftsaussichten von erheblicher Bedeutung; dass dem Beschwerdegegner im Entscheid vom 24. Februar 1988 aus objektiven Gründen der bedingte Strafvollzug verweigert werden musste, ändert daran nichts; in diesem Urteil ging es um noch gar nicht beurteilte Straftaten, und nach der ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift von Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB war der bedingte Vollzug ausgeschlossen, da der Beschwerdegegner vorgängig mehr als drei Monate Untersuchungshaft erstanden hatte; dass hier ein Widerspruch zu liegen scheint, ist auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falles zurückzuführen, in welchem aussergewöhnlich spät über den nachträglichen Vollzug der seinerzeit zugunsten der ambulanten Behandlung aufgeschobenen Strafe zu entscheiden ist. In diesem Punkt erweist sich die von der Vorinstanz gefundene Lösung als vertretbar.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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