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41. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. Oktober 1989 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen A. (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 64 letzter Absatz StGB; Strafmilderung. |
Ob der Jugendliche allein wegen seines Alters nicht die volle Einsicht in das Unrecht seiner Tat besass, stellt eine Tatfrage dar, die der Richter nach pflichtgemässem Ermessen zu beantworten hat; dabei soll er die Annahme mangelnder Einsicht nicht leichthin verneinen (E. 3). | |
Sachverhalt | |
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Das Bezirksgericht Zofingen verurteilte A. am 25. Februar 1988 wegen fortgesetzter Unzucht mit einem Kinde zu 4 Monaten Gefängnis bedingt. Eine Berufung der Staatsanwaltschaft wies das Obergericht des Kantons Aargau am 13. April 1989 ab.
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache sei zur Ausfällung einer neuen Strafe an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 64 letzter Absatz StGB wird nicht klar, weshalb die fehlende volle Einsicht in das Unrecht der Tat neu in den Gesetzestext aufgenommen wurde. Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 bis 4 StGB in der Fassung vom 21. Dezember 1937 sah für die 18 bis 20 jährigen Täter vor, dass eine angedrohte lebenslängliche Zuchthausstrafe obligatorisch zu mildern und dass der Richter bei Freiheitsstrafen von bestimmter Mindestdauer nicht an diesen Strafsatz gebunden sei und bei ![]() ![]() | 6 |
Die Revision von 1971 brachte also für die 18 bis 20 jährigen nicht eine Bestätigung der bisherigen, sondern eine neue Regelung. Diese Alterskategorie wurde unter die jungen Erwachsenen eingereiht, welche unter gewissen Voraussetzungen in eine Arbeitserziehungsanstalt eingewiesen werden können (Art. 100bis StGB) und gegen die bei Fehlen dieser Voraussetzungen eine Freiheitsstrafe auszufällen ist. Für diesen letztgenannten Fall wurde die Möglichkeit vorgesehen, dass bei den 18 bis 20 jährigen Tätern, die noch nicht die volle Einsicht in das Unrecht der Tat besassen, eine Strafmilderung Platz greifen kann.
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In der Entstehungsgeschichte des Art. 64 letzter Absatz StGB finden sich somit Anhaltspunkte, wonach diese Bestimmung die Altersschranke und die verminderte Einsichtsfähigkeit kumulativ voraussetzt; es wird jedoch nicht ersichtlich, weshalb die alte Fassung geändert werden sollte.
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c) Die spärlich vorhandene Judikatur und Literatur zu dieser Frage bestätigen die grammatikalische Auslegung. In einem in der Semaine judiciaire 100/1978 (S. 260) publizierten Entscheid wurde "la condition d'âge" als die eine und "la condition d'immaturité" als "la seconde condition" für die Strafmilderung im Sinne von Art. 64 letzter Absatz StGB bezeichnet. Das Obergericht des Kantons Aargau verweigerte einem 19 1/2 jährigen Kantonsschüler die Strafmilderung mit der Begründung, es hätte von ihm erwartet werden dürfen und müssen, dass er sich über sein Tun und Lassen im Strassenverkehr Rechenschaft ablege; die Einsicht in das Unrecht der Tat wurde also ebenfalls (zumindest sinngemäss) als selbständiges Tatbestandselement behandelt (Aargauische Gerichts- und Verwaltungspraxis 1975 S. 115 f.).
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HANS SCHULTZ bemerkt, dass der Strafmilderungsgrund des heutigen Art. 64 letzter Absatz StGB früher in Art. 100 StGB "etwas weiter umschrieben" war (Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts II, 3. Aufl., S. 81), was mit andern Worten besagt, dass der Strafmilderungsgrund heute enger formuliert ist ![]() | 10 |
d) Da aufgrund der grammatikalischen Auslegung sowie der Rechtsprechung und Lehre das Alter des Täters und dessen fehlende volle Einsicht in das Unrecht seiner Tat als zwei selbständige Tatbestandselemente zu betrachten sind und auch die Entstehungsgeschichte nichts Gegenteiliges aufzeigt, vermag nur das Vorliegen beider Elemente die Strafmilderung nach Art. 64 letzter Absatz StGB zu rechtfertigen.
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e) Soweit die Vorinstanz aus den Ausführungen des Berichterstatters im Ständerat herauszulesen scheint, die Strafe könne wegen der Minderjährigkeit allein gemildert werden, ist ihr nicht zu folgen. Dieser hatte unter anderem vorgetragen, mit der vorgeschlagenen neuen Regelung könne die Strafe der 18 bis 20 jährigen "wie heute gemäss Art. 100 StGB gemildert werden" (Sten.Bull. 1967 SR S. 44). Die Wendung "wie heute" kann sich nicht auf die Milderung allein wegen des Alters beziehen, denn der Berichterstatter zitierte im übernächsten Satz den Gesetzeswortlaut, wonach der Richter die Strafe nur mildern kann, "wenn der Täter wegen Minderjährigkeit noch nicht die volle Einsicht in das Unrecht seiner Tat besitzt". Die Wendung "wie heute" bezog sich offenbar darauf, dass sowohl nach dem bisherigen Art. 100 StGB wie auch nach dem neu vorgeschlagenen (und heute geltenden) Art. 64 letzter Absatz StGB die Strafe nach Art. 65 StGB (nicht nach Art. 66 StGB) zu mildern ist (für die frühere Regelung vgl. dazu BGE 95 IV 63 unten).
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Der Richter darf demnach Art. 64 letzter Absatz StGB ohne Beizug eines Psychiaters anwenden, wenn er die gesetzlich umschriebenen Voraussetzungen als gegeben erachtet. Ob der Jugendliche allein wegen seines Alters nicht die volle Einsicht in das Unrecht seiner Tat besessen habe, muss der Richter im konkreten Fall nach pflichtgemässem Ermessen entscheiden, wobei er (angesichts der besondern Stellung der Übergangstäter) bei der Annahme der mangelnden Einsicht nicht allzu zurückhaltend, sondern eher etwas grosszügig sein sollte (ALEX BRINER, a.a.O., S. 152). Das Bundesgericht greift nach feststehender Rechtsprechung in solche Entscheide nur ein, wenn die Vorinstanz ihr Ermessen ![]() | 14 |
b) Die Vorinstanz stellte für den Kassationshof verbindlich fest (Art. 277bis Abs. 1 BStP), der Beschwerdegegner sei zu seinen Eltern in einem Beziehungs- und Ablösungskonflikt gestanden und habe sich in eine feste und ausschliessliche Beziehung mit Abhängigkeitscharakter geflüchtet; nach einiger Zeit habe er den sexuellen Versuchungen, die sich zwangsläufig aus einer so intensiven Freundschaft ergeben, nicht mehr widerstehen können; seine Verfehlungen liessen sich als adoleszenzbedingt erklären und seien Ausdruck einer typischen Konfliktsituation eines heranwachsenden Jugendlichen. Die erste Instanz hat diesbezüglich festgehalten, der Beschwerdegegner habe zur Zeit der Tat offensichtlich noch nicht die nötige Charakterstärke besessen, um der Versuchung zu widerstehen; es habe ihm am Verantwortungsbewusstsein und an der Willensstärke gefehlt, sich trotz der vorhandenen Einsicht in das Unrecht der Tat entsprechend zu verhalten. Daraus den Schluss zu ziehen, der Beschwerdegegner habe wegen seiner Jugendlichkeit (in einem adoleszenzbedingten Konflikt und infolge mangelnder charakterlicher Festigung) nicht die volle Einsicht in das Unrecht seiner Tat gehabt, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Jedenfalls kann der Vorinstanz nicht zur Last gelegt werden, sie habe wesentliche Umstände ausser acht gelassen oder auf Umstände abgestellt, die nicht hätten in Betracht gezogen werden dürfen. Die Beschwerdeführerin erhebt denn auch keine diesbezüglichen Rügen.
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c) Ob jemand die volle Einsicht in das Unrecht der Tat besitze, ist im übrigen eine Tatfrage, die im Rahmen der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nicht zur Diskussion gestellt werden darf. Die Beschwerdeführerin bringt im wesentlichen nur vor, der Beschwerdegegner habe gewusst, dass Geschlechtsverkehr mit Kindern unter 16 Jahren strafbar ist; er habe sich auf die Lehrabschlussprüfung vorbereitet, bei seinen Eltern (trotz häufiger Streitigkeiten) in geordneten Verhältnissen gelebt, sei sozial vollständig integriert gewesen und habe damit die volle Einsicht in das Unrecht seiner Tat besessen. Mit diesen Ausführungen zieht die Beschwerdeführerin jedoch hinsichtlich der Einsicht in das Unrecht der Tat andere Schlüsse aus den Akten als die Vorinstanz. Damit wendet sie sich in Wirklichkeit gegen die vorinstanzliche ![]() | 16 |
e) Muss aufgrund der Ausführungen des angefochtenen Urteils davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdegegner infolge seines jugendliche Alters die volle Einsicht in das Unrecht seiner Taten fehlte, dann durfte die Vorinstanz den Strafmilderungsgrund des Art. 64 letzter Absatz StGB anwenden, ohne dadurch Bundesrecht zu verletzen. Ihr Urteil hält also insofern und im Ergebnis vor dem Bundesrecht stand, so dass die Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen ist.
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