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40. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. Juli 1990 i.S. Z. gegen W. und Fondation W. (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 173 und 32 StGB; üble Nachrede durch eine Prozesspartei. |
2. Besonderheiten des Vermittlungsverfahrens (E. 4b). | |
Sachverhalt | |
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Die vorliegende eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten richtet sich gegen das Urteil des Kantonsgerichts mit den Anträgen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Beschwerdeführer von Schuld und Strafe freizusprechen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden
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Erwägungen: | |
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a) aa) Das Bundesgericht stellte in BGE 98 IV 90 fest, wer in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht Behauptungen vor Gericht aufstelle, welche jemanden in seiner Ehre verletzen, bleibe dafür grundsätzlich nur dann straflos, wenn diese Behauptungen nicht einen der Straftatbestände der Art. 173 ff. StGB erfüllten; im Prozess von einer Partei aufgestellte ehrverletzende Behauptungen genössen mit anderen Worten nur dann Straffreiheit, wenn sich die Partei im Sinne von Art. 173 Ziff. 2 StGB zu exkulpieren vermöge. Das Bundesgericht erachtete es somit als ausreichend, der besonderen Situation der Prozesspartei im Rahmen des Gutglaubensbeweises Rechnung zu tragen, da bei einer anderen Betrachtungsweise die Ehre des Betroffenen im Prozess ihres strafrechtlichen Schutzes beraubt würde.
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Diese Rechtsprechung ist auf Kritik gestossen. In der Literatur wird die Ansicht vertreten, der Anwalt und die Prozesspartei, die im Rahmen der ihnen obliegenden prozessualen Darlegungs- und Begründungspflicht Ausführungen machen, sollten sich auf die entsprechenden prozessualen Bestimmungen berufen dürfen (SCHULTZ, AT I S. 155; LIONEL FREI, Der Entlastungsbeweis bei übler Nachrede und Beschimpfung, Bern 1976, S. 89; VON BÜREN, SJZ 73/1977 S. 85 ff.; SCHUBARTH, Kommentar Art. 173 N 111; vgl. auch RIKLIN, ZStrR 100/1983 S. 54: Wahrnehmung berechtigter Interessen).
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bb) Zu prüfen ist, ob an der in BGE 98 IV 88 E. 3 dargelegten Auffassung festgehalten werden kann. Dabei ist davon auszugehen, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichtes in anderem Zusammenhang anerkennt, dass über den Entlastungsbeweis von Art. 173 Ziff. 2 StGB hinaus besondere ausserstrafrechtliche Rechte und Pflichten einen Rechtfertigungsgrund begründen können. So ist der Richter oder Beamte, der in den Erwägungen eines Urteils oder einer Verfügung ehrverletzende Äusserungen macht, durch seine Pflicht zur Entscheidungsbegründung gedeckt, soweit ![]() | 7 |
Im Lichte dieser Rechtsprechung ist nicht einzusehen, warum sich eine Prozesspartei zur Rechtfertigung einer objektiv ehrverletzenden Äusserung unter keinen Umständen auf Bestimmungen des jeweiligen Verfahrensrechtes (z.B. auf die ihr obliegende prozessuale Darlegungs- und Begründungspflicht) sollte berufen können. Aus der soeben zusammengefassten bundesgerichtlichen Rechtsprechung ergeben sich zunächst nur folgende generelle Schranken: Die Prozesspartei muss sich auf das für die Erläuterung ihres Standpunktes Notwendige beschränken; ihre Ausführungen müssen sachbezogen sein; Behauptungen dürfen nicht wider besseres Wissen aufgestellt und blosse Vermutungen müssen als solche bezeichnet werden. Innert dieser Grenzen können ehrverletzende Äusserungen im Rahmen einer prozessualen Auseinandersetzung prinzipiell durch Art. 32 StGB in Verbindung mit den Regeln des entsprechenden Verfahrensrechts gerechtfertigt sein. Wie weit die Straffreiheit im einzelnen geht, hängt neben den angeführten Schranken auch von der konkreten Ausgestaltung des Prozessrechts ab (s. dazu unten lit. b).
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Soweit BGE 109 IV 42 lit. f eine andere Auffassung vertritt, kann daran nicht festgehalten werden. Das Bundesgericht verwies in diesem Entscheid unter Berufung auf frühere Urteile auf die Teilrevision des StGB vom 5. Oktober 1950. Diese wurde (u.a.) nötig, weil das alte Recht als Entlastungsbeweis nur den Wahrheitsbeweis gekannt hatte. Seit der Revision kann der Beschuldigte sich der Strafe nun nicht mehr bloss durch den Wahrheitsbeweis entziehen, sondern auch durch den Gutglaubensbeweis (BGE 78 IV 33; vgl. Botschaft des Bundesrates in BBl 1949 I S. 1266-1270). Daraus schloss das Bundesgericht in mehreren Entscheiden (BGE 82 IV 10, BGE 80 IV 111, BGE 78 IV 33), die Wahrung berechtigter Interessen könne nun entgegen der älteren Rechtsprechung (z.B. BGE 71 ![]() | 9 |
cc) Nach dem Gesagten steht zunächst fest, dass die Annahme, die Wahrnehmung prozessualer Pflichten vermöge Ehrverletzungen grundsätzlich in keinem Fall zu rechtfertigen, ohne dass das entsprechende Verfahrensrecht geprüft werden müsste, gegen Art. 32 StGB verstösst.
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b) Im vorliegenden Fall geht es um Äusserungen in zwei Vermittlungsverfahren in Ehrverletzungssachen. Es stellt sich demnach die Frage nach der Ausgestaltung dieses Sühneverfahrens.
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aa) Diese Frage lässt sich nicht losgelöst von der Funktion des Sühneverfahrens beantworten, welche darin besteht, gegebenenfalls durch Vermittlung des Friedensrichters resp. Sühnebeamten den eigentlichen Hauptprozess zu vermeiden. Der Friedensrichter kann dieser Aufgabe nur nachkommen, wenn sich die Prozessparteien in der Sühneverhandlung möglichst frei über den Streitgegenstand aussprechen können. Dazu gehört aber offensichtlich gegebenenfalls auch, dass sie Äusserungen machen dürfen, die objektiv ehrverletzend sind, und zwar unter Umständen auch in bezug auf Drittpersonen. Dies muss jedenfalls insoweit gelten, als die Äusserungen in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Streitgegenstand und der Sühneverhandlung stehen, sie notwendig sind und nicht wider besseres Wissen erfolgen sowie Vermutungen als solche bezeichnet werden (s. oben E. 4a/bb).
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bb) Die einleitend genannte Funktion der Sühneverhandlung hat ihren Niederschlag im konkreten Gesetzesrecht gefunden. Art. 270 Abs. 1 des St. Gallischen Gesetzes über die Strafrechtspflege vom 9. August 1954, der unter anderem das Verfahren in Ehrverletzungssachen betrifft, spricht ausdrücklich vom "Versöhnungsversuch" vor dem Vermittler (s. auch § 309 Abs. 2 der Zürcher Strafprozessordnung: "Der Friedensrichter trachtet danach, die Parteien auszusöhnen"; vgl. überdies FRANK, Gedanken zum zürcherischen Ehrverletzungsprozess, SJZ 59/1963 S. 66). Es liegt auf der Hand, dass eine Aussöhnung nur in einer freien Gesprächsatmosphäre möglich ist. Um die nötige Offenheit der Parteien zu erreichen, bestimmt das St. Gallische Recht für das Sühneverfahren in Ehrverletzungssachen,
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- dass die Öffentlichkeit vor dem Vermittler ausgeschlossen ist (Art. 60 Gerichtsgesetz/SG);
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- dass die einzelnen Wortmeldungen der Parteien im Vermittlungsvorstand nicht protokolliert werden (Art. 272 StPO/SG e contrario; vgl. auch SCHNYDER, Der Friedensrichter im Schweizerischen Zivilprozessrecht, Diss. Zürich 1985 S. 161);
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- dass die bei den Verhandlungen vor Vermittleramt gemachten mündlichen Zugaben für das nachherige Prozessverfahren ausser Betracht fallen (Art. 203 ZPO/SG; vgl. hiezu GUBSER, Begründung und Ausbau des Vermittleramtes (Friedensrichteramtes) im Kanton St. Gallen, Diss. Zürich 1939 S. 133; VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechtes, 2. A. S. 237; WIELAND, Der Bündnerische Ehrverletzungsprozess, Diss. Freiburg, i.Ü. 1968 S. 49; zur Anwendbarkeit der Bestimmungen der ZPO/SG über das Sühneverfahren auf jenes in Ehrverletzungsprozessen OBERHOLZER, Grundzüge des St. Gallischen Strafprozessrechts, S. 270 und 276/77), und
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Schliesslich ist im Kanton St. Gallen auch ausdrücklich vorgesehen, dass der Vermittler von seinen sitzungspolizeilichen Befugnissen Gebrauch machen kann (vgl. Art. 68 und 69 Gerichtsgesetz/SG), falls sich die Parteien im Sühneverfahren allzu "temperamentvoll" gebärden sollten (SCHNYDER, a.a.O. S. 161/2).
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cc) Die Vorinstanz nahm ohne weiteres an, die Wahrnehmung prozessualer Rechte vermöge Ehrverletzungen grundsätzlich in keinem Fall zu rechtfertigen, ohne dass sie die Funktion und die gesetzliche Ausgestaltung des Vermittlungsverfahrens in Ehrverletzungsangelegenheiten geprüft hätte. Damit verkannte sie, dass ehrverletzende Äusserungen an einer Sühneverhandlung unter Umständen und innert der in E. 4a/bb abgesteckten Grenzen prinzipiell durch Art. 32 StGB in Verbindung mit den Regelungen des entsprechenden Verfahrensrechts gerechtfertigt sein können. Mit dieser Betrachtungsweise hat sie gegen Art. 32 StGB verstossen. Wie oben bereits festgestellt, hängt es von der konkreten Ausgestaltung des kantonalen Prozessrechts ab, wie weit die Straffreiheit im einzelnen geht. Die Vorinstanz wird diese Frage über die vorliegend im Sinne genereller Hinweise gemachten Erwägungen hinaus zu prüfen haben. Ihr Leitgedanke wird dabei sein müssen, dass das Sühneverfahren eine Aussöhnung der Parteien herbeiführen soll und dass die sitzungspolizeilichen Befugnisse des Vermittlers für den Schutz der Ehre des Betroffenen in der Regel jedenfalls dann ausreichen, wenn sich die Partei bei ihren Äusserungen an die oben in E. 4a/bb erwähnten Grenzen hält. In diesem Punkt ist die Nichtigkeitsbeschwerde gutzuheissen.
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