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69. Urteil des Kassationshofes vom 25. Oktober 1991 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen D. (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 69 StGB; Anrechnung der Untersuchungshaft. | |
Sachverhalt | |
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B.- Am 4. Februar 1991 verurteilte ihn das Obergericht des Kantons Zürich wegen bandenmässigen Raubes, banden- und gewerbsmässigen Diebstahls sowie weiterer Straftaten zu fünf Jahren und sechs Monaten Zuchthaus. Auf diese Strafe rechnete es sowohl die Untersuchungs- und Sicherheits- als auch die Auslieferungshaft, insgesamt 686 Tage, an.
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C.- Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Neuentscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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D.- D. beantragt Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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a) Gemäss Art. 69 StGB rechnet der Richter dem Verurteilten die Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe an, soweit der Täter die Untersuchungshaft nicht durch sein Verhalten nach der Tat herbeigeführt oder verlängert hat. Als Untersuchungshaft gilt jede in einem Strafverfahren verhängte Haft, Untersuchungs- und Sicherheitshaft (Art. 110 Ziff. 7 StGB).
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Nach Art. 14 des Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. März 1981 (IRSG; SR 351.1) gilt Art. 69 StGB auch für die Anrechnung der im Ausland erstandenen Untersuchungshaft oder der Haft, die durch ein Verfahren nach dem IRSG im Ausland veranlasst wurde.
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Ob die Vorinstanz dem Beschwerdegegner die Auslieferungshaft zu Unrecht auf die Zuchthausstrafe angerechnet hat, ist somit gemäss Art. 69 StGB zu beurteilen.
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b) Art. 69 StGB sieht im Grundsatz die Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe vor. Nach dem Gesetzeswortlaut unterbleibt die Anrechnung, soweit der Täter die Untersuchungshaft durch sein Verhalten nach der Tat herbeigeführt oder verlängert hat.
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aa) Das Bundesgericht vertrat zunächst die Ansicht, für die Ablehnung der Anrechnung genüge es, dass das Verhalten des ![]() | 10 |
bb) In BGE 102 IV 153 ff. änderte das Bundesgericht seine Rechtsprechung. Es führte aus, der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Täters nach der Tat und der Anordnung bzw. Verlängerung der Untersuchungshaft sei eine wichtige und begrenzende Voraussetzung für den Ausschluss der Anrechnung; es müsse jedoch mehr verlangt werden; dem Verurteilten müsse sein Verhalten nach der Tat gemäss rechtsstaatlichen Grundsätzen objektiv vorwerfbar sein; er müsse es auch verschuldet haben; unter Verschulden sei ein subjektiv vorwerfbarer Verstoss gegen Pflichten und Beschränkungen zu verstehen, die sich für den Beschuldigten aus dem Strafverfahrensrecht ergeben (E. 1d). Ausgehend davon befand das Bundesgericht in BGE 103 IV 8 ff., der Ausschluss der Anrechnung lasse sich nicht begründen mit dem Schweigen des Beschuldigten, der Verweigerung der Aussage oder dem blossen Leugnen der Tat; denn der Beschuldigte sei nicht verpflichtet, Straftaten zu offenbaren, zu denen er nicht befragt worden sei, und er sei nicht gehalten, die Untersuchung zu seinem Nachteil zu fördern oder zu erleichtern; die Anrechnung der Untersuchungshaft habe demgegenüber zu unterbleiben, wenn der Beschuldigte die Behörden durch unwahre Behauptungen und Einwendungen zu weiteren Untersuchungshandlungen nötige, die das Verfahren über die Dauer hinaus verlängerten, die es sonst beansprucht hätte; dasselbe gelte, wenn ein Beschuldigter seine Verteidigungsrechte offensichtlich dazu missbrauche, einen sachfremden Zweck zu erreichen (E. 3; vgl. auch BGE 105 IV 239 ff.).
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c) Eine noch engere Begrenzung der Verweigerung der Anrechnung der Untersuchungshaft fordert das Schrifttum. Es ist überwiegend der Auffassung, von der Anrechnung sei einzig abzusehen, wenn der Täter durch sein Verhalten nach der Tat absichtlich zur Untersuchungshaft Anlass gegeben habe, um dem Strafvollzug zu entgehen (DUBS, ZStR 76/1960, S. 191 ff.; HEIM, JdT 1964 IV, S. 40 ff.; JdT 1965 IV, S. 37; SCHULTZ, ZBJV 102/1966, S. 345 ff.; ZBJV 106/1970, S. 344; TRECHSEL, ![]() | 12 |
d) De lege ferenda schlägt SCHULTZ entsprechend der Regelung im österreichischen Recht die ausnahmslose Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe vor (Bericht und Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen Teils und des Dritten Buches "Einführung und Anwendung des Gesetzes" des Schweizerischen Strafgesetzbuches, Bern 1987, S. 130 ff.).
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b) Die bisherige Rechtsprechung, nach der die Untersuchungshaft generell nicht anzurechnen ist, soweit sie der Verurteilte durch einen schuldhaften Verstoss gegen Pflichten und Beschränkungen aus dem Strafverfahrensrecht verursacht hat, erweist sich unter diesem Gesichtswinkel als zu weit. Sie verkennt zudem den Sinn und Zweck des Art. 69 StGB. Die darin enthaltene Regelung über die Ablehnung der Anrechnung zielt nicht darauf ab, die Einhaltung strafverfahrensrechtlicher Pflichten durch den Beschuldigten zu sichern. Sie soll, wie das Bundesgericht in BGE 73 IV 94 /5 dargelegt hat, vielmehr verhindern, dass der Beschuldigte absichtlich zur Haft Anlass gebe, um dem als grösseres Übel empfundenen Strafvollzug zu entgehen. Der Ausschluss der Anrechnung nach Art. 69 StGB ist mit anderen Worten zugeschnitten auf Fälle des Missbrauchs. Er soll denjenigen treffen, der die Untersuchungshaft zwecks Verkürzung bzw. Vermeidung des Strafvollzugs herbeiführt oder verlängert, weil er die Untersuchungshaft dem Strafvollzug vorzieht.
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d) Durch diese Begrenzung des Anrechnungsausschlusses lässt sich auch vermeiden, dass der Verurteilte auf dem Umweg über Art. 69 StGB für die Verletzung einer strafverfahrensrechtlichen Pflicht gemassregelt wird, die keinen Straftatbestand erfüllt. Straflos ist namentlich die Flucht aus der Untersuchungshaft. Hätte sie als schuldhafter Verstoss gegen die Anwesenheitspflicht des Beschuldigten stets die Versagung der Anrechnung, die sich aus der Sicht des Betroffenen wie eine Strafe auswirkt, zur Folge, liefe das im Ergebnis auf eine Verletzung des Art. 1 StGB hinaus. Danach ist strafbar nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht.
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e) Die Vorinstanz begründet die Anrechnung der vom Beschwerdegegner in Frankreich erstandenen Auslieferungshaft allein unter Hinweis auf ihre ständige Praxis. Mit welcher Absicht der Beschwerdegegner geflohen ist, sagt sie nicht. Die richtige Anwendung des Bundesrechts kann damit nicht überprüft werden. Der angefochtene Entscheid ist deshalb gemäss Art. 277 BStP aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird sich dazu zu äussern haben, ob der Beschwerdegegner mit der Flucht bezweckte, die strafverfahrensrechtliche Haft zu Lasten des Strafvollzugs zu verlängern.
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