![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
40. Urteil des Kassationshofes vom 3. September 1993 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen M. H. (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 183 Ziff. 2 und Art. 184 Abs. 4 StGB; qualifizierte Entführung. |
Eine Entführung ist beendet, wenn das Opfer seine Freiheit wieder erlangt hat, d.h. frühestens wenn das Herrschaftsverhältnis Täter-Opfer beendet ist (E. 2f). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
So befand sich das Kind bis zum 5. Dezember 1990 bei seinem Vater M. H., der es anschliessend der Mutter zurückbrachte. Kurz ![]() | 2 |
Am 13. Dezember 1990 reiste M. H. jedoch mit dem Kinde nach Paris zu einer Tante und am 9. Januar 1991 nach Algerien. Seit diesem 13. Dezember 1990 hat S. H. keinen Kontakt mehr mit ihrem Sohn.
| 3 |
b) S. H. erhob am 8. Februar 1991 Strafanzeige, worauf M. H. am 13. Februar 1991 in Bern verhaftet wurde.
| 4 |
Am 19. Februar 1991 verfügte der die Ehescheidung instruierende Richter, das Kind werde während der Dauer des Scheidungsverfahrens unter die Obhut der Mutter gestellt. Dem Vater werde unter Androhung der Straffolgen gemäss kantonaler ZPO (Busse bis zu Fr. 5'000.--, womit Haft oder in schweren Fällen Gefängnis bis zu einem Jahr verbunden werden könne) eine Frist von zehn Tagen angesetzt, der Ehefrau das Kind zu übergeben bzw. dessen Aufenthaltsort bekanntzugeben. Diese Verfügung erwuchs in Rechtskraft.
| 5 |
S. H. verlangte am 12. März 1991 die Verurteilung von M. H. wegen böswilliger Nichtvornahme der ihm mit der Verfügung vom 19. Februar 1991 auferlegten Pflichten.
| 6 |
Das Zivilamtsgericht Bern übertrug am 19. Dezember 1991 S. H. die elterliche Gewalt. Gegen das Urteil wurde die Appellation erhoben.
| 7 |
B.- Am 24. Dezember 1991 erklärte das Strafamtsgericht Bern M. H. schuldig der qualifizierten Entführung und des Entziehens von Unmündigen, jeweils im Zeitraum vom 13. Dezember 1990 bis zum 24. Dezember 1991 in Bern und anderswo, sowie der Widerhandlung gegen die Verfügung vom 19. Februar 1991, begangen vom 1. März bis 24. Dezember 1991 in Bern und anderswo. Es bestrafte ihn mit drei Jahren Zuchthaus.
| 8 |
Auf Appellation des Verurteilten erkannte das Obergericht auf einfache Entführung und bestätigte im übrigen den Schuldspruch des Strafamtsgerichtes. Es sprach eine Strafe von sechsundzwanzig Monaten Gefängnis aus.
| 9 |
C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung (Schuldigerklärung wegen qualifizierter Entführung und entsprechende Strafzumessung) an das Obergericht zurückzuweisen.
| 10 |
![]() | |
11 | |
b) Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz verkenne den Zusammenhang der Art. 183 und 184 StGB. Die Verbindung von Feiheitsberaubung und Entführung im Tatbestand des Art. 183 StGB lasse diese zu verschiedenen Begehungsweisen einer Straftat werden. Freiheitsberaubung und Entführung erschienen prinzipiell gleichwertig. Daher sei die Lehre einhellig der Meinung, die Entführung falle unter den Strafrahmen des Art. 184 StGB, sofern sie mehr als zehn Tage gedauert habe. Es finde sich kein Hinweis, dass die Entführung nur dann wegen der Dauer qualifiziert sein könne, wenn sie gleichzeitig eine Freiheitsberaubung darstelle. Eine Entführung wie die vorliegende könne eine Beziehung zwischen Mutter und Sohn während Jahren verunmöglichen. Ob der Sohn die abgebrochene Beziehung je wieder anknüpfen könne, sei fraglich. Das sei eine massive Beeinträchtigung der Freiheitsrechte anderer. Die Vorinstanz habe Art. 184 StGB zu Unrecht nicht angewandt und sei bei der Strafzumessung von falschen Voraussetzungen ausgegangen.
| 12 |
c) Der Beschwerdegegner wendet ein, Entführung sei kein Dauerdelikt. Denn die Entführung selbst könne nicht andauern, sondern bloss die damit verbundene Freiheitsberaubung. Daher wirke allenfalls die Dauer der Freiheitsberaubung qualifizierend, nicht aber die Dauer des Entführungsvorganges.
| 13 |
![]() | 14 |
Gemäss Art. 184 Abs. 4 StGB werden Freiheitsberaubung und Entführung mit Zuchthaus von 1-20 Jahren bestraft, wenn der Entzug der Freiheit mehr als zehn Tage gedauert hat.
| 15 |
b) Das Bundesgericht liess in BGE 118 IV 61 E. 2c offen, ob Art. 184 Abs. 4 StGB auch für die Entführung gilt. Es bezeichnete dies aber als fraglich. Denn bei einer Entführung brauche weder eine Nötigung noch eine Freiheitsberaubung vorzuliegen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ("Entzug der Freiheit") sei wohl nur die eigentliche Freiheitsberaubung (Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) qualifiziert, wenn sie länger als zehn Tage gedauert habe. Es könne offenbleiben, ob ein Dauerdelikt vorliege, wenn eigentliche Tathandlung der Entführung das Verbringen an einen anderen Ort sei (vgl. auch BGE 106 IV 363 E. 5).
| 16 |
c) Die Lehre vertritt die Ansicht, für die Entführung gelte der Strafrahmen von Art. 184 StGB, wenn sie mehr als zehn Tage gedauert habe (HANS-PETER EGLI, Freiheitsberaubung, Entführung und Geiselnahme nach der StGB-Revision vom 9. Oktober 1981, Diss. Zürich 1986, S. 143; NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 78, 80; REHBERG, Strafrecht III, 5. Auflage, S. 233 f.; SCHUBARTH, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Art. 184 N 1, 12 ff.; SCHULTZ, Gewaltdelikte, Geiselnahmen und Revision des Strafgesetzbuches, ZBJV 115/1979 S. 445; JEAN-MARC SCHWENTER, De quelques problèmes, réels ou imaginaires, posés par les nouvelles dispositions réprimant les actes de violence, ZStR 100/1983 S. 289; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 4. Auflage, S. 119 N 46; TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Art. 184 N 3).
| 17 |
d) Anlass zur Revision der Art. 182-185 StGB bildeten die schweren Mängel dieser Bestimmungen (SCHULTZ, a.a.O., ZBJV 115/1979 S. 444 f.; SCHULTZ, Zur Revision des Strafgesetzbuches vom 9. Oktober 1981: Gewaltverbrechen, ZStR 101/1984 S. 122; EGLI, a.a.O., S. 5 f.). Die Expertenkommission schlug vor, die Strafandrohung für Freiheitsberaubung und Entführung zu erhöhen sowie für beide ![]() | 18 |
Der Nationalrat stimmte dem Entwurf des Bundesrates auf Antrag seiner Kommission und ohne Diskussion zu (Amtl.Bull. 1980 N 1647). Im Ständerat erhielt der Gesetzestext den heutigen Wortlaut; er fasste die Art. 182 und 183 StGB zusammen, um Abgrenzungsschwierigkeiten und Konkurrenzfragen zu vermeiden. Der Berichterstatter fügte an, mit der Zusammenfassung der beiden Tatbestände Freiheitsberaubung und Entführung in einen einzigen Tatbestand werde materiell keine Änderung gegenüber den Vorschlägen des Bundesrates und des Nationalrates vorgenommen (BINDER, Amtl.Bull. 1981 S 280; vgl. SCHUBARTH, a.a.O., Art. 183 N 3; EGLI, a.a.O., S. 13). Auf Antrag seiner Kommission beschloss der Ständerat, Art. 184 StGB so zu formulieren, wie er Gesetz geworden ist (statt: "wenn die Beschränkung der Freiheit ...", "wenn der Entzug der Freiheit ..."). Der Nationalrat stimmte dem diskussionslos zu.
| 19 |
e) Zusammenfassend stützen die Materialien die Ansicht, die Qualifizierung gemäss Art. 184 Abs. 4 StGB gelte auch für die Entführung. Diese Lösung überzeugt. Die Zusammenfassung von Freiheitsberaubung und Entführung in einen Tatbestand soll die oft schwierige Abgrenzung sowie Konkurrenzfragen vermeiden. Art. 183 StGB bedroht das unrechtmässige Verbringen einer Person an einen anderen Ort und das unrechtmässige Festhalten des Opfers an einem Ort mit derselben Strafe. Die beiden Delikte erscheinen als verschiedene Begehungsweisen einer Straftat (SCHULTZ, a.a.O., ZStR 101/1984 S. 123; REHBERG, a.a.O., S. 232). Freiheitsberaubung und Entführung sind prinzipiell gleichwertige Eingriffe in die Freiheit (STRATENWERTH, S. 119 N 43). Daher sind Abgrenzungsfragen ![]() | 20 |
f) Zu prüfen bleibt der Einwand, die Entführung sei kein Dauerdelikt. Wie dargestellt, geht das Gesetz davon aus, dass die Dauer des Freiheitsentzuges bei der Entführung wie bei der Freiheitsberaubung wesentlich sein kann (Art. 183 i.V.m. Art. 184 Abs. 4 StGB). Dauerdelikte sind dadurch gekennzeichnet, dass die zeitliche Fortdauer eines rechtswidrigen Zustandes oder Verhaltens noch tatbeständliches Unrecht bildet. Die Vollendung tritt mit der erstmaligen Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale ein, die Beendigung aber erst mit der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes oder dem Abbruch des verbotenen Verhaltens (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, S. 275 N 10; REHBERG, Strafrecht I, 5. Auflage, S. 61). Die Entführung ist vollendet, wenn der bisherige Aufenthaltsort verlassen und das Opfer in die Herrschaft des Täters gelangt ist. Dieser rechtswidrige Zustand dauert in der Regel an. Beendet ist das Delikt dann, wenn das Opfer seine Freiheit wieder erlangt hat, d.h. frühestens wenn das Herrschaftsverhältnis Täter-Opfer beendet ist. Die Entführung ist demnach in solchen Fällen ein Dauerdelikt (EGLI, a.a.O., S. 124 ff.; REHBERG, a.a.O., S. 232; SCHUBARTH, a.a.O., Art. 183 N 50; vgl. LACKNER, StGB, 20. Auflage, N 11 vor § 52 und § 239 N 8; a.A. - allerdings zum alten Recht - HAFTER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 104).
| 21 |
g) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ist die Entführung des Kindes nicht beendet. Sie hat mehr als zehn Tage gedauert. Damit ist sie im Sinne des Art. 184 Abs. 4 StGB qualifiziert.
| 22 |
23 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |