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49. Urteil des Kassationshofes vom 27. Mai 1993 i.S. B. gegen Polizeirichteramt des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 57 Abs. 5 lit. b SVG, Art. 3b Abs. 3 VRV; Art. 49 BV und Art. 9 EMRK; Helmtragpflicht eines Motorfahrradfahrers; Glaubens- und Gewissensfreiheit. |
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Sikhs wird durch die Pflicht, einen Schutzhelm zu tragen, nicht beeinträchtigt (E. 3). | |
Sachverhalt | |
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Eine allein gegen die Bestrafung wegen Nichttragens des Schutzhelms eingereichte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde von B. wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 21. Oktober 1992 ab, soweit es darauf eintrat.
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Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtete auf Gegenbemerkungen. Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich trägt auf Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde an und verweist zur Begründung auf die Urteile des Einzelrichters und des Obergerichts.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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b) Die Rüge, Art. 3b Abs. 3 VRV sei nicht verfassungs- und EMRK-konform ausgelegt worden, betrachtete die Vorinstanz als unbegründet. Sie führte aus, zu einer verfassungskonformen Auslegung von Art. 3b Abs. 3 VRV bestehe schon deshalb kein Anlass, weil die Vorschrift völlig klar sei. Sie habe eine klare gesetzliche Grundlage in Art. 57 Abs. 5 lit. b SVG, welche Bestimmung gemäss Art. 113 Abs. 3 BV nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden könne. Im übrigen entbänden die Glaubensansichten gemäss Art. 49 Abs. 5 BV nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten. Art. 3b Abs. 3 VRV halte sich sodann klar an die delegierte Kompetenz. Die Bestimmung verstosse auch nicht gegen Art. 9 EMRK. Die Europäische Menschenrechtskommission habe im Fall eines in ![]() | 6 |
c) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe Art. 3b Abs. 3 VRV nicht verfassungs- und EMRK-konform ausgelegt. Seine Religion verbiete ihm, das Haupt in der Öffentlichkeit entblösst zu zeigen. Aus diesem Grund bedeute für Sihks jede Handlung, die sie zum Entblössen des Hauptes zwinge, eine klare Diskriminierung. Es sei nicht möglich, über dem Turban einen Helm zu tragen. Das Helmtragobligatorium diene in erster Linie dem Selbstschutz. Ein öffentliches Interesse für einen Vorrang der Helmtragpflicht vor der Ausübung der Religionsfreiheit sei nicht ersichtlich. Im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes in das verfassungsmässige Recht sei der Entscheid der Vorinstanz aber auch nicht mehr verhältnismässig.
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Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene eingeräumt, so ist dieser Spielraum nach Art. 113 Abs. 3 BV für das Bundesgericht verbindlich; es darf in diesem Falle bei der Überprüfung der Verordnung nicht sein eigenes Ermessen an die ![]() | 9 |
In diesem Rahmen ist die Gesetzes- und Verfassungsmässigkeit bzw. EMRK-Konformität von Art. 3b Abs. 3 VRV zu überprüfen. Entgegen ihrer geäusserten Auffassung wäre auch die Vorinstanz dazu berechtigt und verpflichtet gewesen (vgl. AUER, a.a.O., S. 19/20 und 111/112).
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b) aa) Gemäss Art. 49 Abs. 1 BV ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit unverletzlich. Die Religionsfreiheit gewährleistet das Recht, eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu haben, sowie diese, innerhalb gewisser Schranken, zu äussern, zu verbreiten und zu praktizieren (BGE 118 Ia 46 E. 4c). Unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen Weltanschauungen, soweit sie Ausdruck des Religiösen oder Transzendenten sind und eine Gesamtschau der Welt und des Lebens zum Gegenstand haben (ULRICH HAEFELIN, BV-Kommentar, N 46 zu Art. 49). Als Formen religiöser Betätigung sind Verhaltensweisen geschützt, die als unmittelbarer Ausdruck religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen erscheinen (PETER KARLEN, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, Diss. Zürich 1988, S. 214). Dazu gehört auch das Tragen besonderer religiöser Kleidung (KARLEN, a.a.O., S. 233).
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Art. 9 Ziff. 1 EMRK verleiht jedermann Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, insbesondere die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit andern, öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. Nach Ziff. 2 derselben Bestimmung darf die Religions- und Bekenntnisfreiheit nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Massnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind (Ziff. 2).
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bb) Die kantonalen Instanzen haben in tatsächlicher Hinsicht für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (Art. 277bis BStP), dass die Religion der Sikhs, zu deren Glaubensbrüdern der Beschwerdeführer gehört, ihren Angehörigen verbiete, ihr Haupt in der Öffentlichkeit entblösst zu zeigen. Dieses Verbot, dessen Wichtigkeit für die Sikhs der erstinstanzliche Richter zu Recht nicht angezweifelt hat, geniesst als Ausdruck religiöser Wertvorstellungen ebenso wie religiöse Kleidervorschriften grundsätzlich den Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit (siehe oben E. 3b/aa).
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Die Vorinstanzen stellten dazu für das Bundesgericht weiter verbindlich fest, die Religion der Sihks schreibe diesen nicht ausdrücklich vor, dass sie einen Turban tragen müssten. Daraus ergibt sich, dass das Tragen eines Helms den religiösen Vorschriften der Sihks nicht zuwiderläuft. Dies wird auch vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt. Es lässt sich daher entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht sagen, er werde durch die in Art. 3b Abs. 3 VRV festgelegte Pflicht, einen Schutzhelm zu tragen, zum Entblössen seines Hauptes in der Öffentlichkeit gezwungen. Es ist ihm möglich, beim Benützen eines Motorfahrrades den Turban jeweils in privaten Räumlichkeiten gegen den Schutzhelm zu vertauschen, oder auch an anderen Orten, wo er nicht sein entblösstes Haupt der Öffentlichkeit zeigen muss. Dass er in einer Weise auf ein Motorfahrrad als Fortbewegungsmittel angewiesen sei, dass ihm dies unzumutbare Umtriebe verursache, macht er nicht geltend und ist auch nicht ersichtlich. Es mag zutreffen, dass es im innerstädtischen Verkehr ![]() | 16 |
Ob ein Eingriff in das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit infolge eines überwiegenden öffentlichen Interesses am Helmtragobligatorium, das der Verhütung schwerer Unfälle und der daraus resultierenden hohen, auch die Allgemeinheit belastenden Kosten dient, nicht jedenfalls auch verhältnismässig wäre, braucht unter diesen Umständen nicht geprüft zu werden. Immerhin kann darauf verwiesen werden, dass die Europäische Kommission für Menschenrechte in einem Entscheid vom 12. Juli 1978 erkannte, die Helmtragpflicht für Motorradfahrer sei eine im Interesse der öffentlichen Sicherheit notwendige Massnahme, die gemäss Art. 9 Abs. 2 EMRK einen Eingriff in die Religionsfreiheit rechtfertige; daran ändere nichts, dass der betroffene Staat inzwischen eine Ausnahme von dieser Verkehrsvorschrift zulasse (X. c/ROYAUME-UNI, DR 14, 234 f.).
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