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1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Februar 1994 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen W. (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB; Aufschub des Strafvollzugs zwecks ambulanter Behandlung. | |
Sachverhalt | |
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Das Bezirksgericht St. Gallen verurteilte am 11. April 1991 W. wegen versuchter qualifizierter Notzucht nach Art. 187 Abs. 2 aStGB sowie Widerhandlung gegen die Waffenverordnung zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus und zur Bezahlung von Fr. 10'000.-- Genugtuung. Es verpflichtete ihn, die ambulante psychiatrische Behandlung fortzusetzen, solange die Ärztin dies für nötig erachtet. Den Vollzug der Strafe schob es nicht auf. Auf Berufung von W. verurteilte ihn das Kantonsgericht St. Gallen am 25. Mai 1993 wegen versuchter qualifizierter Vergewaltigung gemäss Art. 190 Abs. 3 StGB zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und sprach ihn von der Widerhandlung gegen die Waffenverordnung frei. Es ordnete eine ambulante psychiatrische Behandlung an und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe auf. Hinsichtlich der Zivilklage (Genugtuungsforderung) einigte sich die Straf- und Zivilklägerin mit W. Das Kantonsgericht bestätigte das bezirksgerichtliche Erkenntnis.
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen erhebt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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a) Erfordert der Geisteszustand des Täters ärztliche Behandlung oder besondere Pflege und ist anzunehmen, dadurch lasse sich die Gefahr weiterer mit Strafe bedrohter Taten verhindern oder vermindern, so kann der Richter gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB eine ambulante Behandlung anordnen, sofern der Täter für Dritte nicht gefährlich ist. Er kann den Vollzug der Strafe aufschieben, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen (Ziff. 2 Abs. 2).
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b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sollte dort, wo ein Erfolg wahrscheinlich ist, tendenziell eine ärztliche Behandlung eingreifen. Der Strafaufschub ist angezeigt, wenn eine tatsächliche Aussicht auf erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde. Doch ist eine Beeinträchtigung nicht erst erheblich, wenn der Vollzug eine Behandlung verunmöglicht oder den Behandlungserfolg völlig in Frage stellt. Vielmehr geht die Therapie vor, sobald eine sofortige Behandlung gute Resozialisierungschancen bietet, welche der Vollzug der Freiheitsstrafe klarerweise verhindern oder vermindern würde. Diesfalls ist der Vollzug mit der Behandlung nicht vereinbar ("n'est pas compatible avec le traitement", gemäss französischem Gesetzeswortlaut; BGE 116 IV 101 E. 1a, BGE 115 IV 87 E. 1a und b). Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgebots muss die Abnormität desto ausgeprägter sein und mithin ein Aufschub umso zurückhaltender gehandhabt werden, je länger die zugunsten der ambulanten Behandlung aufzuschiebende Freiheitsstrafe ist (vgl. BGE 118 IV 351 E. 2e, BGE 107 IV 20 E. 5b). Ausserdem darf die ambulante Behandlung nicht missbraucht werden, um etwa den Vollzug der Strafe zu umgehen oder ihn auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben. Der Aufschub muss sich aus Gründen der Heilbehandlung hinreichend rechtfertigen (BGE 107 IV 20 E. 4c, BGE 105 IV 87 E. 2b).
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c) Der Richter beurteilt im Rahmen des Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB den Einzelfall unter Berücksichtigung der erwähnten Grundsätze und aller ![]() | 8 |
d) Die Vorinstanz weist vorab auf den schwer gestörten Geisteszustand des Täters im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB hin. Nach den Gutachten schäle sich beim Täter als Kernsymptomatik ein psychopathologisches Syndrom heraus, das nicht nur als schizoide, sondern bereits als krankhafte, präschizophrene Persönlichkeit umschrieben werden müsse. Nach Würdigung der verschiedenen Gutachten kommt die Vorinstanz zum Schluss, die medizinische Behandlungsnotwendigkeit und die Erfolgsaussichten der Behandlung seien ausgewiesen, ein Strafvollzug jedoch mit dieser Behandlung unvereinbar. Sie wägt die Aspekte der Spezialprävention gegen jene der Generalprävention ab und schliesst, dass den beiden Bedürfnissen nicht in gleicher Weise Rechnung getragen werden könne. Bei dieser Sachlage bewertet sie die begründete Aussicht, dass durch die Behandlung des (mit Jahrgang 1968 noch jungen) Täters weiteren Gewaltausbrüchen und entsprechend schwerwiegenden Delikten wirksam vorgebeugt werden könne, höher als das Interesse an der Vollstreckung der Freiheitsstrafe. Die zweieinhalbjährige Strafe sei zwar nicht kurz, aber auch nicht derart lang, dass generalpräventive Gesichtspunkte einen Strafaufschub ausschliessen müssten.
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e) Damit beurteilt die Vorinstanz die Sache nach den massgeblichen Kriterien. Sie gewichtet die verschiedenen Gesichtspunkte sorgfältig und berücksichtigt auch das Erfordernis der Verbrechensverhütung. Schliesslich hat sie beim Entscheid, die Freiheitsstrafe zugunsten der ambulanten Massnahme aufzuschieben, ihr (weites) Ermessen nicht überschritten. Das angefochtene Urteil verletzt demnach kein Bundesrecht.
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