BGE 121 IV 224 | |||
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36. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 29. Juni 1995 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau | |
Regeste |
Art. 350 und 351 StGB, Art. 263 BStP; Festsetzung des Gerichtsstandes bei Massenprozessen. |
Aus triftigen Gründen kann ausnahmsweise vom gesetzlichen Gerichtsstand abgewichen werden. Ist zu befürchten, dass es angesichts einer grossen Zahl von Angeschuldigten zu unerwünschten Massenprozessen kommen könnte, rechtfertigt es sich, vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen und die Verfahren nach dem Wohnsitz der Angeschuldigten zu trennen (E. 3). | |
Sachverhalt | |
A.- Unter dem Namen European Kings Club (im folgenden EKC) besteht gemäss Statuten vom 27. Juli 1992 ein Verein im Sinn von Art. 60 ff. ZGB mit Sitz in Basel. Er bezweckt, "seinen Mitgliedern soziale, ökologische, finanzielle und wirtschaftliche Zusammenhänge aufzuzeigen, um die Mechanismen der Umverteilung der sozialen und freien Marktwirtschaft praxisnah näher zu bringen. Der EKC ist weltanschaulich und parteipolitisch neutral. Er ist selbstlos und ohne eigenwirtschaftliche Zwecke tätig" (Art. 2 der Statuten). Gemäss Art. 13 der Statuten bestehen die finanziellen Mittel des EKC aus den ordentlichen Mitgliederbeiträgen von Fr. 100.--, den Aufnahmegebühren von Fr. 1'200.--, den Verwaltungsgebühren von Fr. 200.-- sowie aus freiwilligen Beiträgen. Als Beitragsbestätigung erhält jedes Mitglied einen sogenannten "Letter of European Kings Club". Gegen Bezahlung von Fr. 1'200.-- zuzüglich Fr. 200.-- Verwaltungsgebühr können weitere solche "Letters" erworben werden. Gemäss Werbebroschüre des Vereins erhalten die Vereinsmitglieder für jeden "Letter" während eines Jahres monatlich Fr. 200.--, insgesamt also Fr. 2'400.--, zurück.
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Mit Verfügung vom 25. August 1993 stellte die Eidgenössische Bankenkommission fest, dass der EKC dem Bankengesetz unterstehe, und ordnete dessen Auflösung an. Das Bundesgericht wies eine dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Vereins mit Urteil vom 2. März 1994 ab.
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B.- Bereits am 15. Januar 1993 leitete die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt ein Strafverfahren wegen Verdachts des gewerbsmässigen Betrugs gegen die dem Vereinsvorstand angehörenden Herr und Frau B. und S. ein. Im März bzw. April 1994 hoben auch die Behörden des Kantons Bern gegen mehrere Exponenten des EKC eine Strafuntersuchung wegen gewerbsmässigen Betruges an. Die Behörden des Kantons Basel-Stadt und des Kantons Bern werfen den Angeschuldigten vor, sich des gewerbsmässigen Betruges schuldig gemacht zu haben, indem sie an einem pyramidenähnlichen Investitionssystem mitgemacht hätten, bei dem die von Letter-Käufern investierten Geldbeträge nicht - wie versprochen - bankmässig angelegt, sondern bloss umgelegt und für Ausschüttungen zu Gunsten der früheren Investoren verwendet worden seien.
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C.- In der Folge gelangten die in der Ermittlung gegen den EKC federführenden Kantone Basel-Stadt und Bern an die übrigen Kantone, in denen der EKC tätig geworden war, und ersuchten sie, die Ermittlungen gegen Personen mit Wohnsitz in ihrem Kanton selbst zu übernehmen. Am 10. Januar 1995 wurde in Bern eine Konferenz von Untersuchungsrichtern aus 17 Kantonen durchgeführt, anlässlich welcher der Stand und das Vorgehen in bezug auf die Strafverfahren gegen die Exponenten des EKC erörtert wurde. Unter anderem kam dabei auch die Frage des Gerichtsstandes zur Sprache. 15 der 17 beteiligten Kantone sprachen sich dafür aus, dass die Strafverfahren am jeweiligen Wohnsitz der Beschuldigten durchzuführen seien. Nur zwei Kantone - darunter der Kanton Aargau - äusserten sich nicht verbindlich. Auch im Verlauf der weiteren Gerichtsstandsverhandlungen mit dem Kanton Basel-Stadt weigerte sich der Kanton Aargau, die im Kanton Basel-Stadt angehobenen Strafverfahren zu übernehmen.
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D.- Mit Eingabe vom 31. Mai 1995 beantragt die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt dem Bundesgericht, die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau sei zur Strafverfolgung der in ihrem Kantonsgebiet wohnhaften EKC-Letter-Verkäufer berechtigt und verpflichtet zu erklären.
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In seiner Stellungnahme vom 13. Juni 1995 beantragte die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, auf das Gesuch nicht einzutreten.
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Die Anklagekammer zieht in Erwägung: | |
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Im vorliegenden Fall genügt das Gesuch um Festsetzung der Gerichtsstandes diesen Anforderungen. Einerseits ist zu berücksichtigen, dass nicht die Festlegung des gesetzlichen, sondern eines davon abweichenden Gerichtsstandes beantragt wird. Der Gesuchsteller durfte sich daher in seinem Gesuch ohne weiteres darauf beschränken, sich zu den Kriterien für die Festsetzung des gesetzlichen Gerichtsstandes kurz zu halten und sich hauptsächlich damit auseinanderzusetzen, welche Gründe für ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand sprechen. Anderseits ist zu berücksichtigen, dass an die inhaltlichen Angaben bei der Festsetzung des Gerichtsstandes für eine Vielzahl von derzeit pendenten oder künftigen Strafverfahren weniger detaillierte Angaben erforderlich sind, um die Frage nach dem Gerichtsstand grundsätzlich zu entscheiden (unveröffentlichtes Urteil der Anklagekammer des Bundesgerichts vom 19. Oktober 1989 in Sachen "Pilotspiel").
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Da im Kanton Basel-Stadt die Strafuntersuchung gegen die Beteiligten des EKC zuerst angehoben wurde, sind sich die Parteien darin einig, dass der gesetzliche Gerichtsstand im Kanton Basel-Stadt liegt.
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a) Nach der Praxis der Anklagekammer darf vom gesetzlichen Gerichtsstand in Anwendung von Art. 263 BStP ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür vorliegen (BGE 117 IV 90 E. 4a, BGE 117 IV 87 E. 2a, BGE 88 IV 42 E. 2, je mit Hinweisen; SCHWERI, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, Bern 1987, N. 408). Ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand kann sich dabei aus verschiedenen Gründen aufdrängen (vgl. zur umfangreichen Kasuistik SCHWERI, a.a.O., N. 410 ff.). Namentlich kann der Gerichtsstand durch Vereinbarung unter den Kantonen anders als nach den Regeln des Strafgesetzbuches bestimmt werden (BGE 117 IV 90 E. 4a; SCHWERI, a.a.O., N. 410 ff.). Auch aus Zweckmässigkeits- und prozessökonomischen Gründen kann ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand gerechtfertigt sein (BGE 117 IV 90 E. 4a, ähnlich BGE 119 IV 102 E. 5a; SCHWERI, a.a.O., N. 447 ff.).
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b) Wie der Gesuchsteller zutreffend ausführt, liegen bei den Strafverfahren im Zusammenhang mit dem EKC besondere Verhältnisse vor. Die den Investoren vom EKC in Aussicht gestellten hohen Renditen auf die Einlage kann nur ausgeschüttet werden, wenn entweder die bereits beteiligten Personen ihren Einsatz laufend erhöhen oder wenn zusätzliche Personen gewonnen werden können, die bereit sind, sich am Investitionssystem zu beteiligen. Dieses "pyramidenähnlichen Investitionssystem" funktioniert nur solange, als ständig neue "Letters" gezeichnet werden, um damit die Ausschüttungen zu Gunsten der früheren Investoren zu finanzieren. Die Natur dieses Umlagerungsverfahrens bringt es mit sich, dass zahlreiche Personen daran beteiligt sind und dass sich dessen Aktivitäten räumlich sehr weit ausdehnen können.
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c) Aufgrund der Funktionsweise des EKC ist davon auszugehen, dass zahlreiche Personen als Letter-Verkäufer tätig geworden sind. Würde unter diesen Umständen der Gerichtsstand ausschliesslich nach den gesetzlichen Vorschriften bestimmt, könnte dies zu unerwünschten Massenprozessen führen. Das Interesse an einer raschen Abwicklung der Strafverfolgung lässt daher eine Trennung der Verfahren als zweckmässig erscheinen. Die Anklagekammer hat in einem vergleichbaren Fall erkannt, dass eine Trennung der Verfahren nach Personen die sinnvollste Lösung darstelle, da die Strafverfahren am raschesten und einfachsten am Wohnsitz der Angeschuldigten durchgeführt werden könnten (unveröffentlichtes Urteil vom 19. Oktober 1989 in Sachen "Pilotspiel"; vgl. auch SCHWERI, a.a.O., N. 448). Aus Gründen der Zweckmässigkeit und Prozessökonomie rechtfertigt es sich daher, vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen, zumal dem Erfordernis der Koordination durch die Vereinbarung der beteiligten Kantone Rechnung getragen wurde, eine sechsköpfige interkantonale Koordinationsgruppe einzusetzen, die durch mehrere Beamten der Bundesanwaltschaft verstärkt wird.
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Eine Abweichung vom gesetzlichen Gerichtsstand am Ort der ersten Untersuchungshandlung erweist sich sodann im vorliegenden Fall auch deshalb als zweckmässig, damit nicht ein Anreiz für die Kantone geschaffen wird, mit der Anhebung einer Strafuntersuchung bei grenzüberschreitender organisierter Kriminalität möglichst lange zuzuwarten, um nicht einen gesetzlichen Gerichtsstand im eigenen Kanton zu präjudizieren.
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Schliesslich ist auch zu berücksichtigen, dass anlässlich der interkantonalen Untersuchungsrichterkonferenz vom 10. Januar 1995 15 von 17 beteiligte Untersuchungsrichter dem Wohnsitzprinzip hinsichtlich der Strafuntersuchungen gegen die Exponenten des EKC zugestimmt haben. Diese Vereinbarung, welcher der Kanton Aargau als Gesuchsgegner zwar nicht verbindlich zugestimmt hat, bestätigt die Annahme, dass triftige Gründe dafür bestehen, die Zuständigkeit bezüglich der Strafverfahren nach dem Wohnsitzprinzip festzusetzen.
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