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13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofs vom 2. März 1999 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 26 SVG, Art. 34 Abs. 3 SVG, Art. 35 Abs. 3-6 SVG, Art. 36 Abs. 1 SVG und Art. 39 Abs. 1 lit. a SVG, Art. 13 Abs. 1 VRV; Vorsichtspflichten des Linksabbiegers, Vertrauensgrundsatz. | |
Sachverhalt | |
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Eine Kassationsbeschwerde des Gebüssten wies das Obergericht des Kantons Solothurn am 2. September 1998 ab.
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B. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Erwägungen: | |
1. a) Die Vorinstanz führt unter Hinweis auf Rechtsprechung und Literatur aus, gemäss Art. 34 Abs. 3 des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr (SVG; SR 741.01) habe der Führer, der seine Fahrtrichtung ändern wolle, wie zum Abbiegen, Überholen, Einspuren und Wechseln des Fahrstreifens, auf den Gegenverkehr und auf die nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen. Der Sinn dieser Bestimmung liege darin, dass jede Richtungsänderung für andere, die geradeaus fahren würden, gefährlich sei und oft nicht oder zu spät wahrgenommen oder auch missverstanden werde. Der abbiegende Fahrzeuglenker schaffe demzufolge eine erhebliche Gefahr, weshalb von ihm verlangt werde, bei seinem Fahrmanöver im Interesse der Verkehrssicherheit besonders vorsichtig zu sein. Aus diesen Gründen beinhalte die Rücksichtnahme auf die nachfolgenden Fahrzeuge insbesondere eine Beobachtungspflicht: Wer nach links abbiegen wolle und pflichtgemäss einspure und den Blinker stelle, dürfe sich nicht ohne weiteres auf das für nachfolgende Fahrzeuge geltende Verbot des Linksüberholens verlassen. Da der nach links Abbiegende durch sein Fahrmanöver eine erhebliche Gefahr für den übrigen Verkehr schaffe, habe er die von ihm geschaffene Gefahr selbst zu vermindern, indem er sich vor dem Abbiegen vergewissere, dass durch sein Fahrmanöver kein nachfolgendes Fahrzeug gefährdet werde. Gemäss Art. 35 Abs. 4 SVG sei nämlich das Überholen auf Strassenverzweigungen grundsätzlich erlaubt, sofern die Verzweigung übersichtlich sei und das Vortrittsrecht anderer nicht beeinträchtigt werde. Aus diesem Grund müsse der nach links Abbiegende auch im Bereich von Strassenverzweigungen damit rechnen, dass er links überholt werde. Das Mass der aufzubringenden Sorgfalt, welche der nach links Abbiegende aufzubringen habe, richte sich nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach den Örtlichkeiten und den Platz- und ![]() | 4 |
Gemäss Art. 35 Abs. 5 SVG dürften Fahrzeuge nicht überholt werden, wenn der Führer die Absicht anzeige, nach links abzubiegen. Dies bedeute, dass derjenige, der nach links abbiegen wolle und die Richtungsänderung ankündige, vor demjenigen, der überholen wolle, den Vortritt habe. Dies bedeute jedoch nicht, dass der nach links Abbiegende von seinen Vorsichtspflichten beim Linksabbiegen entbunden sei. Vielmehr habe er bei seinem Fahrmanöver alle Sorgfalt aufzubringen, wie sie nach den Regeln des Strassenverkehrsrechts von ihm verlangt werde.
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Die Hauptstrasse in Hochwald sei an der fraglichen Stelle nicht sehr breit, so dass der Mercedes des Beschwerdeführers die gesamte Fahrbahn fast vollständig in Anspruch nehme beziehungsweise ausfülle. Ein Rechtsüberholen sei für den nachfolgenden Verkehr bei der Verzweigung Gässli somit nicht möglich. Zwar wäre ein Rechtsüberholen gemäss den Situationsphotos praktisch nicht ausgeschlossen, da rechts ein Vorplatz liege. Ein Ausweichen von nachfolgenden Fahrzeugen über den privaten Vorplatz dürfe aber nicht erwartet werden. Für den Radfahrer, mit dem der Beschwerdeführer beim Linksabbiegen kollidierte, wäre ein Rechtsüberholmanöver zusätzlich erschwert gewesen, da der Bodenbelag beim Übergang von der Strasse zum Vorplatz uneben sei und somit für zweirädrige Fahrzeuge ein zusätzliches Risiko bedeutet hätte. Zudem wäre es durchaus möglich gewesen, dass zwischenzeitlich ein anderer Personenwagen von hinten genaht wäre und sich im toten Winkel des Beschwerdeführers befunden hätte: nach dessen Angaben sei er die 102 m auf der Hauptstrasse mit einer Geschwindigkeit von ca. 20 km/h gefahren, wozu er rund 18 Sekunden benötigt habe; kurz nach dem Einbiegen in die Hauptstrasse habe er in den Rückspiegel ![]() | 6 |
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, dem korrekt eingespurten Verkehrsteilnehmer stehe gegenüber nachfolgenden das Vortrittsrecht zu. Art. 34 Abs. 3 SVG verpflichte denjenigen, der am Einspuren sei, auf die nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen. So dürfe, insbesondere wer überholt werde, nicht nach links einspuren, wenn er dadurch einen Überholenden behindern oder gefährden würde. Wer nach links einspuren wolle, habe daher nötigenfalls alle zur Verfügung stehenden Beobachtungsmittel einzusetzen. Der Beschwerdeführer habe sein Fahrzeug sofort nach dem Einbiegen in die Hauptstrasse nach links an die Leitlinie gesetzt, sei also eingespurt. Auch habe er rechtzeitig den linken Blinker gestellt. Im Moment des Einspurens sei der Fahrradfahrer noch weit entfernt gewesen, womit der Beschwerdeführer auf den nachfolgenden Verkehr genügend Rücksicht genommen habe. Sei er aber seinen Pflichten vollumfänglich nachgekommen, so könne eine Verurteilung nicht deshalb erfolgen, weil es aufgrund eines unvorhergesehenen Verhaltens eines anderen Verkehrsteilnehmers trotzdem zu einer Kollision gekommen sei. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass er von einem Velofahrer links überholt werde. Ein Verkehrsteilnehmer, der sich korrekt verhält, sei nicht verpflichtet, jedes ![]() | 7 |
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b) Nach dem aus der Grundregel von Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz darf jeder Strassenbenützer, sofern nicht besondere Umstände dagegen sprechen, darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ebenfalls ordnungsgemäss verhalten, ihn also nicht behindern oder gefährden (BGE 118 IV 277 E. 4a mit Hinweisen). Schranke für den Vertrauensgrundsatz bildet Abs. 2 von Art. 26 SVG, nach welcher Bestimmung besondere Vorsicht geboten ist gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, sowie wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird. Anzeichen für unrichtiges Verhalten eines Strassenbenützers liegen einmal dann vor, wenn aufgrund seines bisherigen Verhaltens damit gerechnet werden muss, dass er sich in verkehrsgefährdender Weise regelwidrig verhalten wird. Sie können sich aber ebenfalls aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage ergeben, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar ![]() | 9 |
Auf den Vertrauensgrundsatz kann sich nur stützen, wer sich selbst verkehrsregelkonform verhalten hat. Wer gegen die Verkehrsregeln verstösst und dadurch eine unklare oder gefährliche Verkehrslage schafft, kann nicht erwarten, dass andere diese Gefahr durch erhöhte Vorsicht ausgleichen (BGE 118 IV 277 E. 4a mit weiteren Hinweisen; SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band I, S. 117 N. 312; VON WERRA, Du principe de la confiance dans le droit de la circulation routière ..., RVJ 1970, S. 200). Jedoch gilt diese Einschränkung dort nicht, wo gerade die Frage, ob der Verkehrsteilnehmer eine Verkehrsvorschrift verletzt hat, davon abhängt, ob er sich auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann oder nicht. Denn es wäre zirkelschlüssig, in einem solchen Fall den Vertrauensgrundsatz nicht anzuwenden mit der Begründung, der Täter habe eine Verkehrsregel verletzt. Dies hängt ja gerade davon ab, ob und inwieweit er sich auf das verkehrsgerechte Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer verlassen darf (BGE 120 IV 252 E. 2d/aa).
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c) Das Vertrauensprinzip kann grundsätzlich auch derjenige Fahrzeuglenker anrufen, der von einer Hauptstrasse nach links in eine Nebenstrasse einbiegt. Erlaubt die Verkehrslage dem Fahrzeuglenker das Abbiegen ohne Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs, so ist ihm auch dann keine Verkehrsregelverletzung vorzuwerfen, wenn das Abbiegemanöver anschliessend aufgrund eines nicht voraussehbaren Verhaltens eines nachfolgenden Verkehrsteilnehmers dennoch zu einer Verkehrsgefährdung führt. Mangels gegenteiliger Anzeichen muss der Abbiegende insbesondere nicht damit rechnen, dass ein nachfolgendes Fahrzeug überraschend mit weit übersetzter Geschwindigkeit auftauchen könnte oder dass ein bereits sichtbarer Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit plötzlich stark erhöhen werde, um verkehrsregelwidrig links zu überholen. Im Interesse der Verkehrssicherheit wird jedoch nicht leichthin anzunehmen sein, der links Abbiegende habe sich auf das für nachfolgende Fahrzeuge geltende Verbot des Linksüberholens verlassen dürfen; denn er unterbricht mit seinem Manöver den Verkehrsfluss und schafft damit eine erhöht gefahrenträchtige Verkehrssituation namentlich für die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer (Urteil des Bundesgerichts vom 3. April 1998 i.S. X. gegen Polizeirichteramt der Stadt Zürich, veröffentlicht in Pra 87/1998 Nr. 125 S. 692).
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Der Beschwerdeführer wollte nach links in das Gässli abbiegen und musste deshalb sicher sein, dass während des Abbiegemanövers kein (vortrittsberechtigtes) Fahrzeug auf der Hauptstrasse entgegenkommt und dass seine Einfahrt in die enge Nebenstrasse nicht durch dortige Fahrzeuge oder Fussgänger, die die Strasse überqueren, behindert wird. Er musste sich somit sowohl nach vorne als auch zur Seite hin vergewissern, ob sein Abbiegemanöver überhaupt möglich sei. Bei dieser Sachlage - und nachdem der Beschwerdeführer korrekt eingespurt war - würde man die Anforderungen an den Linksabbieger überspannen, wenn man von ihm verlangen wollte, dass er sich unmittelbar beim Abbiegen zusätzlich nochmals nach hinten absichern müsste. Denn je mehr er seine Aufmerksamkeit auf den Rückspiegel und allfällige illegal Überholende richtet, desto mehr vernachlässigt er seine primäre Sicherungspflicht nach vorne und zur Seite. Dies liegt nicht im Interesse der Verkehrssicherheit. Der Umstand, dass ein Rechtsüberholen des Radfahrers wegen des Kopfsteinpflasters risikoreich gewesen wäre, lässt die Vorsichtspflichten ![]() | 13 |
Indem die Vorinstanz dem Beschwerdeführer die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz verweigerte und ihn wegen ungenügender Rücksichtnahme auf den nachfolgenden Verkehr schuldig sprach, verletzte sie Bundesrecht. Folglich ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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