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2. Urteil des Kassationshofs vom 14. Dezember 2000 i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen X. und vice versa (Nichtigkeitsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 112 StGB; Kriterien für die Mordqualifikation. |
In einem Vater-Tochter-Konflikt wirken immer auch kulturelle Muster mit. Doch ist nicht eine Kultur zu beurteilen, sondern eine Tat und ihr Täter (E. 1d). |
Der Vater, der die Tochter "mit dem Tode bestraft", weil sie sich nicht fügt, handelt besonders verwerflich (E. 1f). |
Die Änderung der rechtlichen Qualifikation führt in casu nicht zu einer Erhöhung des Strafmasses (E. 2-5). | |
Sachverhalt | |
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X., aufgewachsen in einem anatolischen Bergdorf, emigrierte 1988 in die Schweiz. Es wurde ihm und seiner Familie aus humanitären Gründen der Aufenthalt bewilligt. Seine Hoffnungen wandelten sich infolge von Integrationsschwierigkeiten schnell in starke Gefühle der Enttäuschung und Hilflosigkeit, und die prekären Wohnverhältnisse der siebenköpfigen Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung sowie die Arbeit in einem Spätschichtbetrieb belasteten ihn stark. Zudem entwickelte sich eine Integrationsschere zwischen den Eltern und den Kindern, die sich dank der Schule schnell und relativ gut integrierten. Die Integrationsschwierigkeiten führten zu einer Anpassungsstörung mit Krankheitswert (ICD-10 F 43.2).
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Als X. sie in ihrem ersten Lehrjahr 1995 mit einem Mann sah, der sich eine Drogenspritze angesetzt hatte, erkannte er, dass seine Einschüchterungs- und Rekurdisierungsversuche gescheitert waren. Da verprügelte er sie aufs Brutalste. Seine Drohungen wurden nun ernst genommen. In der Folge wurde ausgehandelt, die Tochter zu verheiraten: Damit würde sie dem schweizerischen Umfeld entrissen und wieder dem kurdisch-türkischen zugeführt, der Tradition der Kusinenheirat wäre Genüge getan und der Verwandtschaft bewiesen worden, dass er als Vater sehr wohl in der Lage war, die Tochter zu behüten und zu verheiraten. Sie wollte davon jedoch nichts wissen und tauchte unter. Als er dies erfuhr, geriet er in einen unkontrollierten Erregungszustand (akute psychische Dekompensation) und musste am 3. Juli 1995 in ein Spital eingeliefert werden. Nach seiner Entlassung versprach er, die Drohungen nicht wahr zu machen. Indessen kam es in den Ferien in der Türkei auf Grund seiner massiven Drohungen zur zwangsweisen Verheiratung der Tochter mit einem Cousin.
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Statt dass sich durch die Verheiratung die Probleme lösten, kam X. nun noch mehr unter gesellschaftlichen Druck, weil die Ehe nicht vollzogen wurde, da der Ehemann nicht in die Schweiz einreisen konnte. Es wurde ihm seitens der Verwandten in der Türkei Verrat vorgeworfen. Ausserdem war für ihn der Gedanke, dass die Tochter - jetzt als verheiratete Frau - mit anderen Männern gesehen wurde, schlicht verheerend. Schliesslich organisierte er im Sommer 1996 die illegale Einreise des Schwiegersohnes in die Schweiz, was ihn - wie schon die Hochzeit - viel Geld kostete, das er aufnehmen musste. Die eheliche Gemeinschaft kam aber trotz des Druckes wegen des Widerstandes der Tochter nicht zustande.
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X. wurde es zur Gewissheit, dass dieser Skandal bekannt und er der Lächerlichkeit und Entehrung preisgegeben würde. Er befand ![]() | 6 |
B.- Das Kreisgericht VIII Bern-Laupen erklärte X. am 17. Dezember 1998 der vorsätzlichen Tötung schuldig (sowie der ANAG-Zuwiderhandlungen im Mai und Juni 1996) und verurteilte ihn zu 14 Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweisung unbedingt.
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C.- Das Obergericht des Kantons Bern hatte im Appellationsverfahren am 14. Dezember 1999 auf Grund von Appellationen des Verurteilten und des a.o. Generalprokurators die Qualifikationsfrage und die Strafzumessung zu beurteilen. Es stellte unter anderm die Rechtskraft des Schuldspruchs wegen der ANAG-Zuwiderhandlungen sowie der Landesverweisung fest. Es erklärte X. der vorsätzlichen Tötung schuldig und bestrafte ihn mit 14 Jahren Zuchthaus.
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D.- Der a.o. Generalprokurator des Kantons Bern (nachfolgend: die Staatsanwaltschaft) erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache ("zur Schuldigerklärung von X. wegen Mordes und jedenfalls Neubemessung der Strafe") an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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E.- X. (nachfolgend: der Verurteilte) erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts ("im Punkt der Strafzumessung") sei aufzuheben, die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen und ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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a) Die vorsätzliche Vernichtung menschlichen Lebens wiegt immer ausserordentlich schwer. Mord unterscheidet sich durch besondere Skrupellosigkeit klar von der vorsätzlichen Tötung (BGE 118 IV 122 E. 2b S. 126).
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Er zeichnet sich durch aussergewöhnlich krasse Missachtung fremden Lebens bei der Durchsetzung eigener Absichten aus. Für die Qualifikation verweist das Gesetz in nicht abschliessender Aufzählung beispielhaft auf äussere (Ausführung) und innere Merkmale (Beweggrund, Zweck). Diese Merkmale oder ![]() | 13 |
Die für eine Mordqualifikation konstitutiven Elemente sind jene der Tat selber, während Vorleben und Verhalten nach der Tat nur heranzuziehen sind, soweit sie tatbezogen sind und ein Bild der Täterpersönlichkeit geben (BGE 117 IV 369 E. 17, 19a).
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Das Gesetz erfasst jenen Täter, den der Psychiater BINDER (ZStrR 67/1952 S. 307) beschrieben hat, als skrupellos, gemütskalt, krass und primitiv egoistisch, ohne soziale Regungen, der sich daher zur Verfolgung seiner eigenen Interessen rücksichtslos über das Leben anderer Menschen hinwegsetzt (BGE 117 IV 369 E. 17; BGE 120 IV 265 E. 3a). "Cette mentalité doit apparaître comme une constante de la personnalité sur laquelle le juge doit se prononcer selon des critères moraux" (BGE 115 IV 8 E. Ib). Entscheidend ist eine Gesamtwürdigung der äusseren und inneren Umstände der Tat (BGE 120 IV 265 E. 3a; BGE 118 IV 122; BGE 115 IV 8 E. Ib; Pra 89/2000 Nr. 73 S. 429 E. 2c). In dieser Gesamtwürdigung kann eine besondere Skrupellosigkeit immer noch entfallen, namentlich wenn das Tatmotiv einfühlbar und nicht krass egoistisch ist, etwa wenn die Tat durch eine schwere Konfliktsituation ausgelöst wurde (BGE 120 IV 265 E. 3a). Somit erfolgt die Qualifikation im Wesentlichen nach ethischen Kriterien (BGE 115 IV 8 E. Ib). Für Mord typische Fälle sind die Tötung eines Menschen zum Zwecke des Raubes (BGE 115 IV 187), Tötungen aus religiösem oder politischem Fanatismus (BGE 115 IV 8 E. Ib; BGE 117 IV 369 E. 19c) oder aus Geringschätzung (BGE 120 IV 265).
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b) Die Vorinstanz geht von der Beurteilung der Erstinstanz aus: Der Verurteilte habe egoistisch gehandelt, indem er das Leben seiner Tochter vernichtet habe, um nicht das Gesicht zu verlieren. Er habe allerdings unter einer chronischen psychosozialen Dauerbelastung gestanden, dies vor dem Hintergrund der traditionellen Werte, welchen er nachgelebt und denen er sich verpflichtet gefühlt habe, ohne ersichtlichen Ausweg aus dem Dilemma. Entgegen der Staatsanwaltschaft habe dem Delikt nicht bloss Verachtung der Tochter wegen der vermuteten Unreinheit zu Grunde gelegen. Es habe sich um eine eigentliche Exekution gehandelt, kaltblütig und mit Entschlossenheit. Alle Elemente abwägend habe die Erstinstanz in der Gesamtwürdigung das Vorliegen eines krassesten, primitivsten Egoismus und damit eine Mordqualifikation verworfen.
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Die Vorinstanz kommt zum Ergebnis: Es lägen zwar mehrere belastende Elemente vor, die in Richtung Mord wiesen. Insbesondere sei die Tat als klar egoistisch zu bezeichnen, doch liege nicht krassester, primitiver Egoismus vor. Weder einzeln noch im Gesamten lägen Umstände in jener Intensität vor, die nötig wäre, um Mord anzunehmen.
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c) Auch für die Staatsanwaltschaft scheiden Mordlust, Rachsucht, Habgier, Heimtücke oder ein Zuendeführen der Tat im Sinne des Nachsetzens bis zur endgültigen Tötung als mordqualifizierend aus.
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Soweit die Staatsanwaltschaft indes das von der Vorinstanz angenommene Handeln "aus einer gewissen Hilflosigkeit und Verzweiflung" als verfehlte Interpretation des kulturellen Hintergrunds in Abrede stellt, wendet sie sich gegen die für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 277bis BStP; SR 312.0), die überdies in den beiden psychiatrischen Gutachten und im ethnologischen Gutachten hinreichend belegt sind.
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d) Zur vertieften Abklärung hat die Vorinstanz ein in Zusammenarbeit mit einem Psychiater erstelltes Gutachten des Instituts für Ethnologie der Universität Bern vom 7. März 1997 herangezogen. Danach lassen sich infolge der rapiden gesellschaftlichen Transformation "typische" türkisch/-kurdische bäuerliche Lebensverhältnisse, Familien und Biographien kaum mehr finden. Die Geschichte der Familie (die Gattin ist Türkin) sei vor diesem Hintergrund des Wandels symptomatisch. Es sei heute unzulässig, von einer für sich stehenden kurdischen Gesellschaft zu sprechen, welche einheitliche Werte und Normen vertrete. Der Verurteilte bestreite die Tötung nicht und sei dennoch im Grunde überzeugt, moralisch unschuldig zu sein; diesen Widerspruch löse er für sich, indem er einerseits die Strafe als Teil seines Schicksals akzeptiere, anderseits die Tat selbst als Folge eines momentanen Ausser-sich-Seins darstelle. Es müsse ihm aber zugestanden werden, dass er die Verantwortung eines Familienvaters sehr ernst genommen habe und dass er sich redlich bemüht habe, seiner grossen Familie Sicherheit zu geben und für sie zu sorgen. Auch bestünden genügend Hinweise, dass die Tötung als Ausgang eines Ehrkonflikts zu verstehen sei, der allerdings ausserordentlich komplexe Konturen aufweise, und in welchem die fehlgeleitete Integration der Familie in der Schweiz eine weit grössere ![]() | 22 |
In diesem Zusammenhang stellt die Vorinstanz fest, die Tat sei vor dem Hintergrund einer stark konfliktgeladenen Täter-Opfer-Beziehung geschehen. Die Tat kann daher auch in der Konsequenz einer katastrophalen Vater-Tochter-Beziehung begriffen werden. Hier wirken immer kulturelle Muster mit. Doch ist nicht eine Kultur zu beurteilen, sondern eine Tat und ihr Täter. Dabei können tatbezogene heimatliche Anschauungen des Ausländers - wie des Inländers - als innere Tatsachen (Beweggründe) bei der Gesamtwürdigung erheblich werden. Kulturen geben aber keine Auskunft zum tatsächlichen individuellen Handeln (HANS-RUDOLF WICKER, Vom Sinn und Unsinn ethnologischer Gutachten, Asyl 1996 S. 118, 121). Ethnologische Gutachten können jedoch in spezifischen Fällen helfen, den Tathintergrund auszuleuchten. Die Verwerflichkeit beurteilt sich dann nach der ethischen Qualität des Beweggrundes, nicht nach seiner Herkunft.
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e) Die kantonalen Instanzen würdigen die Tat umfassend nach den grundsätzlich massgebenden Kriterien. Dabei beziehen sie die Migrations- und Integrations-Problematik ein, ohne aber ihr ein unsachliches Gewicht beizumessen oder gar einen Mord in abstrakter Weise wegen vermeintlicher heimatlicher (anatolischer) Auffassungen des Verurteilten zu verneinen. Sie nehmen in der Gesamtwürdigung nach einem in der Rechtsprechung anerkannten Schluss an, dass eine besondere Skrupellosigkeit immer noch entfallen kann, wenn die Tat durch eine schwere Konfliktsituation ausgelöst worden ist (BGE 120 IV 265 E. 3a) oder wenn gegenüber den für Mord charakteristischen letztlich doch die für Mord atypischen Elemente überwiegen (BGE 118 IV 122 E. 3d).
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Indessen stellt die Vorinstanz zwar fest, der Verurteilte habe sich im Tatzeitpunkt unter einer chronischen psychosozialen Dauerbelastung befunden. Sie erwägt aber unmittelbar anschliessend, der Verurteilte sei keineswegs als stumm Leidender, über Jahre den Konflikt Ertragender plötzlich explosionsartig aggressiv geworden. Er sei diesem komplexen Bedingungsgefüge nicht einfach hilflos ausgesetzt gewesen, sondern habe mit seinem Verhaltensmuster wesentlich zur Eskalation der Situation beigetragen, und er habe Anlass zu jenem die Tat auslösenden Disput gegeben. Damit wird jenes Motiv aufgenommen, welches die Tat kennzeichnet und ihr ![]() | 25 |
f) Der tragende und der Tat ihr Gepräge gebende Beweggrund des Verurteilten ist, dass er als pater familias seine Tochter "mit dem Tode bestrafte" (oben E. 1b), weil sie sich nicht fügte. Er schob den Anspruch der Tochter auf Achtung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit beiseite. Er entschied, ihr Leben sei verwirkt, und warf sich damit zum Herrn über ihr Leben auf. Dass er dabei auch aus einer gewissen Hilflosigkeit und Verzweiflung gehandelt hatte, hat die Vorinstanz letztlich bewogen, dennoch eine vorsätzliche Tötung an der Grenze zum Mord anzunehmen. Richtigerweise muss jedoch die Tat qualitativ als Mord, wegen der Motivationslage indes als Mord an der Grenze zur vorsätzlichen Tötung eingestuft werden. Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist deshalb insoweit gutzuheissen.
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Die Strafe ist nach dem Verschulden des Täters zuzumessen; dabei sind Beweggründe, Vorleben und persönliche Verhältnisse des Schuldigen zu berücksichtigen (Art. 63 StGB). Es müssen die wesentlichen Tat- und Täterkomponenten beurteilt, das Ausmass qualifizierender Tatumstände gewichtet und die Strafzumessung nachvollziehbar ![]() | 28 |
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Die Vorinstanz berücksichtigt strafmildernd die verminderte Zurechnungsfähigkeit im Sinne von Art. 11 in Verbindung mit Art. 66 StGB. Sie verweist insoweit auf das überzeugende psychiatrische Gutachten und auf die zutreffenden Erwägungen der ersten Instanz. Es sei also von einer leicht verminderten Zurechnungsfähigkeit auszugehen. Im Anschluss daran geht sie auf die verschiedenen Tatkomponenten ein. Dass sie damit in unzulässiger Weise den gleichen Gesichtspunkt doppelt verwertet hätte, ist aus dem angefochtenen Urteil nicht ersichtlich und wird von der Staatsanwaltschaft auch nicht substanziiert geltend gemacht. Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist deshalb insoweit unbegründet, soweit überhaupt auf sie eingetreten werden kann.
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Die Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
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Erwägung III | |
5. Zusammenfassend ist der vorinstanzliche Schuldspruch aufzuheben und die Sache zur Schuldigsprechung wegen Mordes (Art. 112 StGB) an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Änderung der rechtlichen Qualifikation erheischt aber nicht eine Erhöhung des Strafmasses. Die Strafe von vierzehn Jahren Zuchthaus erscheint in Anbetracht der vorinstanzlichen Feststellungen auch unter der neuen Qualifikation als Mord, an der Grenze zur vorsätzlichen Tötung liegend, als angemessen.
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