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2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. S. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) |
6S.317/2001 vom 22. Januar 2002 | |
Regeste |
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 und 2 StGB; Täuschung richterlichen Vertrauens; Widerruf des bedingten Strafvollzugs. | |
Sachverhalt | |
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B.- S. beging in der Probezeit weitere Delikte. Dabei handelte es sich ausschliesslich um Übertretungen, konkret um Widerhandlungen gegen das SVG (SR 741.01). Im ersten aufgrund mehrerer SVG-Verurteilungen durchgeführten Widerrufsverfahren wurde der ihm gewährte bedingte Strafvollzug mit Urteil vom 18. September 1998 nicht widerrufen. S. wurde jedoch verwarnt, und die Probezeit wurde um 1 Jahr verlängert. Nach zwei weiteren Verurteilungen wegen Strassenverkehrsdelikten wurde ein zweites Widerrufsverfahren gegen S. durchgeführt. Mit Urteil vom 21. Mai 1999 wurde der am 20. März 1997 gewährte bedingte Strafvollzug nicht widerrufen, S. wurde jedoch nachdrücklich verwarnt und die Probezeit nochmals um ein halbes Jahr auf insgesamt 4 1/2 Jahre verlängert. Auch im durch zahlreiche weitere Strassenverkehrsdelikte notwendig gewordenen dritten Widerrufsverfahren gegen S. wurde der ihm gewährte bedingte Strafvollzug mit Urteil vom 31. März 2000 nicht widerrufen. S. wurde jedoch wiederum verwarnt.
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Aufgrund weiterer Verurteilungen wegen Strassenverkehrsdelikten wurde schliesslich ein viertes Widerrufsverfahren gegen S. durchgeführt. Mit Urteil des Kreisgerichts X Thun vom 1. Dezember 2000 wurde der ihm mit Urteil vom 20. März 1997 gewährte bedingte Strafvollzug widerrufen.
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Auf Appellation von S. hin bestätigte das Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, am 23. März 2001 in Anwendung von Art. 41 Ziff. 3 StGB den Widerruf des S. mit Urteil des Kreisgerichts X Thun vom 20. März 1997 für eine Gefängnisstrafe von 10 Monaten gewährten bedingten Strafvollzugs.
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C.- S. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
1. Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen, handelt er trotz förmlicher Mahnung des Richters ![]() | 7 |
Nachdem der Beschwerdeführer während seiner (zweimalig verlängerten) Probezeit ausschliesslich Übertretungen begangen hat, widerruft die Vorinstanz den bedingten Strafvollzug in Anwendung der in Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB enthaltenen Generalklausel der Vertrauenstäuschung.
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b) Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Vorinstanz habe den Widerruf des bedingten Strafvollzugs zu Unrecht auf eine ungünstige Prognose gestützt. Die Prognose spiele keine Rolle bei der Frage, ob die Generalklausel von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB zur Anwendung komme. Die Vorinstanz gehe in Abweichung von den von ihr eigens aufgestellten Grundsätzen davon aus, der Verurteilte müsse sich in sämtlichen Lebensgebieten als rechtstreuer Bürger erweisen und sich in der Probezeit allgemein bewähren.
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c) Der Beschwerdeführer macht im Weiteren geltend, die Vorinstanz habe ohne weitere Begründung einen leichten Fall mit günstiger Prognose verneint. Gemäss Lehre und Rechtsprechung seien Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten als leicht im Sinne von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB anzusehen. Von einem Widerruf des bedingten Strafvollzugs wäre deshalb selbst dann abzusehen, wenn die Generalklausel zur Anwendung käme.
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3. Der Beschwerdeführer übersieht, dass die Vorinstanz in ihrem Urteil hinsichtlich des Anwendungsbereiches der Generalklausel der Täuschung richterlichen Vertrauens in Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB einleitend nicht ihre eigene Meinung, sondern die ![]() | 12 |
Die Vorinstanz führt anschliessend aus, bei uneingeschränkter Anwendung dieser Rechtsprechung käme vorliegend mangels sachlich engem Bezug zwischen den Probezeit- bzw. Anlassdelikten und den neuerlichen Delikten ein Widerruf des bedingten Strafvollzugs nie in Frage. Aufgrund der "besonderen Krassheit" des zu beurteilenden Falles und des Umstandes, dass der Beschwerdeführer "im Bereich der SVG-Übertretungen ein unbelehrbarer Wiederholungstäter in 22 Fällen mit entsprechend hochgradig ungünstiger Prognose" sei, relativiert die Vorinstanz die oben zitierte Rechtsprechung der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern, d.h. sie verzichtet im vorliegenden Fall "ausnahmsweise" auf den sachlich engen Bezug zwischen den Anlassdelikten und den Rückfalldelikten und widerruft, nachdem sie das Vorliegen eines leichten Falles und die Möglichkeit von Ersatzmassnahmen ausgeschlossen hat, den dem Beschwerdeführer gewährten bedingten Strafvollzug.
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4. a) Das Bundesgericht hat in BGE 124 IV 280 E. 3b festgehalten, ein bestimmtes Verhalten, das etwa wegen Fehlens eines Tatbestandsmerkmals, einer objektiven Strafbarkeitsbedingung oder einer Prozessvoraussetzung nicht strafbar sei, dürfe nicht kurzerhand als Täuschung des Vertrauens in anderer Weise im Sinne von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB zum Widerruf des bedingten Strafvollzugs führen. Ansonsten hatte das Bundesgericht seit mehr als zwei Jahrzehnten keine Gelegenheit mehr, sich zur Generalklausel der Vertrauenstäuschung zu äussern. Nach der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichts verlangt das Gesetz in Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB allgemein ein das Vertrauen des Richters enttäuschendes Verhalten als Grund zum Vollzug der Strafe und damit, dass der unter Bewährung stehende Verurteilte sich überhaupt keines Verhaltens schuldig mache, in dessen Voraussicht der Strafvollzug nicht aufgeschoben worden wäre, gleichgültig, ob es strafbar ist oder nicht, vorausgesetzt, dass sich der Verurteilte der Pflichtwidrigkeit seines Handelns auch ohne besondere Mahnung bewusst sein musste und dass seine Verfehlung von einer Schwäche zeugt, die er mit Rücksicht auf die Bewährungsprobe hätte meistern können und sollen ![]() | 14 |
Diese ältere Rechtsprechung zur Vertrauenstäuschung hat sich auf die alte, bis am 30. Juni 1971 geltende Fassung von Art. 41 StGB bezogen, gemäss welcher nur die vorsätzliche Begehung eines Verbrechens oder Vergehens ein obligatorischer Widerrufsgrund war und von einem Widerruf nur in besonders leichten Fällen abgesehen werden konnte. Das Bundesgericht hat diese Praxis in Bezug auf die revidierte, nun seit 1. Juli 1971 geltende Fassung von Art. 41 StGB in einer unveröffentlichten Erwägung in BGE 103 IV 138 (vgl. a.a.O. E. 3) unter Verweisung auf BGE 90 IV 178 ohne weitere Prüfung bestätigt.
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b) Nachdem sich in den beiden letzten Jahrzehnten die Auffassungen zur Verhängung von (bedingten und unbedingten) Freiheitsstrafen stark verändert haben und heute insbesondere an der Generalklausel in Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB Kritik geübt wird (vgl. SCHULTZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Bd., 4. Aufl. 1982, S. 114; STRATENWERTH, Strafrecht AT II, 1989, N. 118 ff., insbesondere N. 127 zu § 4 und TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 1997, N. 52 zu Art. 41), besteht Anlass zu einer Überprüfung der oben zitierten bundesgerichtlichen Rechtsprechung.
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Die in der Lehre geäusserte Kritik hat mittlerweile insbesondere dazu geführt, dass im Entwurf zur Änderung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches die Generalklausel der Vertrauenstäuschung ersatzlos gestrichen wurde (vgl. die Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. September 1998, BBl 1999 S. 1979 ff., 2055 ff. sowie S. 2309 f. und 2331). Die nun ![]() | 17 |
c) Gemäss dem Entwurf zur Revision des Widerrufs des bedingten Strafvollzugs bzw. der Nichtbewährung (Art. 46 und Art. 95 Abs. 3-5 des Entwurfs zum StGB) wäre wie oben ausgeführt die Begehung von Übertretungen nicht mehr Grund genug für einen Widerruf, sondern die Übertretungen müssten damit im Zusammenhang stehen, dass der Verurteilte sich der Bewährungshilfe entzieht oder Weisungen missachtet. Zudem müsste aufgrund des Verhaltens des Täters eine erhebliche Gefahr entstanden sein, dass er weitere Verbrechen oder Vergehen begeht, und sich die ![]() | 18 |
Die Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber die Streichung des Widerrufsgrundes der Täuschung richterlichen Vertrauens sowie das Abstellen auf die Prognose waren in beiden Räten unbestritten (AB 1999 S S. 1104 ff., 1118, 1134; AB 2001 N S. 560 ff., 563, 589; AB 2001 S S. 507 ff., 513). Bei der Auslegung des geltenden Rechts kann auf laufende Revisionen Bezug genommen werden (vgl. BGE 110 II 293 E. 2a, e und f sowie E. 3a; BGE 117 IV 276 E. 3c, d und e; BGE 118 IV 52 E. 2c und d; BGE 127 IV 97 E. 1b sowie BGE 128 IV 25). Es rechtfertigt sich, auf die Revisionsarbeiten insofern Bezug zu nehmen, als der in Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB noch enthaltene Widerrufsgrund der Täuschung richterlichen Vertrauens mit noch grösserer Zurückhaltung als bis anhin angewendet und dabei - wie in der Botschaft - darauf abgestellt wird, ob sich die Bewährungsprognose für den Verurteilten während der Probezeit so sehr verschlechtert hat, dass nunmehr der Vollzug der Strafe als die voraussichtlich wirksamere Sanktion erscheint. Dabei wird auch dem Kriterium der kriminalpolitischen Zweckmässigkeit (vgl. STRATENWERTH, a.a.O., N. 106 zu § 4) Rechnung getragen (vgl. dazu BGE 118 IV 330 E. 3d betreffend Widerrufsgrund der Nichtbefolgung einer Weisung).
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d) Angesichts der insgesamt 22 Verurteilungen wegen SVG-Übertretungen kann man nicht sagen, der Beschwerdeführer habe sich in der (2-mal verlängerten) Probezeit allgemein bewährt. Es lässt sich auch nach den Erläuterungen des Beschwerdeführers hiezu nicht nachvollziehen, warum dieser trotz 3-maliger Verwarnung und 2-maliger Verlängerung der Probezeit in notorischer Art und Weise weiter SVG-Übertretungen begangen hat. Der Beschwerdeführer wurde angesichts seiner wiederholten Verfehlungen im SVG-Bereich jeweilen zu Haftstrafen von bis zu 13 Tagen, insgesamt gar zu 100 Tagen Haft verurteilt.
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Die Vorinstanz stellt dem Beschwerdeführer gestützt darauf eine (hochgradig) ungünstige Prognose hinsichtlich der Begehung von weiteren SVG-Übertretungen - dies obwohl sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Urteilsfällung seit mehr als einem Jahr nichts mehr hat zu Schulden kommen lassen und auch den Fahrzeugausweis und die Kontrollschilder seines Autos abgegeben hat. Die Vorinstanz trifft keine tatsächlichen Feststellungen dazu, ob die Gefahr besteht, dass der Beschwerdeführer künftig Verbrechen oder ![]() | 21 |
e) Das Bundesgericht hat bislang auch allgemein verwerfliches Verhalten, insbesondere die Begehung einzelner Übertretungen für einen Widerruf genügen lassen, vorausgesetzt, dass sich der Verurteilte der Pflichtwidrigkeit seines Handelns auch ohne besondere Mahnung bewusst sein musste und dass seine Verfehlung von einer Schwäche zeugt, die er mit Rücksicht auf die Bewährungsprobe hätte meistern können und sollen (BGE 90 IV 177 S. 178). Wer während seiner (verlängerten) Probezeit in derart notorischer Weise wie der Beschwerdeführer Übertretungen begeht, dem muss dieses Verhalten als Ausdruck einer Schwäche ausgelegt werden, die er mit Rücksicht auf die Bewährungsprobe hätte meistern können und sollen. Die Vorinstanz hat den Widerruf des bedingten Strafvollzuges im Sinne der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur Vertrauenstäuschung ausgesprochen.
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Stellt man hingegen für den Widerruf neu auf die Prognose ab, gelangt man zu einem anderen Resultat. Aufgrund des von der Vorinstanz festgestellten Sachverhaltes lässt sich nicht sagen, dass die vom Beschwerdeführer begangenen Übertretungen als gleichermassen typische Reaktionen auf dasselbe Problem zu qualifizieren sind, so dass sie auf eine Wiederholungsgefahr bezüglich der Straftaten hindeuten, zu der der Beschwerdeführer am 20. März 1997 zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 10 Monaten verurteilt worden war. Es lässt sich auch nicht sagen, dass sich die Bewährungsprognose ![]() | 23 |
Die Vorinstanz hat auch zu Unrecht das Vorliegen eines leichten Falles gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB verneint. Leichte Fälle liegen nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich vor, wenn die Strafe drei Monate nicht übersteigt (BGE 117 IV 97 S. 101 f.). Dem Beschwerdeführer werden als Rückfalltaten ausschliesslich Übertretungen vorgeworfen. Die Höchststrafe für Übertretungen beträgt drei Monate (Art. 101 und 39 StGB), auch bei wiederholter Begehung (Art. 68 Ziff. 1 Abs. 1 StGB). Übertretungen sind somit grundsätzlich leichte Fälle.
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