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1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) |
6S.176/2004 vom 27. Oktober 2004 | |
Regeste |
Schwere Körperverletzung (Art. 122 Abs. 1 StGB); Verbreiten menschlicher Krankheiten (Art. 231 Ziff. 1 StGB); Vorsatz (Art. 18 Abs. 2 StGB); Versuch (Art. 21 f. StGB). Ungeschützte Sexualkontakte einer HIV-infizierten Person. |
Vorsatz im konkreten Fall bejaht (E. 2). |
Eine Verurteilung der HIV-infizierten Person wegen (versuchter) schwerer Körperverletzung fällt ausser Betracht, wenn der Partner in Kenntnis der Infektion und des Übertragungsrisikos freiverantwortlich mit dem ungeschützten Sexualkontakt einverstanden ist und das Geschehen mitbeherrscht (E. 3). |
Wer durch ungeschützte Sexualkontakte das HI-Virus auf einen andern überträgt, erfüllt auch den Tatbestand des Verbreitens menschlicher Krankheiten (Bestätigung der Rechtsprechung). Das Einverständnis des Partners schliesst insoweit die Tatbestandsmässigkeit und die Rechtswidrigkeit nicht aus (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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X. wird zur Last gelegt, zwischen August 1995 und Juni/Juli 1998 mit fünf Männern, wissend um seine HIV-Infektion, ungeschützt sexuell verkehrt zu haben.
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X. erhebt mit Eingabe vom 17. Mai 2004 eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Geschworenengerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Aus den Erwägungen: | |
1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Ansteckung mit dem HI-Virus erfülle entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und der Auffassung der Vorinstanz den Tatbestand der schweren Körperverletzung nicht; es fehle nach dem heutigen Stand der ![]() | 4 |
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Die Infektion mit dem HI-Virus führt nach ungewisser, relativ langer Zeit bei vielen Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch der Immunschwäche AIDS und anschliessend mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode. Die HIV-Infektion ist damit lebensgefährlich, weshalb eine schwere Körperverletzung nach der Tatbestandsvariante des Absatzes 1 von Art. 122 StGB vorliegt, wie das Bundesgericht entschieden hat (BGE 125 IV 242 E. 2b). Zwar darf eine lebensgefährliche Körperverletzung im Sinne von Art. 122 Abs. 1 StGB nur angenommen werden, wenn die Verletzung zu einem Zustand geführt hat, in dem sich die Möglichkeit des Todes dermassen verdichtete, dass sie zur ernstlichen und dringlichen Wahrscheinlichkeit wurde (BGE 109 IV 18 E. 2c S. 20), was aber nicht bedeutet, dass die Lebensgefahr notwendigerweise eine zeitlich unmittelbare, akute sein muss; massgebend ist vielmehr die erhebliche Wahrscheinlichkeit des tödlichen Verlaufs (BGE 125 IV 242 E. 2b/dd).
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Trotz gewisser medizinischer Fortschritte und verbesserten medikamentösen Behandlungen, auf welche der Beschwerdeführer verweist, hat sich nichts Grundsätzliches daran geändert, dass die Infektion mit dem HI-Virus nach relativ langer Zeit bei vielen Betroffenen zur Immunschwäche AIDS und anschliessend mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führt. Das ist ausreichend für die Annahme einer lebensgefährlichen Verletzung. Einer zeitlichen Unmittelbarkeit der Lebensgefahr bedarf es nicht, wie das Bundesgericht erkannt hat und woran festzuhalten ist.
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2. Der Beschwerdeführer macht unter Berufung auf die statistisch gesehen geringe Wahrscheinlichkeit der Übertragung des HI-Virus ![]() | 8 |
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2.2 Eventualvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Eintritt des Erfolgs beziehungsweise die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält, aber dennoch handelt, weil er den Erfolg für den Fall seines Eintritts in Kauf nimmt, sich mit ihm abfindet, mag er ihm auch unerwünscht sein (BGE 130 IV 58 E. 8.2; BGE 125 IV 242 E. 3c; BGE 121 IV 249 E. 3a; BGE 103 IV 65 E. 2). Eventualvorsatz kann unter anderem angenommen werden, wenn sich dem Täter der Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs infolge seines Verhaltens als so wahrscheinlich aufdrängte, dass sein Verhalten vernünftigerweise nur als Inkaufnahme dieses Erfolgs gewertet werden kann (BGE 109 IV 137 E. 2b mit Hinweisen). Eventualvorsatz kann indessen auch ![]() | 10 |
Diese Rechtsprechung wird von einem erheblichen Teil der Lehre im Wesentlichen unter Hinweis auf die statistisch gesehen geringe Wahrscheinlichkeit der Übertragung des HI-Virus durch ungeschützte Sexualkontakte mit verschiedenen Argumenten abgelehnt (siehe z.B. GUIDO JENNY, Basler Kommentar, StGB I, 2003, Art. 18 N. 49; derselbe, ZBJV 136/2000 S. 641 ff.; HANS VEST, Vorsatz bezüglich der Übertragung des HI-Virus durch ungeschützte heterosexuelle Sexualkontakte, AJP 2000 S. 1168 ff.; GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II, 5. Aufl. 2000, § 31 N. 6; derselbe, [Deutsches] Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2000, § 8 N. 126; wohl auch FRIDOLIN BEGLINGER, Basler Kommentar, StGB II, 2003, Art. 231 N. 45).
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An der Rechtsprechung ist trotz dieser Kritik festzuhalten. Das Bundesgericht hat in seinen Erwägungen zum Eventualvorsatz in BGE 125 IV 242 E. 3c-h am Rande darauf hingewiesen, dass die Infektionswahrscheinlichkeit durch ungeschützte Sexualkontakte statistisch gesehen allerdings gering sei und sich im Promille-Bereich bewege; nur ein ungeschützter Geschlechtsverkehr von ca. 300 ![]() | 12 |
2.3 Ergänzend ist festzuhalten, dass die in BGE 125 IV 242 erwähnte statistische Infektionswahrscheinlichkeit von 0.3 % eine mittlere Übertragungswahrscheinlichkeit je Sexualkontakt bei Vaginalverkehr in einer länger dauernden Partnerschaft darstellt. Nach neueren Erkenntnissen ist indessen die Wahrscheinlichkeit der Übertragung bei den ersten Sexualkontakten höher, während sie später sinkt, möglicherweise zurückzuführen auf eine zelluläre Immunantwort. So zeigten Studien über sich prostituierende Frauen in Kenya und in Thailand eine Übertragungsrate auf Freier beim ersten Sexualkontakt von 2-8 % (siehe zum Ganzen BEGLINGER, a.a.O., Art. 231 StGB N. 23 mit Hinweis u.a. auf PIETRO VERNAZZA et al., Sexual transmission of HIV: infectiousness and prevention, in: AIDS 1999, Bd. 13, S. 157). Zudem ergab eine retrospektive Erhebung, dass bei künstlicher Befruchtung mit Samen, die sich nachträglich als kontaminiert erwiesen, 3.5 % der Frauen angesteckt wurden (siehe VERNAZZA, a.a.O., S. 156 f.). Dies also unter gleichsam klinischen Bedingungen und bei Fehlen von Faktoren, die beim Geschlechtsverkehr hinzukommen und die Infektiosität erhöhen können. Die Übertragungswahrscheinlichkeit scheint ![]() | 13 |
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3.1 Es ist zunächst klarzustellen, dass sich eine Einwilligung beim vorsätzlichen Verletzungsdelikt, hier die schwere Körperverletzung, nicht nur auf die Tathandlung, sondern auch auf den Verletzungserfolg beziehen müsste (PHILIPPE WEISSENBERGER, Die Einwilligung des Verletzten bei den Delikten gegen Leib und Leben, Diss. ![]() | 16 |
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Blosse Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung liegt vor, wenn der Rechtsgutträger sich bewusst und freiverantwortlich einer bestimmten Gefahr für seine Rechtsgüter aussetzt und das Tatgeschehen derart beherrscht, dass er darin jederzeit und bis zuletzt steuernd einzugreifen vermag (BGE 125 IV 189 E. 3a; WEISSENBERGER, a.a.O., S. 105). Einverständliche Fremdgefährdung ist demgegenüber gegeben, wenn die Geschehensherrschaft nicht mehr beim Rechtsgutträger liegt, sondern sich dieser einer unübersehbaren Entwicklung ausliefert, in welche er nicht mehr eingreifen oder die ![]() | 18 |
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Demgegenüber ist die einverständliche Fremdgefährdung grundsätzlich strafbar; doch kann unter gewissen Umständen Straflosigkeit in Betracht fallen, wobei die Voraussetzungen hiefür im Einzelnen umstritten sind (siehe WEISSENBERGER, a.a.O., S. 114 ff.).
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3.4 B., welcher mit dem Beschwerdeführer mehrfach sexuell verkehrte, wusste zwar nicht von Anbeginn an, aber ab einem späteren Zeitpunkt, dass der Beschwerdeführer Träger des HI-Virus ist. Dennoch kam es weiterhin zu ungeschützten sexuellen Kontakten. Dem angefochtenen Urteil lässt sich nicht entnehmen, dass B. unter Zwang gehandelt oder nicht überblickt hätte, worauf er sich bei diesen ungeschützten Kontakten einliess. Ist demnach davon ![]() | 21 |
In der Lehre ist umstritten, ob der ungeschützte Sexualkontakt einer HIV-infizierten Person mit einem freiverantwortlich handelnden, informierten Partner als Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung oder als einverständliche Fremdgefährdung zu qualifizieren ist (für Selbstgefährdung: KARL-LUDWIG KUNZ, Aids und Strafrecht: Die Strafbarkeit der HIV-Infektion nach schweizerischem Recht, ZStrR 107/1990 S. 39 ff., 54; WEISSENBERGER, a.a.O., S. 113 f.; SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER, a.a.O., N. 107 vor § 32; für Fremdgefährdung: ROXIN, a.a.O., § 11 N. 108 S. 344, mit zahlreichen Hinweisen in den Anmerkungen 207 und 208 auf die verschiedenen Lehrmeinungen). Bei Sexualkontakten kommt die Herrschaft über das Geschehen grundsätzlich beiden Beteiligten zu. Sie haben es jederzeit in der Hand, noch rechtzeitig abzubrechen oder aber ein Kondom zu benützen bzw. darauf zu beharren, dass der Partner dieses verwendet. Die gegenteilige Auffassung, welche darauf abstellt, dass die Gefährdung ausschliesslich vom Infizierten ausgehe und der Partner sich dieser lediglich aussetze, verkennt den entscheidenden Gesichtspunkt, dass nämlich die Geschehensherrschaft bei beiden Beteiligten liegt. In diesem Fall aber ist noch immer Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung gegeben (oben E. 3.2). Im Übrigen mag darauf hingewiesen werden, dass auch ROXIN Straflosigkeit annimmt, weil er die einvernehmliche Fremdgefährdung der Mitwirkung an Selbstgefährdung gleichstellt, wenn der Schaden Folge des eingegangenen Risikos und nicht hinzukommender anderer Fehler ist und der Gefährdete für das gemeinsame Tun dieselbe Verantwortung trägt wie der Gefährdende (ROXIN, a.a.O., § 11 N. 107 f.).
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Bezüglich des Schuldspruchs auch für die ungeschützten Sexualkontakte mit B. in der Zeit, in welcher dieser über die Infektion des Beschwerdeführers aufgeklärt war, erweist sich die Nichtigkeitsbeschwerde demnach als begründet.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts "verbreitet" im Sinne von Art. 231 StGB eine Krankheit, wer als HIV-infizierte ![]() | 25 |
5. Die Nichtigkeitsbeschwerde erweist sich damit teilweise als begründet, d.h. bezüglich der Verurteilung wegen versuchter mehrfacher schwerer Körperverletzung zum Nachteil von B., soweit dieser über die HIV-Positivität des Beschwerdeführers informiert war. Das hat zur Folge, dass die Vorinstanz die Strafe neu zumessen muss, weshalb eine Prüfung der ebenfalls beanstandeten Strafzumessung unterbleiben kann.
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