![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
6. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Staats-anwaltschaft des Kantons Luzern (Nichtigkeitsbeschwerde) |
6S.58/2004 vom 22. Dezember 2004 | |
Regeste |
Vereitelung einer Blutprobe (Art. 91 Abs. 3 SVG); Verbot des Selbstbelastungszwangs (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II über bürgerliche und politische Rechte). | |
Sachverhalt | |
![]() ![]() | 1 |
Das Obergericht des Kantons Luzern sprach X. am 2. September 2003 in Bestätigung des Entscheids des Amtsgerichts Sursee vom 4. April 2003 des ungenügenden Rechtsfahrens mit Personenwagen (Art. 34 Abs. 1 SVG), des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall mit Fremdschaden (Art. 51 Abs. 1 und 3 SVG) und der Vereitelung einer Blutprobe (Art. 91 Abs. 3 SVG) schuldig. Es bestrafte ihn in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1, Art. 91 Abs. 3 und Art. 92 Abs. 1 SVG mit fünf Wochen Gefängnis, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von fünf Jahren, und 1'500 Franken Busse.
| 2 |
X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei in Bezug auf den Schuldspruch wegen Vereitelung einer Blutprobe (Art. 91 Abs. 3 SVG) sowie im Straf- und Kostenpunkt aufzuheben. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
| 3 |
Aus den Erwägungen: | |
1. Der Beschwerdeführer ficht allein seine Verurteilung wegen Vereitelung einer Blutprobe (Art. 91 Abs. 3 SVG) an. Er macht einzig geltend, diese verstosse gegen das Verbot des Selbstbelastungszwangs und damit gegen Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II über bürgerliche und politische Rechte (SR 0.103.2), Art. 6 Ziff. 1 und 2 EMRK sowie Art. 32 Abs. 1 BV. Aus diesen Normen ergebe sich, dass niemand verpflichtet sei, sich im Rahmen eines ![]() | 4 |
5 | |
6 | |
Die Verletzung dieser Verhaltenspflichten nach einem Unfall erfüllt, sowohl bei Vorsatz wie auch bei Fahrlässigkeit, den Tatbestand des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall im Sinne von Art. 92 SVG. Sie kann bei vorsätzlichem Handeln zudem, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen, den Tatbestand der Vereitelung einer Blutprobe im Sinne von Art. 91 Abs. 3 SVG erfüllen.
| 7 |
2.2 Gemäss Art. 91 Abs. 3 aSVG wurde bestraft, wer sich vorsätzlich einer amtlich angeordneten Blutprobe oder einer zusätzlichen ärztlichen Untersuchung widersetzte oder entzog oder den Zweck dieser Massnahmen vereitelte. Die Rechtsprechung hat diese Bestimmung unter Hinweis auf deren Sinn und Zweck auch auf Fälle angewandt, in denen eine Blutprobe zwar noch nicht amtlich angeordnet worden war, der Fahrzeuglenker aber mit der Anordnung einer Blutprobe - als reale Wahrscheinlichkeit - rechnete oder rechnen musste (BGE 90 IV 94; BGE 95 IV 144; BGE 106 IV 396, mit ![]() | 8 |
9 | |
![]() | 10 |
11 | |
12 | |
(...)
| 13 |
Erwägung 3 | |
3.1 Als allgemeiner, bisher aus Art. 4 aBV abgeleiteter Grundsatz des Strafprozessrechts ist anerkannt, dass niemand gehalten ist, zu seiner Belastung beizutragen. Der in einem Strafverfahren Beschuldigte ist demnach nicht zur Aussage verpflichtet. Vielmehr ist er auf Grund seines Aussageverweigerungsrechts berechtigt zu schweigen, ohne dass ihm daraus Nachteile erwachsen dürfen. Eine ausdrückliche Garantie, dass der Beschuldigte nicht gezwungen werden darf, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, enthält Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II. Ferner leiten ![]() | 14 |
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) gehören das Recht, zu schweigen, und das Recht, nicht zu seiner eigenen Verurteilung beitragen zu müssen, zu den allgemein anerkannten internationalen Normen und zum Kern des fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Aus dem Recht des Angeklagten, nicht zu seiner eigenen Verurteilung beitragen zu müssen, ergibt sich insbesondere, dass die Behörden ihre Anklage führen, ohne auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwang oder Druck in Missachtung des Willens des Angeklagten erlangt worden sind. Diese Garantien schützen den Angeklagten vor missbräuchlichem Zwang seitens der Behörden und dienen der Vermeidung von Justizirrtümern sowie der Zielsetzung von Art. 6 EMRK (Urteil des EGMR i.S. J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96; Recueil CourEDH 2001-III S. 455; VPB 65/2001 Nr. 128 S. 1336, Ziff. 64). Der EGMR kam im zitierten Entscheid abweichend vom angefochtenen BGE 121 II 273 zum Ergebnis, es verstosse gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK, den Steuerpflichtigen im Hinterziehungsverfahren mit Bussen zu zwingen, Belege über hinterzogene Beträge vorzulegen. Zwar habe das Bundesgericht in BGE 121 II 273 auf verschiedene strafrechtliche Bestimmungen hingewiesen, welche eine Person verpflichteten, in gewisser Weise zu ihrer eigenen Verurteilung beizutragen, beispielsweise ihr Fahrzeug mit einem Fahrtenschreiber auszurüsten oder sich einer Blut- oder Urinprobe zu unterziehen. Indessen unterschieden sich die Informationen in der zu beurteilenden Steuersache von Tatsachen, die unabhängig vom Willen der betroffenen Person existierten (Ziff. 68). Der EGMR verwies in diesem Zusammenhang auf sein Urteil i.S. Saunders gegen Grossbritannien vom 17. Dezember 1996 (Recueil CourEDH 1996-VI S. 2044). Darin wird ausgeführt, das Recht, nicht zu seiner eigenen Verurteilung beitragen zu müssen, betreffe in erster Linie das Schweigerecht. Dieses erstrecke sich nicht auf die Verwertung von Tatsachen, die unabhängig vom Willen des Verdächtigen existierten, wie Atemluft-, Blut- und Urinproben oder Gewebeproben zum Zwecke einer DNA-Untersuchung. In einem anderen Entscheid erachtete der EGMR eine Bestrafung wegen Einreichens einer falschen Steuerdeklaration als unbedenklich (Urteil i.S. ![]() | 15 |
Im Einzelnen ist allerdings die Tragweite des nemo-tenetur-Prinzips in Bezug auf passive und aktive Verhaltenspflichten umstritten, insbesondere auch bezüglich Handlungspflichten, etwa Informationspflichten gegenüber irgendwelchen Behörden oder Privatpersonen, die sich mittelbar selbstbelastend auswirken können (siehe zum Ganzen TORSTEN VERREL, Nemo tenetur - Rekonstruktion eines Verfahrensgrundsatzes, Neue Zeitschrift für Strafrecht [NStZ] 1997 S. 361 ff., 415 ff.; RUDOLF MÜLLER, Neue Ermittlungsmethoden und das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung, EuGRZ 2002 S. 546 ff.; REGULA SCHLAURI, Das Verbot des Selbstbelastungszwangs im Strafverfahren, Zürich 2003, S. 112 ff., 169 ff.).
| 16 |
17 | |
Erwägung 3.3 | |
3.3.1 Soweit Verhaltenspflichten eines Fahrzeuglenkers bei Unfall lediglich gegenüber den übrigen Unfallbeteiligten und den ![]() | 18 |
19 | |
3.3.3 Der Fahrzeuglenker, der die genannten Verhaltenspflichten verletzt, wird zudem wegen Vereitelung einer Blutprobe gemäss Art. 91 Abs. 3 SVG bestraft, wenn sehr wahrscheinlich eine Blutprobe angeordnet worden wäre und er durch sein Verhalten diese Blutprobe eventualvorsätzlich vereitelt hat. Durch den Tatbestand der Vereitelung einer Blutprobe werden keinerlei Verhaltenspflichten bei Unfall begründet, die nicht ohnehin schon auf Grund des Gesetzes bestehen (siehe BGE 115 IV 51 E. 4c; BGE 124 IV 175 E. 4a). Da bei einem Ereignis ohne Drittschaden nach dem Gesetz keine Verhaltenspflichten bestehen, welche der Feststellung der Identität des Fahrzeuglenkers und der Abklärung des Sachverhalts dienen, fällt - unter dem Vorbehalt des untauglichen Versuchs (vgl. BGE 126 IV 53) - auch eine Verurteilung wegen Vereitelung einer Blutprobe ausser Betracht, selbst wenn das Ereignis den dringenden Verdacht auf Alkoholisierung begründet (siehe dazu BGE 114 IV 154; BGE 124 IV 175 E. 4a). Der Fahrzeuglenker ist nicht wegen eines ![]() | 20 |
Gerade auch mit Rücksicht auf das nemo-tenetur-Prinzip kann der Fahrzeuglenker nicht verpflichtet werden, etwa einen Selbstunfall ohne Drittschaden wegen des durch den Selbstunfall begründeten dringenden Verdachts auf Alkoholisierung der Polizei zu melden. Voraussetzung ist in jedem Fall der Eintritt eines Drittschadens, der die im Gesetz genannten Verhaltenspflichten begründet. Soweit diese Pflichten nicht gegen den nemo-tenetur-Grundsatz verstossen, ist eine Bestrafung wegen ihrer Missachtung zulässig. Die Frage, ob die Verletzung dieser Verhaltenspflichten allein gemäss Art. 92 SVG oder auch, bei hoher Wahrscheinlichkeit der Blutprobe, nach Art. 91 Abs. 3 SVG strafbar ist, berührt den nemo-tenetur-Grundsatz nicht.
| 21 |
Erwägung 3.4 | |
3.4.1 Der vorliegende Fall einer Streifkollision zwischen zwei am Verkehr teilnehmenden Fahrzeuglenkern fällt entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht unter den Anwendungsbereich von Art. 51 Abs. 3 SVG, wonach der Schädiger sofort den Geschädigten benachrichtigen und Namen und Adresse angeben und, wenn dies nicht möglich ist, unverzüglich die Polizei verständigen muss. Diese Bestimmung betrifft die Fälle, in denen der Geschädigte nicht als Verkehrsteilnehmer am Unfall mitbeteiligt ist (siehe RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des Schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2002, N. 1005). Der vorliegende Sachverhalt fällt unter den Anwendungsbereich von Art. 51 Abs. 1 SVG und Art. 56 Abs. 2 VRV. Der Beschwerdeführer war verpflichtet, sofort anzuhalten. Er konnte in der Folge eine gütliche Einigung mit dem Unfallbeteiligten anstreben. Da niemand verletzt worden war, war der Beizug der Polizei nicht obligatorisch. Der Unfallbeteiligte konnte aber, obwohl keine Pflicht zur Meldung an die Polizei bestand, aus irgendwelchen Gründen den Beizug der Polizei verlangen, und zwar unabhängig von einer allfälligen Alkoholisierung des Beschwerdeführers sowie auch dann, wenn dieser seine alleinige Schuld an der Streifkollision anerkannt hätte. Wenn der Unfallbeteiligte den Beizug der Polizei verlangt hätte, wäre der Beschwerdeführer gemäss Art. 56 Abs. 2 VRV verpflichtet gewesen, bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken, bis er von der Polizei entlassen worden wäre. Für den Beschwerdeführer bestand ![]() | 22 |
23 | |
Erwägung 3.5 | |
24 | |
![]() | 25 |
3.5.3 Entsprechendes gilt im Übrigen auch für die in Art. 51 Abs. 3 SVG festgelegte Meldepflicht. Wenn der Geschädigte nicht als Unfallbeteiligter an der Unfallstelle anwesend ist, muss der Fahrzeuglenker ihn sofort benachrichtigen und, wenn dies nicht möglich ist, unverzüglich die Polizei verständigen. Auch diese Pflichten und die Strafbarkeit ihrer Missachtung sind mit Rücksicht auf die berechtigten Interessen der Geschädigten an der möglichst raschen und zuverlässigen Beweissicherung und Feststellung der für ihre zivilrechtlichen Ansprüche relevanten Tatsachen gerechtfertigt. Hat eine Meldung an die Polizei zu erfolgen, weil der Geschädigte nicht benachrichtigt werden kann oder aus irgendwelchen Gründen den Beizug der Polizei verlangt, so muss der Fahrzeuglenker die polizeilichen Abklärungen, unter anderem betreffend seine allfällige Alkoholisierung bei Verdacht auf Angetrunkenheit, dulden, auch wenn sie im konkreten Einzelfall für die zivilrechtlichen Ansprüche des Geschädigten nicht relevant sind. Diese Duldungspflicht verstösst nicht gegen das nemo-tenetur-Prinzip. Entscheidend ist ![]() | 26 |
27 | |
28 | |
4. Die Verurteilung wegen Vereitelung einer Blutprobe gemäss Art. 91 Abs. 3 SVG läuft entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht auf eine gegen die Unschuldsvermutung verstossende Verdachtsstrafe hinaus. Der Fahrzeuglenker wird nicht bestraft, weil der Verdacht besteht, dass er angetrunken war. Er wird vielmehr bestraft, weil er eine Blutprobe, die amtlich angeordnet wurde oder nach den massgebenden Umständen sehr wahrscheinlich angeordnet worden wäre, vorsätzlich vereitelte. Art. 91 Abs. 3 SVG schützt die Blutprobe, mithin das wichtigste und zuverlässigste Beweismittel zur Abklärung einer allfälligen Alkoholisierung von Fahrzeuglenkern.
| 29 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |