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14. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) |
6S.361/2004 vom 3. Mai 2005 | |
Regeste |
Art. 189 Abs. 1 StGB; sexuelle Nötigung; unter psychischen Druck setzen mittels struktureller Gewalt. | |
Sachverhalt | |
1 | |
B. Das Obergericht des Kantons Bern (1. Strafkammer) stellte mit Urteil vom 1. April 2004 fest, dass das Urteil des Kreisgerichts IX Schwarzenburg-Seftigen vom 18. Juli 2003 unter anderem insoweit in Rechtskraft erwachsen ist, als X.
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(I/1) freigesprochen wurde von den Anschuldigungen der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern z.N. von B. (in der Zeit von anfangs 1990 bis 28. November 1990) und F. (in der Zeit von 1997 bis 17. März 1999) sowie
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(I/2) schuldig erklärt wurde der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern z.N. von C. (in der Zeit von Sommer 1992 bis 18. November 1993) und E. (in der Zeit von November/Dezember 2000 bis 3. Januar 2001).
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(II/1) der mehrfachen sexuellen Nötigung z.N. von
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a) A. (geb. 1970; in der Zeit von 1984 bis 18. Dezember 1992);
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b) B. (geb. 1974; in der Zeit von 1991 bis ca. 1996);
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c) C. (geb. 1977; in der Zeit von Sommer 1992 bis ca. Herbst 1994);
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d) D. (geb. 1980; in der Zeit von 1995 bis Ende 1998);
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e) E. (geb. 1985; in der Zeit von November/Dezember 2000 bis März 2001);
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(II/2) der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Abhängigen z.N. von F. (in der Zeit von Sommer 1999 bis 17. März 2001);
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(II/3) der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern z.N. von A. (in der Zeit von 1984 bis 18. Dezember 1986) und D. (in der Zeit von 1995 bis 27. September 1996).
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Es verurteilte ihn zu 6 Jahren Zuchthaus, abzüglich 48 Tage Untersuchungshaft, und ordnete eine ambulante psychotherapeutische Behandlung an, solange es die Vollzugsbehörde als notwendig erachtet (II/4).
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C. X. erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem sinngemässen Antrag, das Urteil des Obergerichts (Ziff. II/1 und II/4 des Dispositivs) aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die kantonale Behörde zurückzuweisen.
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Das Obergericht des Kantons Bern verzichtet auf Gegenbemerkungen.
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Aus den Erwägungen: | |
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In BGE 124 IV 154 wurde eine sexuelle Nötigung bejaht, weil ein rund zehnjähriges Kind, das in dieser Sache ohne familiären oder ausserfamiliären Halt und Schutz auf sich selbst gestellt war, aufgrund der mit der Vaterfunktion des Täters, dem Schweigeversprechen und seinen Schuldgefühlen einhergehenden Tabuisierung in eine ausweglose Situation getrieben worden war. Der Verurteilung in BGE 126 IV 124 lag zu Grunde, dass der Ehemann durch ein an Psychoterror grenzendes Drangsalieren der achtzehnjährigen, unsicheren und verletzlichen Ehefrau eine Zwangssituation geschaffen hatte. BGE 128 IV 97 bestätigte Schuldsprüche einer Lehrperson mit einer ähnlichen Begründung wie BGE 124 IV 154 sowie aufgrund des Ausgeliefertseins des Opfers. In BGE 128 IV 106 wurde eine sexuelle Nötigung im Rahmen einer therapiebedingten Abhängigkeit des erwachsenen Opfers verneint.
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2.3 Diese Rechtsprechung ist kritisiert worden (vgl. BGE 128 IV 97 E. 2b/bb und cc zur Kritik von GUIDO JENNY, Die strafrechtliche ![]() | 21 |
2.4 Der Kassationshof verwendet den Begriff der strukturellen Gewalt zur Beschreibung einer der möglichen Tatvarianten der psychischen Nötigung mittels Instrumentalisierung sozialer Verhältnisse durch den Täter. Dabei setzt dieser die strukturellen (auch funktionellen oder institutionellen) Verhältnisse als Nötigungsmittel für seine sexuellen Ziele ein. Vorausgesetzt wird dabei eine "Instrumentalisierung" struktureller Gewalt, das heisst, dass die vorgefundene oder vom Täter geschaffene soziale Situation als Druckmittel eingesetzt wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Täter - ohne physische Gewalt anzuwenden oder zu drohen - in seiner Funktion als Erzieher mit den ihm zur Verfügung stehenden Erziehungsmitteln und Machtbefugnissen das Opfer in die Enge treibt, so dass es kapitulieren muss. Das Opfer hat Angst vor der Unnachgiebigkeit oder Strenge des Erziehers oder fürchtet um den Verlust seiner Zuneigung, es sieht sich ohne dessen Hilfe für verloren oder fürchtet sich vor den Konsequenzen einer Verweigerung oder ist physisch und psychisch so erschöpft, dass es sich nicht widersetzen kann (vgl. BGE 128 IV 106 E. 3a/bb sowie JÖRG Rehberg/Niklaus Schmid/Andreas Donatsch, Strafrecht III, 8. Aufl., Zürich 2003, S. 423 f.). Hier wird das Erziehungsverhältnis als ![]() | 22 |
In dieser Rechtsprechung wird berücksichtigt, dass eine sexuelle Nötigung um so wirksamer ist, je empfindlicher, wehr- und hilfloser insbesondere abhängige, verletzliche oder traumatisierte Opfer einem solchen Angriff ausgesetzt sind. Es hiesse, solchen Menschen einen geringeren strafrechtlichen Schutz zuzugestehen, würde dieser besonderen Verletzlichkeit, die der Täter gerade in seinen Tatplan einbezieht, bei der Beurteilung des Vorliegens einer psychischen Nötigung nicht Rechnung getragen. Es ist aber wie bei der physischen Gewalt und Drohung immer eine erhebliche Einwirkung auf die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung erforderlich (vgl. BGE 128 IV 97 E. 2b/aa S. 100 f., BGE 128 IV 106 E. 3a/bb; BGE 126 IV 124 E. 3a und c; BGE 124 IV 154 E. 3b S. 160; BGE 122 IV 97 E. 2b S. 101).
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Der Begriff der Instrumentalisierung struktureller Gewalt darf somit nicht als Ausnützung vorbestehender gesellschaftlicher oder privater Machtverhältnisse missverstanden werden. Auf diese Gefahr weisen JENNY (a.a.O.) sowie MAIER (a.a.O., Art. 189 StGB N. 10) in ihrer Kritik hin. Die blosse Ausnützung ist keine Nötigung, und eine tatsächlich bestehende strukturelle Gewalt ist als solche noch keine zurechenbare Nötigungshandlung. Es muss für die Erfüllung des Tatbestands durch den Täter eine "tatsituative Zwangssituation" (MAIER, a.a.O., Art. 189 StGB N. 9) nachgewiesen sein. Das bedeutet nicht, dass der Täter diese jedes Mal wieder auf die gleiche Weise neu entstehen lassen muss. Es genügt, wenn ![]() | 24 |
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Mit diesen Ausführungen zur psychischen Prädisposition und sozialen wie emotionalen Abhängigkeit beschreibt die Vorinstanz indessen nur die sozialpsychologische Situation. Die für die sexuelle Nötigung vorausgesetzte und vom Täter kausal zu erzeugende Zwangssituation lässt sich dieser Begründung nicht entnehmen. Erforderlich ist überdies, dass das Opfer die sexuellen Handlungen ablehnt und sein Widerstand durch den Täter überwunden wird. Das ist aber nicht der Fall, wenn beispielsweise C. erklärt, er sei auf das Angebot wegen des Geldes eingestiegen, er habe immer die Möglichkeit der Selbstbestimmung gehabt und der Beschwerdeführer habe ihn nicht unter Druck gesetzt. Die Vorinstanz müsste begründen, weshalb sie trotz solcher Aussagen eine Nötigung annimmt und worin diese besteht. Eine Nötigungssituation im Sinne des Unter-psychischen-Druck-Setzens mittels instrumentalisierter strukturellen Gewalt ergibt sich nicht bereits aus der Unterlegenheit und Abhängigkeit von C. vom Beschwerdeführer sowie den Stichworten "emotional abhängig - Vaterfigur und Mentor". Die weiteren Schuldsprüche wegen sexueller ![]() | 26 |
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Der Kassationshof weist gegebenenfalls von Amtes wegen auf eine Verjährungsproblematik hin (vgl. BGE 128 IV 106 E. 3e/bb). Im BGE 131 IV 83 wurde die Rechtsfigur der verjährungsrechtlichen Einheit aufgegeben. Neben den Dauerdelikten sind daher mehrere tatsächliche Handlungen nur noch unter bestimmten Voraussetzungen der tatbestandlichen und der natürlichen Handlungseinheit als Einheit zu qualifizieren. Abgesehen von diesen Konstellationen ist der Lauf der Verjährung für jede Tat gesondert zu beurteilen (BGE 131 IV 83 E. 2.4.5). Diese Rechtsprechung wirkt sich auch auf das Sexualstrafrecht aus (vgl. BGE 120 IV 6). Die Vorinstanz wird deshalb bei der Neubeurteilung diese neue verjährungsrechtliche Rechtsprechung zu berücksichtigen haben. Auf die in der Sache nicht angefochtenen Schuldsprüche hat sie indessen auch unter verjährungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zurückzukommen.
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