BGE 132 IV 70 | |||
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10. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) |
6S.46/2005 vom 2. Februar 2006 | |
Regeste |
Art. 9 BÜPF; Verwertbarkeit von Zufallsfunden. | |
Sachverhalt | |
Im Jahre 1983 begingen X. und Y. (der damals noch Z. hiess) einen bewaffneten Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft. Nach seiner Entlassung aus dem Vollzug mehrerer Strafen rief X. seinen ehemaligen Komplizen an und forderte ihn auf, den ihm zustehenden Beuteanteil am nächsten Mittwoch, 21. August 2002, ins Restaurant Anker zu bringen, sonst werde er ihn aufsuchen. Am Mittwoch teilte Y. X. telefonisch mit, dass er nicht kommen werde und das Geld nicht habe. Daraufhin erwiderte X., das sei schlecht, ganz schlecht, und wiederholte seine Ankündigung, er werde ihn zu Hause aufsuchen.
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Am 21. September 2002 kam es zwischen X. und A. zum Streit, der in einer körperlichen Auseinandersetzung endete. Dabei verletzte X. seinen Kontrahenten mit einem aufgeklappten Messer am Daumen.
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Mit zweitinstanzlichem Urteil vom 29. Oktober 2004 sprach das Obergericht des Kantons Zürich X. der einfachen Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in Verbindung mit dessen Ziff. 2 Abs. 1) sowie der versuchten Erpressung (Art. 156 Ziff. 1 StGB in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 StGB) schuldig. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten und nahm davon Vormerk, dass die Strafe durch Haft bereits vollständig erstanden ist. Es ordnete seine Verwahrung gestützt auf Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB an.
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X. und sein Verteidiger erhoben dagegen, je mit eigener Begründung, kantonale Nichtigkeitsbeschwerde, welche das Kassationsgericht des Kantons Zürich mit Sitzungsbeschluss vom 3. Oktober 2005 abwies, soweit es auf sie eintrat.
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Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragen sowohl X. (mit Eingabe vom 29. Oktober 2005) als auch sein Vertreter (mit Eingabe vom 4. November 2005), den Beschluss des Kassationsgerichts des Kantons Zürich aufzuheben. Der Parteivertreter führt überdies eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 29. Oktober 2004 aufzuheben.
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Aus den Erwägungen: | |
II. Nichtigkeitsbeschwerde
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Erwägung 6 | |
6.1 Mit Nichtigkeitsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 9 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 6. Ok tober 2000 betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF; SR 780.1, in Kraft seit dem 1. Januar 2002) in Verbindung mit Art. 3 BÜPF. Er macht geltend, der Schuldspruch wegen vollendeten Erpressungsversuchs sowie die psychiatrische Begutachtung stützten sich auf die Abhörprotokolle der Telefonüberwachung, die im Rahmen des eingestellten Strafverfahrens wegen Verdachts auf strafbare Vorbereitungshandlungen angeordnet worden seien. Als Zufallsfunde seien die Telefonprotokolle unverwertbar, weil ihm im Zeitpunkt der Überwachungsanordnung der Vorwurf der versuchten Erpressung noch nicht zur Last gelegt worden sei.
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Die Vorinstanz erwägt, Zufallsfunde aus bewilligter Telefonüberwachung, die andere strafbare Handlungen als die in der Bewilligung aufgeführten betreffen, dürften ohne Einholung einer erneuten Zustimmung der Genehmigungsbehörden verwendet werden, wenn die Voraussetzungen nach Art. 3 BÜPF für jene Straftaten erfüllt seien. Der Tatbestand der Erpressung falle unter den Katalog der bewilligungsfähigen Straftaten, weshalb die Telefonprotokolle rechtmässig bei den Akten lägen und verwertbar seien.
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Erwägung 6.2 | |
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Vorliegend wurde die Telefonüberwachung angeordnet wegen Verdachts auf strafbare Vorbereitungshandlungen (Art. 260bis StGB), die zu den überwachungsfähigen Straftaten im Sinne von Art. 3 Abs. 2 lit. a BÜPF zählen, und als rechtmässig genehmigt. Der Tatverdacht hat sich in der Folge nicht erhärtet, und die Strafuntersuchung wurde diesbezüglich eingestellt. Anlässlich der Überwachung ergaben sich zufällig erfasste Hinweise auf den später eingeklagten Vorwurf des Erpressungsversuchs. Auch der Tatbestand der Erpressung (Art. 156 StGB) gehört zu den Delikten, zu deren Verfolgung eine Überwachung zulässig ist (Art. 3 Abs. 2 lit. a BÜPF).
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6.2.2 Die Verwertbarkeit von Zufallsfunden regelt Art. 9 BÜPF. Dessen Abs. 1 bestimmt: "Werden durch die Überwachung andere strafbare Handlungen als die in der Überwachungsanordnung aufgeführten bekannt, so können die Erkenntnisse gegen die verdächtigte Person verwendet werden, wenn diese Straftaten zusätzlich zur vermuteten Straftat begangen werden (lit. a) oder die Voraussetzungen für eine Überwachung nach diesem Gesetz erfüllen (lit. b)". Nach Art. 9 Abs. 1 lit. a BÜPF können zufällig erfasste Hinweise ohne weiteres verwendet werden, wenn die ursprünglich vermutete Haupttat nachgewiesen ist. Erweist sich hingegen nachträglich, dass die Straftat nicht bewiesen werden kann, so ist für die Verwertbarkeit von Zufallsfunden gemäss Art. 9 Abs. 1 lit. b BÜPF erforderlich, dass die neu entdeckten Straftaten ihrerseits die materiellen Voraussetzungen für eine Überwachung erfüllen (vgl. nur NIKLAUS SCHMID, Verwertung von Zufallsfunden sowie Verwertungsverbote nach dem neuen Bundesgesetz über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, ZStrR 120/2002 S. 290 ff.). In Art. 9 Abs. 2 BÜPF wird sodann geregelt, wie zu verfahren ist, wenn die erfassten Zufallsfunde Dritte betreffen. Sind die Voraussetzungen nach Art. 9 Abs. 1 und 2 BÜPF nicht gegeben, so dürfen die Informationen nicht verwendet und es müssen die betreffenden Dokumente und Datenträger umgehend vernichtet werden (Art. 9 Abs. 3 BÜPF).
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Da die Strafuntersuchung hinsichtlich des Verdachts auf strafbare Vorbereitungshandlungen eingestellt wurde, beurteilt sich die Verwertbarkeit der fraglichen Telefonprotokolle nach Art. 9 Abs. 1 lit. b BÜPF. Der darin enthaltene Verweis auf "die Voraussetzungen für eine Überwachung nach diesem Gesetz" weist auf Art. 3 BÜPF ("Voraussetzungen") zurück.
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Der Beschwerdeführer stützt seine Ansicht auf die in der Rechtskommission des Ständerates vertretene Auffassung, wonach für die Verwertbarkeit von Zufallsfunden sämtliche Voraussetzungen von Art. 3 BÜPF erfüllt sein müssten, bzw. auf eine entsprechende Literaturstelle (NIKLAUS RUCKSTUHL, Technische Überwachungen aus anwaltlicher Sicht, AJP 2005 S. 155). Ferner beruft er sich auf eine Lehrmeinung, welche de lege ferenda ein alternatives Verwertungsmodell postuliert (JUDITH NATTERER, Die Verwertbarkeit von Zufallsfunden aus der Telefonüberwachung im Strafverfahren, Diss. Basel 2001, S. 155 ff. und 158).
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Die überwiegende Lehre lehnt das Erfordernis eines vorbestehenden Tatverdachts ab (PETER GOLDSCHMID, Der Einsatz technischer Überwachungsgeräte im Strafprozess, Diss. Bern 2001, S. 211 ff.; THOMAS HANSJAKOB, BÜPF/VÜPF: Kommentar zum Bundesgesetz und zur Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, St. Gallen 2002, S. 207; DAVID HÜPPI, Zufallsfunde aus genehmigten Telefonüberwachungen, SJZ 86/1990 S. 394 ff.; MARC JEAN-RICHARD-DIT-BRESSEL, Ist ein Millionendiebstahl ein Bagatelldelikt?, ZStrR 119/2001 S. 53 f.; NATTERER, a.a.O., S. 116 [de lege lata]; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl., Bern 2005, Rz. 1318; ders., Das neue Bundesgesetz über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs [BÜPF], Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung in Graubünden [ZGRG] 2002 S. 13 f.; SCHMID, a.a.O., S. 292 ff.).
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6.4 Der generelle Verweis in Art. 9 Abs. 1 lit. b BÜPF lässt offen, welche der in Art. 3 BÜPF genannten Voraussetzungen im Einzelnen erfüllt sein müssen. Der Wortlaut scheint zunächst zu verlangen, dass auch bei Zufallsfunden das Erfordernis des dringenden Tatverdachts nach Art. 3 Abs. 1 lit. a BÜPF gilt. Der Entwurf des Bundesrates (Art. 7 Abs. 4) sah demgegenüber noch eine gezielte Verweisung vor und bezeichnete ausdrücklich nur die Anforderungen an die Straftat als massgeblich (Botschaft des Bundesrates vom 1. Juli 1998, BBl 1998 S. 4310). In der Botschaft heisst es dazu, die beiden anderen genannten Voraussetzungen - dringender Tatverdacht und Subsidiarität - würden durch den Zufallsfund obsolet, da dieser den dringenden Tatverdacht begründe und weitere Untersuchungshandlungen auslöse (BBl 1998 S. 4273). Der bundesrätliche Entwurf wurde durch die Rechtskommission des Nationalrates überarbeitet, die hierfür eine Subkommission einsetzte (AB 1999 N 2602). Der Wortlaut des geltenden Art. 9 BÜPF geht auf deren Entwurf bzw. eine redaktionelle Änderung des Ständerates zurück (AB 2000 S 403). Die Frage, welche Tragweite dem Verweis in Art. 9 Abs. 1 lit. b BÜPF zukommen soll, wurde in der parlamentarischen Beratung nicht erörtert. Einzig die vorbereitende Rechtskommission des Ständerates brachte sie zur Sprache, wo sinngemäss argumentiert wurde, alle Voraussetzungen von Art. 3 BÜPF müssten erfüllt sein, da andernfalls bei Zufallsfunden die Erkenntnisse leichter ins Verfahren Eingang finden könnten als im Falle der ursprünglichen Anordnung. Zu der hier zu beurteilenden Streitfrage, ob der dringende Tatverdacht im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. a BÜPF bereits im Zeitpunkt der Überwachungsanordnung bestanden haben muss, oder ob es genügt, dass der Zufallsfund einen dringenden Tatverdacht erst begründet, lässt sich den Gesetzesmaterialien nichts entnehmen.
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Der Annahme eines vorbestehenden Tatverdachts auch für Zufallsfunde stehen Sinn und Zweck von Art. 9 BÜPF entgegen. Diese Norm regelt die Verwendbarkeit von Zufallsfunden, die gestützt auf eine rechtmässig angeordnete und genehmigte Telefonüberwachung erfasst werden (im Gegensatz zu den Erkenntnissen bei fehlender Genehmigung gemäss Art. 7 Abs. 4 BÜPF). Schon ihrem Begriff nach sind Zufallsfunde aber Tatsachen, die einen Tatverdacht begründen. Sie entspringen dem (rechtmässigen) Einsatz strafprozessualer Zwangsmassnahmen und zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie aus verdachtsgesteuerten Untersuchungshandlungen stammen, aber mit diesem Verdacht nichts zu tun haben (HANSJAKOB, a.a.O., S. 202 f.; NATTERER, a.a.O., S. 2 f., 9 und 15 ff.; vgl. auch BGE 122 I 182 E. 5b/aa S. 196). Es kann deshalb nicht darauf ankommen, ob bereits im Zeitpunkt der Anordnung der Überwachung ein einschlägiger Tatverdacht in Bezug auf spätere Zufallsfunde bestanden hat. Abgesehen davon ist der Zeitpunkt, in dem der Verdacht aufkommt, für den Schutz der Privatsphäre des Überwachten ohne Bedeutung, denn mit der Telefonabhörung ist der Einbruch in den persönlichen Geheimbereich bereits in vollem Gang. Ein Verzicht, den Zufallsfund als Beweismittel zu verwerten, kann daran nichts mehr ändern (HÜPPI, a.a.O., S. 397). Einen vorbestehenden Tatverdacht auch für Zufallsfunde zu verlangen, hätte zur Folge, dass solche praktisch überhaupt nie verwendet werden könnten (vgl. BGE 122 I 182 E. 5b/aa S. 196 mit weiteren Hinweisen). Dies jedoch liesse sich mit der neu geschaffenen Gesetzesregelung, die sicherstellt, dass auch nicht verdachtsgestützte, aber rechtmässig erhobene Erkenntnisse verwertbar sein können, nicht vereinbaren.
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6.5 Zusammenfassend ergibt sich, dass die Verwertung von Zufallsfunden gemäss Art. 9 Abs. 1 lit. b BÜPF nicht voraussetzt, dass bezüglich der neu entdeckten Straftaten bereits im Zeitpunkt der Überwachungsanordnung ein Tatverdacht bestanden hat. Dass sich aufgrund der zufällig erfassten Hinweise ein dringender Tatverdacht auf versuchte Erpressung ergeben hat, wird vom Beschwerdeführer nicht in Frage gestellt. Anzumerken bleibt, dass die Vorinstanz im Schuldpunkt wegen versuchter Erpressung zur Hauptsache auf die Aussagen verschiedener Personen abstellt und nicht auf die Abhörprotokolle. Da diese nach dem Gesagten rechtmässig bei den Akten liegen, kann dahin gestellt bleiben, ob dem in Art. 9 Abs. 3 BÜPF statuierten Verwertungsverbot Fernwirkung zukommt und sich auf mittelbar erlangte Beweise erstreckt. Die Beschwerde erweist sich insoweit als unbegründet.
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