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23. Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen X. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_750/2009 vom 13. Juli 2010 | |
Regeste |
Art. 63b StGB; Art. 5 EMRK; Anordnung einer stationären Massnahme nach vollständiger Verbüssung der Freiheitsstrafe. | |
Sachverhalt | |
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B. Gegen dieses Urteil erhob X. Appellation an das Obergericht des Kantons Luzern. Dieses bestätigte am 19. August 2008 die Schuldsprüche und die Strafsanktion, ordnete jedoch anstelle der stationären eine ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB unter Aufschub des Strafvollzugs an.
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Nachdem sich die Fortführung der ambulanten Massnahme als aussichtslos erwiesen hatte, hoben die Vollzugs- und Bewährungsdienste des Kantons Luzern diese am 4. Mai 2009 auf. Der Entscheid ist in Rechtskraft erwachsen.
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D. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern führt Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht. Sie beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache zur erneuten Beurteilung an das Obergericht des Kantons Luzern zurückzuweisen.
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E. Die Vorinstanz beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern lässt sich dazu vernehmen. In einer weiteren Stellungnahme weist die Vorinstanz auf die zwischenzeitlich verübten Straftaten von X. hin.
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F. Das Bundesgericht hat die Beschwerde in öffentlicher Sitzung beurteilt.
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Erwägungen: | |
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Erwägung 2 | |
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Die Vorinstanz halte im angefochtenen Entscheid zutreffend fest, dass zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit eine stationäre Massnahme gemäss Art. 59 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 StGB zweckmässig sei. Die ärztlichen Gutachten sowie die verschiedenen Rückfälle der Beschwerdegegnerin sprächen nach dem Scheitern der ambulanten ![]() | 10 |
Hinzu komme, dass sowohl die Erst- als auch die Vorinstanz im vorliegenden Verfahren Massnahmen angeordnet hätten, obwohl weder im Zeitpunkt des erstinstanzlichen noch des obergerichtlichen Urteils eine Reststrafe bestanden habe. Es sei nicht einleuchtend, dass im Urteilszeitpunkt auch ohne bestehende Reststrafe eine Massnahme angeordnet werden könne, zu einem späteren Zeitpunkt jedoch nicht mehr.
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2.3 Das schweizerische Massnahmenrecht ist gekennzeichnet durch das sogenannte dualistisch-vikariierende System, wonach das Gericht bei einem Massnahmebedürftigen, der schuldhaft delinquiert hat, sowohl die schuldangemessene Strafe als auch die aus Präventionsgründen sachlich gebotene sichernde Massnahme anzuordnen hat (Art. 57 StGB). Dies bedeutet nicht, dass mit der Verbüssung der Strafe jeder Massnahme die Grundlage entzogen wäre. Massnahmen im Sinne von Art. 56 ff. StGB werden ohne Rücksicht auf Art und Dauer der ausgesprochenen Strafe angeordnet. Massgebend sind der Geisteszustand des Täters und die Auswirkungen der Massnahme auf die Gefahr weiterer Straftaten. Es bestehen verschiedene Handlungsmöglichkeiten, wenn das Ziel der ambulanten Massnahme im Vollzug oder in der Freiheit nicht erreicht wird. Die Verbindung der ambulanten Massnahme mit dem Strafvollzug hindert den Richter ![]() | 13 |
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2.6 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum alten Recht war die Umwandlung einer ambulanten in eine stationäre ![]() | 16 |
Erwägung 3 | |
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Eine Massnahme ist (bei Erfüllung der übrigen Bedingungen) anzuordnen, wenn eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr ![]() | 18 |
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Gemäss Art. 5 EMRK muss eine Sanktion auf einer gerichtlichen Verurteilung beruhen. Die spätere Anpassung der Massnahme ist nur rechtsgenügend abgestützt, wenn die ursprüngliche Verurteilung und der später angeordnete beziehungsweise abgeänderte Freiheitsentzug hinreichend miteinander zusammenhängen. Ob allerdings ein solcher Zusammenhang per se zu verneinen ist, wenn anlässlich des Umwandlungsentscheides keine Reststrafe besteht, lässt sich aufgrund der Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 5 EMRK nicht abschliessend beurteilen. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass der zeitlichen Komponente keinerlei Bedeutung zukommt. Massnahmen bedürfen, soweit sie das schuldangemessene Mass überschreiten, vielmehr einer besonderen Rechtfertigung durch das öffentliche Interesse (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Teil 2: Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 8 N. 24). Das schuldangemessene Mass der Strafe wird wiederum durch ihre Höhe ausgedrückt. Generell bleibt somit selbst die Anordnung einer therapeutischen Massnahme von der Frage der Dauer der Strafe nicht völlig unberührt. Bei geringem Verschulden und entsprechend kurzer Freiheitsstrafe ist unter Umständen aus diesem Grund trotz Therapiebedürfnis beim Betroffenen von einer Sanktion abzusehen.
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Noch mehr Bedeutung kommt dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit im Rahmen des Vollzugs von therapeutischen Massnahmen, bei deren Beendigung und eben auch bei der Frage nach einer allfälligen ![]() | 21 |
3.3 Neben dem rein formalen zeitlichen Kriterium ist die Frage nach dem hinreichenden Zusammenhang zwischen ursprünglicher Verurteilung und Anordnung im Nachverfahren materiell zu entscheiden. Der Kausalzusammenhang im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK umfasst nicht nur eine rein zeitliche Komponente. Vielmehr bedarf es auch einer inhaltlichen Verknüpfung zwischen Verurteilung und Freiheitsentzug (HAEFLIGER/SCHÜRMANN, a.a.O., S. 93 mit weiteren Hinweisen; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 48 zu Art. 5 EMRK; CHRISTOPH GRABENWARTER, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, S. 169; GOLLWITZER, a.a.O., N. 47 zu Art. 5 EMRK). Entscheidend ist mithin, ob die spätere Sanktion vom ursprünglichen Zweck der ersten Verurteilung inhaltlich noch getragen ist (vgl. die ähnlichen Erwägungen im Zusammenhang mit der Frage, ob nach neuem Recht eine ambulante Massnahme durch eine andere gleichartige ersetzt werden kann in BGE 134 IV 246 E. 3.3). In der Rechtsprechung zu Art. 5 EMRK wird dieser Aspekt in den Vordergrund gestellt. Andere Sachverhalte, denen kein sogenannter Symptomcharakter zukommt, können grundsätzlich nicht Anlass zu neuen Vorkehren geben. Dies erhellt allerdings bereits daraus, dass für die vorausgegangene Aufhebung der Massnahme durch die zuständige Behörde ein besonderes Fehlverhalten vorausgesetzt ist (vgl. im Zusammenhang mit ambulanten ![]() | 22 |
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3.5 An der bisherigen Rechtsprechung ist auch unter dem neuen Recht festzuhalten. Es ist systemwidrig, die Umwandlung einer ambulanten in eine stationäre Massnahme nach Verbüssung der Freiheitsstrafe generell auszuschliessen. Das neue Recht sieht ungeachtet der bereits abgegoltenen Freiheitsstrafe eine unbeschränkte Verlängerungsmöglichkeit der "in der Regel nicht länger als fünf Jahre" dauernden stationären oder ambulanten Massnahme um jeweils höchstens fünf Jahre vor (Art. 59 Abs. 4 bzw. Art. 63 Abs. 4 ![]() | 24 |
Erwägung 4 | |
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4.2 Die Beschwerde ist gutzuheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern vom 18. August 2009 aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs. 3 BGG).
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