BGE 136 IV 156 | |||
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23. Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen X. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_750/2009 vom 13. Juli 2010 | |
Regeste |
Art. 63b StGB; Art. 5 EMRK; Anordnung einer stationären Massnahme nach vollständiger Verbüssung der Freiheitsstrafe. | |
Sachverhalt | |
A. Das Kriminalgericht des Kantons Luzern verurteilte X. am 15. November 2007 wegen Brandstiftung mit geringem Schaden, mehrfacher Sachbeschädigung sowie Hausfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten (bei Annahme einer in schwerem Grade verminderten Schuldfähigkeit), unter Anrechnung von 43 Tagen Untersuchungshaft. Das Kriminalgericht ordnete ausserdem unter Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe eine stationäre Massnahme gemäss Art. 59 Abs. 1 und 3 StGB an.
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B. Gegen dieses Urteil erhob X. Appellation an das Obergericht des Kantons Luzern. Dieses bestätigte am 19. August 2008 die Schuldsprüche und die Strafsanktion, ordnete jedoch anstelle der stationären eine ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB unter Aufschub des Strafvollzugs an.
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Nachdem sich die Fortführung der ambulanten Massnahme als aussichtslos erwiesen hatte, hoben die Vollzugs- und Bewährungsdienste des Kantons Luzern diese am 4. Mai 2009 auf. Der Entscheid ist in Rechtskraft erwachsen.
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D. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern führt Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht. Sie beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache zur erneuten Beurteilung an das Obergericht des Kantons Luzern zurückzuweisen.
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E. Die Vorinstanz beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern lässt sich dazu vernehmen. In einer weiteren Stellungnahme weist die Vorinstanz auf die zwischenzeitlich verübten Straftaten von X. hin.
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F. Das Bundesgericht hat die Beschwerde in öffentlicher Sitzung beurteilt.
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Erwägungen: | |
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Erwägung 2 | |
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Die Vorinstanz halte im angefochtenen Entscheid zutreffend fest, dass zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit eine stationäre Massnahme gemäss Art. 59 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 StGB zweckmässig sei. Die ärztlichen Gutachten sowie die verschiedenen Rückfälle der Beschwerdegegnerin sprächen nach dem Scheitern der ambulanten für die Notwendigkeit einer (nachträglichen) stationären Massnahme. Somit liege eine Ausnahmesituation gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung vor. Dies hätte die Vorinstanz prüfen müssen, weshalb sie Art. 63b Abs. 5 StGB falsch ausgelegt habe.
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Hinzu komme, dass sowohl die Erst- als auch die Vorinstanz im vorliegenden Verfahren Massnahmen angeordnet hätten, obwohl weder im Zeitpunkt des erstinstanzlichen noch des obergerichtlichen Urteils eine Reststrafe bestanden habe. Es sei nicht einleuchtend, dass im Urteilszeitpunkt auch ohne bestehende Reststrafe eine Massnahme angeordnet werden könne, zu einem späteren Zeitpunkt jedoch nicht mehr.
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2.3 Das schweizerische Massnahmenrecht ist gekennzeichnet durch das sogenannte dualistisch-vikariierende System, wonach das Gericht bei einem Massnahmebedürftigen, der schuldhaft delinquiert hat, sowohl die schuldangemessene Strafe als auch die aus Präventionsgründen sachlich gebotene sichernde Massnahme anzuordnen hat (Art. 57 StGB). Dies bedeutet nicht, dass mit der Verbüssung der Strafe jeder Massnahme die Grundlage entzogen wäre. Massnahmen im Sinne von Art. 56 ff. StGB werden ohne Rücksicht auf Art und Dauer der ausgesprochenen Strafe angeordnet. Massgebend sind der Geisteszustand des Täters und die Auswirkungen der Massnahme auf die Gefahr weiterer Straftaten. Es bestehen verschiedene Handlungsmöglichkeiten, wenn das Ziel der ambulanten Massnahme im Vollzug oder in der Freiheit nicht erreicht wird. Die Verbindung der ambulanten Massnahme mit dem Strafvollzug hindert den Richter allerdings nicht, die Massnahme nachträglich zu ändern und dem Verurteilten die nötige Psychotherapie zu verschaffen (BGE 128 I 184 E. 2.3.2 mit Hinweisen).
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2.6 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum alten Recht war die Umwandlung einer ambulanten in eine stationäre Massnahme auch nach vollständiger Verbüssung der Strafe gestützt auf Art. 43 Ziff. 3 StGB zulässig (BGE 128 I 184 E. 2.3.2 und Urteil 6B_375/2008 vom 21. Oktober 2008 E. 4.2). Das Bundesgericht betonte, dass diese Möglichkeit nur in klaren Ausnahmefällen und unter strenger Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsgebotes zulässig sei. Eine Ausnahmesituation wurde etwa angenommen, wenn ein entlassener Straftäter nach dem Scheitern der Therapie die öffentliche Sicherheit in schwerer Weise gefährdete und nur eine langfristige stationäre Behandlung die Rückfallgefahr vermindern konnte (Urteil 6S.408/2005 vom 23. Januar 2006 E. 2 mit Hinweisen). Es müsste sich mithin der Schluss aufdrängen, dass der Sachrichter entweder irrte, als er von einer stationären Massnahme absah, oder dass er die akute Veränderung und Verschlimmerung der prognose- und sicherheitsrelevanten Umstände nicht voraussehen konnte oder nicht voraussah (Urteil 6S.265/2003 vom 21. November 2003 E. 4.2).
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Erwägung 3 | |
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Eine Massnahme ist (bei Erfüllung der übrigen Bedingungen) anzuordnen, wenn eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu begegnen (Art. 56 Abs. 1 lit. a StGB). Hieraus wird ersichtlich, dass eine Massnahme etwas Zusätzliches, Ergänzendes zur Strafe darstellt und von dieser unabhängig ist. Dies gilt umso mehr, als die Schuldfähigkeit des Massnahmebedürftigen vollständig fehlen und eine Strafe diesfalls nicht ausgesprochen werden kann. Art. 19 Abs. 3 StGB lässt in dieser Konstellation Massnahmen explizit zu.
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Gemäss Art. 5 EMRK muss eine Sanktion auf einer gerichtlichen Verurteilung beruhen. Die spätere Anpassung der Massnahme ist nur rechtsgenügend abgestützt, wenn die ursprüngliche Verurteilung und der später angeordnete beziehungsweise abgeänderte Freiheitsentzug hinreichend miteinander zusammenhängen. Ob allerdings ein solcher Zusammenhang per se zu verneinen ist, wenn anlässlich des Umwandlungsentscheides keine Reststrafe besteht, lässt sich aufgrund der Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 5 EMRK nicht abschliessend beurteilen. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass der zeitlichen Komponente keinerlei Bedeutung zukommt. Massnahmen bedürfen, soweit sie das schuldangemessene Mass überschreiten, vielmehr einer besonderen Rechtfertigung durch das öffentliche Interesse (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Teil 2: Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 8 N. 24). Das schuldangemessene Mass der Strafe wird wiederum durch ihre Höhe ausgedrückt. Generell bleibt somit selbst die Anordnung einer therapeutischen Massnahme von der Frage der Dauer der Strafe nicht völlig unberührt. Bei geringem Verschulden und entsprechend kurzer Freiheitsstrafe ist unter Umständen aus diesem Grund trotz Therapiebedürfnis beim Betroffenen von einer Sanktion abzusehen.
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Noch mehr Bedeutung kommt dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit im Rahmen des Vollzugs von therapeutischen Massnahmen, bei deren Beendigung und eben auch bei der Frage nach einer allfälligen Abänderung zu. Je länger ein Freiheitsentzug gedauert hat, umso strengere Anforderungen sind an die Art und Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten zu stellen, die bei der Risikoanalyse eine Rolle spielen und damit eine Aufrechterhaltung oder Umwandlung einer Massnahme zu begründen vermögen. Mit längerer Dauer des Vollzugs, mithin mit sich vergrösserndem zeitlichem Abstand zwischen der ursprünglichen Verurteilung und dem Entscheid betreffend Anpassung der Massnahme, sind zunehmend strengere Anforderungen an den Kausalzusammenhang des Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zu stellen. Die Tatsache, dass keine Reststrafe besteht, kann sich daher zumindest indirekt durchaus auswirken beziehungsweise den Entscheid betreffend Zulässigkeit späterer Anpassungen präjudizieren. Je länger die Verurteilung in der Hauptsache zurückliegt, umso weniger lassen sich neue Fakten während des Vollzugs als Bestandteil des ursprünglichen Sachverhalts erkennen, die eine Massnahme zu begründen vermöchten. Dies hat das Bundesgericht - wie erwähnt - schon unter altem Recht klargestellt (Urteil 6B_375/2008 vom 21. Oktober 2008 E. 4.2).
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3.3 Neben dem rein formalen zeitlichen Kriterium ist die Frage nach dem hinreichenden Zusammenhang zwischen ursprünglicher Verurteilung und Anordnung im Nachverfahren materiell zu entscheiden. Der Kausalzusammenhang im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK umfasst nicht nur eine rein zeitliche Komponente. Vielmehr bedarf es auch einer inhaltlichen Verknüpfung zwischen Verurteilung und Freiheitsentzug (HAEFLIGER/SCHÜRMANN, a.a.O., S. 93 mit weiteren Hinweisen; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 48 zu Art. 5 EMRK; CHRISTOPH GRABENWARTER, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, S. 169; GOLLWITZER, a.a.O., N. 47 zu Art. 5 EMRK). Entscheidend ist mithin, ob die spätere Sanktion vom ursprünglichen Zweck der ersten Verurteilung inhaltlich noch getragen ist (vgl. die ähnlichen Erwägungen im Zusammenhang mit der Frage, ob nach neuem Recht eine ambulante Massnahme durch eine andere gleichartige ersetzt werden kann in BGE 134 IV 246 E. 3.3). In der Rechtsprechung zu Art. 5 EMRK wird dieser Aspekt in den Vordergrund gestellt. Andere Sachverhalte, denen kein sogenannter Symptomcharakter zukommt, können grundsätzlich nicht Anlass zu neuen Vorkehren geben. Dies erhellt allerdings bereits daraus, dass für die vorausgegangene Aufhebung der Massnahme durch die zuständige Behörde ein besonderes Fehlverhalten vorausgesetzt ist (vgl. im Zusammenhang mit ambulanten Massnahmen HEER, in: Basler Kommentar, a.a.O., N. 20 zu Art. 63a StGB). So liess es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Stattford gegen United Kingdom vom 28. Mai 2002 nicht zu, dass die bedingte Entlassung eines wegen Mordes Verurteilten wegen einer nachfolgenden Fälschung von Reisepässen und Checks widerrufen wurde (dazu u.a. STEFAN TRECHSEL, Human Rights in Criminal Proceedings, Oxford 2005, S. 441 f.).
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3.5 An der bisherigen Rechtsprechung ist auch unter dem neuen Recht festzuhalten. Es ist systemwidrig, die Umwandlung einer ambulanten in eine stationäre Massnahme nach Verbüssung der Freiheitsstrafe generell auszuschliessen. Das neue Recht sieht ungeachtet der bereits abgegoltenen Freiheitsstrafe eine unbeschränkte Verlängerungsmöglichkeit der "in der Regel nicht länger als fünf Jahre" dauernden stationären oder ambulanten Massnahme um jeweils höchstens fünf Jahre vor (Art. 59 Abs. 4 bzw. Art. 63 Abs. 4 StGB). Auch der Gesetzestext von Art. 63b Abs. 5 StGB hat sich gegenüber aArt. 43 Ziff. 3 StGB inhaltlich nicht verändert.
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Erwägung 4 | |
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4.2 Die Beschwerde ist gutzuheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern vom 18. August 2009 aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs. 3 BGG).
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