BGE 137 IV 105 | |||
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15. Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen X. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_592/2010 vom 17. März 2011 | |
Regeste |
Art. 54 StGB; Umfang der Strafbefreiung, wenn der Täter mehrere Delikte verübt hat. | |
Sachverhalt | |
A. Das Bezirksgericht Hinwil sprach X. mit Urteil vom 4. Juni 2009 schuldig der fahrlässigen Tötung, des fahrlässigen, mehrfachen Fahrens in fahrunfähigem Zustand, des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs, der mehrfachen Verletzung der Verkehrsregeln sowie der mehrfachen Übertretung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel. Mit Ausnahme der Übertretungen gegen das Betäubungsmittelgesetz, für welche es eine Busse von Fr. 500.- aussprach, sah es von einer Bestrafung in Anwendung von Art. 54 StGB ab.
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Eine von der Staatsanwaltschaft See/Oberland dagegen erhobene Berufung hiess das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 17. Juni 2010 teilweise gut. Es stellte fest, dass der erstinstanzliche Schuldspruch in Rechtskraft erwachsen war. X. bestrafte es wegen mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes und Fahrens in fahrunfähigem Zustand mit einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 130.- bei einer Probezeit von zwei Jahren und einer Busse von Fr. 500.-. Im Übrigen sah es von einer Bestrafung ab.
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B. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich sei aufzuheben, und die Sache sei zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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C. X. und das Obergericht des Kantons Zürich haben auf Vernehmlassung verzichtet.
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D. Die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat die Angelegenheit am 17. März 2011 an einer öffentlichen Sitzung beraten.
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Aus den Erwägungen: | |
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Weiter werden dem Beschwerdegegner eine fahrlässige Tötung sowie mehrfache Verletzungen der Verkehrsregeln zur Last gelegt. Der Beschwerdegegner fuhr am Abend des 7. Januar 2008 in Begleitung von A. und B. mit seinem Personenwagen von Turbenthal nach Gibswil. Wenige Minuten nach dem Eintreffen in Gibswil lenkte er sein Fahrzeug in Richtung Turbenthal zurück. Dabei verlor er mangels angepasster Geschwindigkeit an die Strassenverhältnisse die Herrschaft über sein Fahrzeug. Dieses wurde an den rechten Fahrbahnrand geschleudert und kam schliesslich auf dem Dach liegend auf der Tösstalstrasse zum Stillstand. Durch die Wucht der Kollision wurde A. aus dem Fahrzeug geschleudert und erlitt teils schwere Verletzungen. Er verstarb zwei Tage später an ihren Folgen. Der Beschwerdegegner und seine Mitfahrer waren nicht angegurtet.
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Die Vorinstanz lastet dem Beschwerdegegner an, auf der Unfallfahrt ein nicht betriebssicheres Fahrzeug geführt zu haben. Sämtliche Reifen wiesen eine ungenügende Profiltiefe auf. Bereits im November 2007 habe der Beschwerdegegner festgestellt, dass die vorderen Reifen nur noch Profilrillen von zirka 1,9 mm aufgewiesen hätten. Er habe es unterlassen, die Pneus periodisch zu überprüfen.
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Schliesslich konsumierte der Beschwerdegegner seit Ende Juli 2005 regelmässig Marihuana, welches er von verschiedenen Verkäufern bezog. Am 7. Januar 2008 kaufte er in Gibswil für sich und A. vier Minigripsäckchen Marihuana.
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Erwägung 2 | |
2.1 Die Vorinstanz sieht betreffend die fahrlässige Tötung, das fahrlässige Fahren in fahrunfähigem Zustand am Abend des 7. Januar 2008, das Führen eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs und die mehrfache Verletzung der Verkehrsregeln von einer Bestrafung in Anwendung von Art. 54 StGB ab. Das Nichttragen der Sicherheitsgurte werde dem Beschwerdegegner nur betreffend die abendliche Fahrt von Turbenthal nach Gibswil und zurück zur Last gelegt. Dieser Vorwurf bilde mit der fahrlässigen Tötung einen Lebenssachverhalt im prozessrechtlichen Sinne. Dasselbe treffe auf die ungenügende Bereifung seines Fahrzeugs zu. Auch dieser Vorwurf beziehe sich einzig auf die Unfallfahrt. Insbesondere gehe aus der Anklageschrift nicht hervor, ab welchem Zeitpunkt das Fahrzeug mit mangelhaften Reifen unterwegs gewesen sein soll. Zudem werde dem Beschwerdegegner keine mehrfache Begehung vorgeworfen. Schliesslich habe er vier Fahrten nach dem Konsum von Cannabis unternommen. Die drei abendlichen Fahrten würden (im Gegensatz zur morgendlichen Fahrt) als ein Lebenssachverhalt erscheinen. Die verletzten Bestimmungen des Strassenverkehrsgesetzes stünden zur fahrlässigen Tötung in Idealkonkurrenz.
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2.3 Nach Art. 54 StGB, der im Wesentlichen Art. 66bis aStGB entspricht, sieht die zuständige Behörde von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht oder einer Bestrafung ab, wenn der Täter durch die unmittelbaren Folgen seiner Tat so schwer betroffen ist, dass eine Strafe unangemessen wäre. Die Bestimmung richtet sich somit an Untersuchungs-, Anklage- und Gerichtsbehörden. In klaren Fällen erlaubt sie, bereits von einer Strafverfolgung abzusehen, um dem Betroffenen ein langes und aufwendiges Verfahren zu ersparen, das unter Umständen ebenso belastend sein kann wie die Verurteilung selbst. Eine Strafbefreiung hat zu erfolgen, wenn er schon genug bestraft erscheint und die Ausgleichsfunktion der Strafe bereits erfüllt ist (Botschaft vom 24. April 1991 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes,BBl 1985 II 1019 f. Ziff. 211). Nach den vorinstanzlichen Feststellungen verlor der Beschwerdegegner durch den Verkehrsunfall seinen besten und jahrelangen Freund. Er führte im Rahmen einer untersuchungsrichterlichen Einvernahme aus, mehr habe er eigentlich gar nicht verlieren können. Die Eltern des Opfers, welche den Beschwerdegegner alle drei Wochen sehen, ersuchten im erstinstanzlichen Verfahren ebenfalls darum, von einer Strafe abzusehen. Von der Beschwerdeführerin nicht gerügt wird das Absehen von einer Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung.
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Zu prüfen ist, ob die Strafbefreiung durch die Vorinstanz betreffend das Fahren nach dem Konsum von Marihuana, ohne genügende Bereifung und ohne Tragen des Sicherheitsgurtes Bundesrecht verletzt.
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2.3.2 Vorausgesetzt ist eine unmittelbare Betroffenheit des Täters durch seine Tat. Nach der Lehre ist kein teilweiser Verfolgungsverzicht respektive keine teilweise Strafbefreiung möglich, wenn im prozessrechtlichen Sinne ein einziger Lebenssachverhalt vorliegt und die mehreren Taten durch Idealkonkurrenz verbunden sind. Hat der Täter hingegen mehrere voneinander unabhängige Delikte verübt, so ist er nur für jenes Delikt von der Strafe zu befreien, gestützt auf dessen Begehung ihm unmittelbar ein schwerer Nachteil erwachsen ist. Dieser "Unmittelbarkeit" kommt eine einschränkende Funktion zu (FRANZ RIKLIN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 13 zu Art. 54 StGB). Als Beispiel wird in der Literatur die Beurteilung einer Autofahrt mit tödlichem Ausgang sowie eines anschliessenden Betrugs angeführt. Ebenso wenig findet Art. 54 StGB auf allfällige Urkundendelikte Anwendung, wenn der Täter bei einem Verkehrsunfall ein Kind tötet und seit mehreren Monaten mit einer gefälschten Autobahnvignette fährt (RIKLIN, a.a.O., N. 37 vor Art. 52 ff. und N. 63 zu Art. 54 StGB; HANS WIPRÄCHTIGER, Der Verzicht auf Weiterverfolgung und Strafbefreiung nach Artikel 66bis StGB - ein Weg zu mehr Einzelfallgerechtigkeit-, ZStrR 121/2003 S. 166 f.; GUNTHER ARZT, Verfolgungsverzicht und Unterlassung der Nothilfe, ZBJV 127/1991 S. 456 f.; SCHWARZENEGGER/HUG/JOSITSCH, Strafen und Massnahmen, 8. Aufl. 2007, S. 72; TRECHSEL/PAUEN BORER, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 8 zu Art. 54 StGB; vgl. auch SILVAN FLÜCKIGER, Art. 66bis StGB / Art. 54 f. StGB - Betroffenheit durch Tatfolgen, 2006, S. 278 ff.). Es geht mithin um die direkt durch die Tat bewirkten, den Täter treffenden Folgen (HANS SCHULTZ, Die Delikte gegen Leib und Leben nach der Novelle 1989, ZStrR 108/1991 S. 399). Gemäss ARZT ist die Anwendung von Art. 54 StGB unklar, wenn eine Tat im prozessrechtlichen Sinne zu beurteilen ist, materiellrechtlich hingegen Realkonkurrenz vorliegt. Zweifelhaft sei, ob in einem solchen Fall die Strafbefreiung nur gesamthaft anzuwenden oder nicht anzuwenden oder ob materiellrechtlich je nach Ideal- respektive Realkonkurrenz zu differenzieren sei. Er führt das Beispiel eines angetrunkenen Täters an, der beim Verkehrsunfall sein eigenes Kind tötet und in der Folge Führerflucht begeht (Realkonkurrenz). Das Verhalten, welches die Haupttat begleite oder ihr nachfolge, sei als schuldrelevant auch für die Tat anzusehen, durch welche der Täter betroffen sei (ARZT, a.a.O., S. 456 f.). STRATENWERTH stellt auf das Vorliegen einer natürlichen Geschehenseinheit ab. Beispielsweise lasse sich nach seiner Ansicht der Strafverzicht bei einer Strolchenfahrt mit tödlichem Ausgang nicht auf die fahrlässige Tötung beschränken, sondern müsse sich auch auf die Gebrauchsentwendung erstrecken. Anders liege es bei mehreren selbständigen Tatkomplexen, die gleichzeitig verfolgt oder beurteilt würden, beispielsweise, wenn der Strolchenfahrer in anderem Zusammenhang noch einen Betrug begangen haben soll (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Teil 2: Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 7 N. 19 Fn. 31). Nach DUPUIS ist im Falle einer Deliktskonkurrenz einzig die Tat massgebend, welche den Täter unmittelbar und schwer tangiert (MICHEL DUPUIS UND ANDERE, Code pénal I: partie générale, Art. 1-110, 2008, N. 13 zu Art. 54 StGB).
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2.3.3 Das Bundesgericht hielt in BGE 117 IV 245 E. 2a S. 247 unter Hinweis auf die Botschaft des Bundesrates (a.a.O.) fest, dass die Betroffenheit des Täters schwer und diese direkte Folge seiner Tat, mit anderen Worten des verübten Deliktes, sein müsse. Zahlreiche Fälle in der Rechtsprechung, in denen die Bestimmung von Art. 54 StGB respektive von Art. 66bis aStGB zur Anwendung gelangt, betreffen schwere körperliche Beeinträchtigungen als Folge selbstverschuldeter Verkehrsunfälle sowie fahrlässige Tötungen, die beim Täter eine schwere (physische oder psychische) Betroffenheit auslösten. Das Bundesgericht erwog, dass ein enger Zusammenhang gegeben sein müsse zwischen dem verletzten Rechtsgut und der vom Täter erlittenen Betroffenheit (Urteil 6S.46/2002 vom 24. Mai 2002 E. 5b). In BGE 121 IV 162 E. 2 S. 174 ff. bejahte es die Möglichkeit einer Strafbefreiung oder Strafmilderung in Anwendung von Art. 54 StGB bei Vorsatzdelikten.
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In BGE 119 IV 280 äusserte sich das Bundesgericht zur Anwendung von Art. 66bis aStGB bei einer fahrlässigen Tötung auf Grund einer Verkehrsregelverletzung. Täterin war eine Mutter von vier minderjährigen Kindern, welche durch ein fehlerhaftes Überholmanöver den Tod ihres Ehemannes verschuldet hatte. Das Bundesgericht erwog, dass diese Gesetzesbestimmung zwar nicht einzig bei Extremfällen zum Zuge komme und keine reine Ausnahmebestimmung sei, aber auch nicht Teil der alltäglichen Strafrechtspraxis sein könne. Auch bei der Beratung im Parlament sei festgehalten worden, die Regel solle nicht extensiv interpretiert werden. Die schwere Betrofenheit der Täterin sei die unmittelbare Folge einer Handlung, die allerdings mehrere Tatbestände erfülle. Das Überholmanöver mit tödlichem Ausgang sei unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens ein einheitliches Tatgeschehen (BGE 119 IV 280 E. 1b und 2 S. 283 f.).
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Dem Beschwerdegegner werden nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz das (einmalige) Führen eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs sowie das Nichttragen des Sicherheitsgurtes einzig in Bezug auf die Unfallfahrt zur Last gelegt. Ebenso wird ihm vorgeworfen, sein Fahrzeug u.a. unmittelbar vor dem Unfall (auf dem Weg von seinem Arbeits- zu seinem Wohnort sowie von dort via Gibswil bis zum Unfallort) in fahrunfähigem Zustand gelenkt zu haben. Der Beschwerdegegner legte von seinem Arbeitsort (Hittnau) zu seinem Wohnort (Turbenthal) rund 10 Kilometer zurück, holte dort um ca. 19.30 Uhr seine Kollegen ab und verunfallte um etwa 19.55 Uhr.
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Die relevante Handlung ist hier die fahrlässige Tötung im Sinne von Art. 117 StGB. Der Beschwerdegegner ist durch die unmittelbare Konsequenz dieses Delikts, mithin durch den Tod von A., unbestrittenermassen schwer beeinträchtigt. Der Umstand, dass er die abendlichen Fahrten unter dem Einfluss von am Vortag konsumiertem Marihuana, ohne genügende Bereifung und ohne Tragen des Sicherheitsgurtes unternahm, führte hingegen zu keiner seelischen Beeinträchtigung. Diese Taten haben keinen offensichtlich direkten Zusammenhang zum Unfallgeschehen respektive zur fahrlässigen Tötung und sind unabhängig davon zu beurteilen. Sie zeitigen keine Folgen im Sinne einer schweren Betroffenheit des Täters, und es ist nicht ersichtlich, dass dem Beschwerdegegner aus ihrer Verübung unmittelbar ein schwerer Nachteil erwachsen wäre. Es fehlt damit an dem vom Gesetz verlangten Zusammenhang zwischen den Folgen der Tat und der dadurch erlittenen Beeinträchtigung. Hier liegen (anders als in BGE 119 IV 280) verschiedene Handlungen vor, wobei nur eine (nämlich die fahrlässige Tötung) den Beschwerdegegner unmittelbar beeinträchtigt. Damit im untrennbaren, offensichtlichen Zusammenhang steht einzig die einfache Verkehrsregelverletzung wegen Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die konkreten Umstände im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 32 Abs. 1 SVG und Art. 4 Abs. 2 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11). Diese Verletzung wird durch das Tötungsdelikt konsumiert (HANS GIGER, SVG-Strassenverkehrsgesetz, 7. Aufl. 2008, N. 18 ff. zu Art. 90 SVG).
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