BGE 137 IV 290 | |||
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42. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_5/2011 vom 14. Juli 2011 | |
Regeste |
Art. 57 Abs. 5 lit. a SVG; Art. 3a Abs. 1 VRV; Tragen von Sicherheitsgurten. | |
Sachverhalt | |
A. X. hielt am 27. Juni 2009 um 20.00 Uhr sein Taxi in der Stadt Luzern auf der Zentralstrasse in Richtung Bahnhof vor einer auf Rot geschalteten Lichtsignalanlage an. Während der Rotlichtphase hatte er den Sicherheitsgurt gelöst, um in der unter dem Beifahrersitz deponierten Schublade eine Visitenkarte für den neben ihm sitzenden Fahrgast hervorzuholen. Beim Wechsel der Ampel auf Grün war nach seiner Darstellung sein Sicherheitsgurt wieder eingeklinkt. Anschliessend wurde er beim Bahnhof von der Polizei, die ihn im Taxi beobachtet hatte, angehalten und kontrolliert. Sie händigte ihm wegen Nichttragens des Sicherheitsgurtes eine Ordnungsbusse aus. Weil er die Busse nicht akzeptierte, wurde er verzeigt.
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B. Das Amtsstatthalteramt Luzern büsste X. mit Strafverfügung vom 22. September 2009 wegen Nichttragens der Sicherheitsgurten beim Führen eines Personenwagens mit 60 Franken. Mit begründetem Entscheid vom 15. Januar 2010 bestätigte das Amtsstatthalteramt die Strafverfügung.
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Das Amtsgericht Luzern-Stadt fand ihn auf seine Einsprache hin am 24. Juni 2010 wegen Nichttragens der Sicherheitsgurten als Fahrzeugführer beim Führen eines Personenwagens der Zuwiderhandlung gegen Art. 3a Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung (VRV; SR 741.11) schuldig und bestrafte ihn gemäss Ziff. 312.1 der Ordnungsbussenverordnung (OBV; SR 714.031) mit 60 Franken Busse (entsprechend 1 Tag Ersatzfreiheitsstrafe).
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Das Obergericht des Kantons Luzern wies seine Kassationsbeschwerde am 3. November 2010 ab.
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C. X. erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das obergerichtliche Urteil aufzuheben und ihn von Schuld und Strafe freizusprechen.
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In der Vernehmlassung beantragte das Obergericht, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Abweisung der Beschwerde. X. nahm Stellung dazu.
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D. Das Bundesgericht hat den Entscheid öffentlich beraten (Art. 59 Abs. 1 BGG). Es weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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2. Nach den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen (Art. 105 Abs. 1 BGG) ist zugunsten des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass "er im Auto, das vor der Rotlichtampel in einer Kolonne gestanden habe, den Sicherheitsgurt für bloss kurze Zeit vor dem Lichtsignalwechsel auf Grün nicht getragen habe".
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Die Vorinstanz führt aus, zwar setze der Begriff der "Fahrt" gemäss Art. 3a Abs. 1 VRV einen Zustand der Bewegung des Motorfahrzeugs voraus. Dieser wörtlichen Auslegung stehe aber die Zweckbestimmung von Art. 57 Abs. 5 lit. a SVG entgegen. Die Gurten dienten der Sicherheit im Strassenverkehr. Die Gefahrenlage für Fahrzeuginsassen werde bei einem kurzzeitigen Stehen im Strassenverkehr nicht gänzlich beseitigt. Zu denken sei namentlich an Auffahrkollisionen. Eine abstrakte Gefahr genüge. Die Dauer des Nichttragens sei nicht von Bedeutung. Anders entscheiden hiesse, Tür und Tor für Rechtsmissbräuche öffnen.
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Gemäss Art. 3a Abs. 2 VRV sind von der Gurtentragpflicht in Absatz 1 ausgenommen:
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a) (ärztliches Zeugnis);
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b) Von-Haus-zu-Haus-Lieferanten im Auslieferungsquartier, wenn nicht schneller als 25 km/h gefahren wird;
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c) Führer und Mitfahrer bei Fahrten auf Feld- und Waldwegen und im Werkareal, wenn nicht schneller als 25 km/h gefahren wird;
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d) Führer beim Manövrieren im Schritttempo;
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e) (konzessionierte Transportunternehmungen);
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f) (Begleitpersonen bei Sanität und Behindertenfahrdiensten).
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3.1 Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers sind somit nicht bloss unter 25 km/h fahrende Fahrzeuge ausgenommen, sondern auch andere Kategorien von Fahrzeugen, und zwar ohne spezifische Geschwindigkeitsbeschränkungen. Die Fahrgeschwindigkeit ist nicht der Grund dieser Ausnahmeregelung. Auch eine Kollision unter 25 km/h kann zu Verletzungen führen, die durch das Tragen von Sicherheitsgurten vermieden werden könnten. Wie aus Art. 3a Abs. 2 VRV klar hervorgeht, liegen der Ausnahmeregelung bestimmt umschriebene, besondere tatsächliche Verhältnisse zugrunde. So muss etwa beim Manövrieren (lit. d) der Fahrzeugführer den Gurt nicht tragen, wohl aber der Mitfahrer, während bei Sanität und Behindertenfahrdiensten (lit. f) nicht die Fahrzeugführer, sondern einzig die "Begleitpersonen von besonders betreuungsbedürftigen Personen" von der Gurtentragpflicht befreit sind. Keine der Ausnahmekonstellationen von Art. 3a Abs. 2 VRV ist im Falle des Beschwerdeführers einschlägig.
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Ferner kann darauf hingewiesen werden, dass gemäss Art. 119 lit. i der Verordnung vom 19. Juni 1995 über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge (VTS; SR 741.41) für Motorwagen mit einer Höchstgeschwindigkeit bis 30 km/h Sicherheitsgurten nicht erforderlich sind. Die VTS ist hier nicht anwendbar.
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Nach allgemeinem Sprachgebrauch hält ein Fahrzeugführer "während der Fahrt" vor einem Stoppsignal an und nimmt anschliessend die "Fahrt" wieder auf. Insoweit kann der Ausdruck "während der Fahrt" das Fahrzeug in Bewegung oder im Stillstand bedeuten. Man spricht auch von einer "Fahrt" durch Luzern, wenn "während der Fahrt" vor Signalen oder aus anderen Gründen angehalten werden muss. Ein Zwischenhalt auf einem Park- oder Ausstellplatz lässt sich dagegen nicht mehr unter Art. 3a Abs. 1 VRV subsumieren. "Während der Fahrt" muss mithin in dem Sinne ausgelegt werden, dass damit die Teilnahme im Verkehr gemeint ist. Dann handelt der Fahrzeugführer, während er sich in den Verkehr einfügt oder sich im Verkehr befindet, "während der Fahrt". Diese Auslegung entspricht dem Sinn und Zweck von Art. 57 Abs. 5 lit. a SVG, wonach Insassen von Motorwagen Sicherheitsgurten benützen. Gliedert sich ein Fahrzeug in den Verkehr ein oder ist es im Verkehr eingegliedert, besteht für die Insassen die Gurtentragpflicht. Es widerspricht dem Gesetzeszweck, die Gurtentragpflicht bei einem Halt vor einem Rotlicht zu verneinen. Für eine solche Auslegung sind keine Gründe ersichtlich.
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Ferner kann auf den insoweit gleichlautenden § 21a Abs. 1 der deutschen Strassenverkehrsordnung hingewiesen werden: "Vorgeschriebene Sicherheitsgurte müssen während der Fahrt angelegt sein." Nach der deutschen Auslegung meint "Fahrt" den Gesamtvorgang der Benutzung des Kraftfahrzeugs als Beförderungsmittel, weswegen auch kurzzeitige verkehrsbedingte Fahrtunterbrechungen umfasst sind (HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, Strassenverkehrsrecht, 41. Aufl., München 2011, N. 3 zu § 21a StVO).
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3.5 Auch wenn daraus unmittelbar für die Auslegung von Art. 3a VRV nichts folgt, kann angemerkt werden, dass bereits in BGE 103 IV 192 die Nützlichkeit und Effektivität der Sicherheitsgurten betont wurde, und dass das Nichttragen von Sicherheitsgurten gegebenenfalls erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. So kann von einer Bestrafung nicht abgesehen werden, selbst wenn der Täter im Übrigen von seiner Tat im Sinne von Art. 54 StGB schwer betroffen ist (BGE 137 IV 105 E. 2.3.5). Auch kann dies ein mitbestimmender Faktor für die Verneinung des adäquaten Kausalzusammenhangs sein, so dass eine strafrechtliche Haftung entfällt und Geschädigte ohne Sicherheitsgurten die Folgen selber tragen müssen (Urteil 6B_509/2010 vom 14. März 2011 E. 3.5). Unabhängig von der strafrechtlichen Qualifikation führt das Nichttragen des Sicherheitsgurts im Unfallversicherungsrecht (Kausalität vorausgesetzt) zur Kürzung der Geldleistungen um 10 % wegen Grobfahrlässigkeit (BGE 118 V 305; Urteile 8C_963/2009 vom 11. März 2010; 8C_396/2009 vom 23. September 2009; 8C_257/2008 vom 4. September 2008, jeweils Bst. A). Ferner ist auf mögliche zivilrechtliche Folgen hinzuweisen (Art. 59 Abs. 2 SVG; vgl. BGE 132 III 249 E. 3.1 sowie BGE 117 II 609 E. 5a mit Erwähnung einer Herabsetzung der Haftungsquote um 10 % wegen Selbstverschuldens).
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Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer keine Verkehrsgefährdung vor, sondern alleine das Nichttragen der Sicherheitsgurten. Sie geht dabei von einem zutreffenden Begriff von Art. 3a VRV aus. Diese Bestimmung regelt nicht den Verkehr, sondern das Tragen der Sicherheitsgurten. Es handelt sich demnach nicht um eine Verkehrsregel (BGE 103 IV 192 E. 2c S. 196), so dass die oben erwähnte Rechtsprechung hier nicht anwendbar ist. Das Nichttragen der Sicherheitsgurten gefährdet (primär) nicht den Verkehr, sondern ist in erster Linie Selbstgefährdung. Entsprechend ist die Busse auf Art. 96 VRV zu stützen (YVAN JEANNERET, Les dispositions pénales de la Loi sur la circulation routière, 2007, S. 729; PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar zum Strassenverkehrsgesetz, 2011, N. 4 zu Art. 90 SVG). Anders würde es sich verhalten, wenn dem Fahrzeugführer durch das An- oder Ablegen der Sicherheitsgurten während der Fahrt die Bedienung des Fahrzeugs erschwert würde oder er deswegen seine Aufmerksamkeit nicht dem Verkehr zuwenden könnte (Art. 3 Abs. 1 VRV).
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