BGE 139 IV 57 | |||
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8. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_315/2012 vom 21. Dezember 2012 | |
Regeste |
Art. 64 Abs. 1 StGB; schwere Beeinträchtigung durch Anlasstat als Voraussetzung der Verwahrung. | |
Sachverhalt | |
A. Unmittelbar nachdem X. von einem Wirt wegen eines Streites mit den Kellnerinnen aus dem Wirtshaus gewiesen worden war, verwickelte er am 27. August 2009 um 21.15 Uhr den Automobilisten A. beim Überqueren eines Fussgängerstreifens in eine Auseinandersetzung. Als der nachfolgende Automobilist B. dazwischentrat und X. wegschob, spürte er etwas am Hals, wich reflexartig zurück und sah erst jetzt das Taschenmesser in der Hand von X.
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt klagte X. unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung an.
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B. Das Strafgericht Basel-Stadt verurteilte X. am 13. April 2010 wegen Gefährdung des Lebens, einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand, mehrfacher Nötigung und mehrfachen Konsums von Betäubungsmitteln zu 5 Jahren Freiheitsstrafe.
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Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt bestätigte auf Appellation der Staatsanwaltschaft am 20. Dezember 2011 das strafgerichtliche Urteil im Schuld- sowie Strafpunkt und verwahrte X. gemäss Art. 64 Abs. 1 lit. b StGB.
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C. X. erhebt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das obergerichtliche Urteil aufzuheben, die fünfjährige Freiheitsstrafe zu bestätigen, von einer Verwahrung abzusehen und ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
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Die Verwahrung setzt als Anlasstat eine in Art. 64 Abs. 1 StGB umschriebene so genannte Katalogtat oder eine andere mit einer Höchststrafe von fünf oder mehr Jahren bedrohte Tat (Auffangtatbestand oder Generalklausel) voraus. Sie ist nach dem weiteren Wortlaut von Art. 64 Abs. 1 StGB anzuordnen, wenn der Täter eine "Tat begangen hat, durch die er die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer andern Person schwer beeinträchtigt hat oder beeinträchtigen wollte".
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Es stellt sich die Frage, wie das Kriterium der schweren Beeinträchtigung neben der Voraussetzung der im Gesetz umschriebenen Anlasstaten auszulegen ist. Das Bundesgericht hat sich mit dieser Frage bisher nicht vertieft befasst (vgl. aber Urteil 6B_1071/2009 vom 22. März 2010 E. 3.1.1).
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Im Ständerat gab dieser Gesetzesvorschlag zu keinen Erörterungen Anlass (AB 2005 S 1145). Im Nationalrat wandte sich eine Minderheit erfolglos gegen die Ausweitung des Verwahrungstatbestands, insbesondere gegen die Aufnahme der Gefährdung des Lebens (AB 2006 N 219 ff.). Der Vertreter des Bundesrats erklärte, die in Frage kommenden Anlasstaten seien durch den Hinweis auf eine schwere physische, psychische oder sexuelle Schädigung eingeschränkt worden. Straftaten, die nur eine schwere materielle Schädigung zur Folge hätten, wie beispielsweise Diebstahl, könnten nicht zu einer Verwahrung führen (AB 2006 N 221).
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Die Botschaft vom 29. Juni 2005 macht deutlich, dass der Gesetzgeber die Voraussetzung der schweren Beeinträchtigung der physischen, psychischen oder sexuellen Integrität nur im Hinblick auf die Generalklausel thematisierte. Es ist zweifelhaft, ob sich bei einer Katalogtat die Frage der schweren Beeinträchtigung überhaupt stellt. Es würde indessen der gesamten Entstehungsgeschichte des Verwahrungstatbestandes nicht gerecht, sie auszublenden. Der Bundesrat hatte in seiner Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuchs anfänglich vorgeschlagen, die Verwahrung von der schweren körperlichen, seelischen und materiellen Schädigung abhängig zu machen. Damit sollte verhindert werden, dass "etwa eine Brandstiftung, an unbedeutenden Vermögenswerten begangen" zu einer Verwahrung führt (BBl 1999 2094). Das Parlament war mit diesem Vorschlag grundsätzlich einverstanden, strich aber den Hinweis auf die Art der Schädigung und begnügte sich damit, dass der Täter durch die Anlasstat jemanden "schwer geschädigt hat oder schädigen wollte" (BBl 2002 8264). Nach dem ständerätlichen Berichterstatter geschah dies aufgrund einer ausführlichen Debatte in der vorberatenden Kommission, weil kein Konsens bestand, welche Bedeutung der näheren Umschreibung der Schädigung zukommen sollte. Weil die in Art. 64 Abs. 1 StGB genannten Straftaten stets so gravierend seien, dass sie schwere Schädigungen zur Folge hätten, sei zwischen den einzelnen Schädigungskategorien nicht zwingend zu differenzieren. Der Richter habe ohnehin sowohl die schwere Schädigung als auch alle übrigen Voraussetzungen gemäss Art. 64 Abs. 1 StGB zu beurteilen (AB 1999 S 1224).
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Insgesamt lässt sich der Schluss ziehen, dass der Gesetzgeber davon ausging, eine Verwahrung sei nur unter qualifizierten Voraussetzungen möglich. Die blosse Erfüllung eines Anlasstatbestandes genügt nicht. Die Konkretisierung dieser Qualifizierung sollte den Gerichten überlassen werden.
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1.3.2 In der Literatur wird das Kriterium der schweren Beeinträchtigung als zusätzliches Erfordernis sowohl bei den Katalogtaten als auch für Straftaten im Sinne des Auffangtatbestandes betrachtet (TRECHSEL/PAUEN BORER, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 5 zu Art. 64 StGB mit Hinweisen). Nach der Konzeption des Gesetzes sollte die Verwahrung nur noch Täter treffen, die schwere Straftaten begangen hatten. Aufgrund der Generalklausel gilt dies praktisch für alle Verbrechen (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Teil 2: Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 12 N. 3). Somit bleibt die Schwierigkeit, welche Beeinträchtigung als schwer zu qualifizieren ist. STRATENWERTH verweist auf den Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit, so dass nur Anlasstaten in Betracht kommen, die so schwer wiegen, dass die Gefahr ihrer Wiederholung diesen schwersten Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen zu rechtfertigen vermag (STRATENWERTH/WOHLERS, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 3. Aufl. 2013, N. 4 zu Art. 64 StGB). Auch für PETER ALBRECHT (Die Verwahrung nach Art. 64 StGB, AJP 9/2009 S. 1118) spricht das Gesetz mit der schweren Beeinträchtigung den Verhältnismässigkeitsgrundsatz an und bezieht sich die Limitierung sowohl auf die Katalogtaten wie auf die Generalklausel. Aus seiner Sicht sollte eine Verwahrung erst bei einer Freiheitsstrafe von drei Jahren in Betracht gezogen werden.
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Die Verwahrung zählt zu den schwersten Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte eines Straftäters überhaupt. Das Gesetz sieht die Verwahrung als ultima ratio (BGE 134 IV 121 E. 3.4.4; BGE 118 IV 108 E. 2a) nach Begehung schwerer Straftaten vor, und zwar unter der Voraussetzung, dass auf Grund der Persönlichkeitsmerkmale des Täters, der Tatumstände und seiner gesamten Lebensumstände (Art. 64 Abs. 1 lit. a StGB) oder auf Grund einer psychischen Störung von erheblicher Schwere (Art. 64 Abs. 1 lit. b StGB) ernsthaft zu erwarten ist, dass er "weitere Taten dieser Art begeht". Diese Voraussetzungen gelten für Katalogtaten und Straftaten nach der Generalklausel in gleicher Weise, weshalb das Kriterium der schweren Beeinträchtigung auch auf beide Kategorien von Straftaten Anwendung finden muss (ebenso bereits Urteil 6B_1071/2009 vom 22. März 2010 E. 3.1.1).
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Nach Wortlaut, Sinn und Zweck der Bestimmung kommen nur "schwere" Straftaten in Betracht, und zwar sowohl als Anlasstaten wie als ernsthaft zu erwartende Folgetaten. Dem entspricht das Kriterium der schweren Beeinträchtigung in Art. 64 Abs. 1 StGB. Ihm kommt weiter eine eigenständige Bedeutung insoweit zu, als es die Verwahrung bei einer rein "materiellen" Beeinträchtigung ausschliesst.
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Bei der Beurteilung der schweren Beeinträchtigung ist ein objektiver Massstab anzulegen (Urteil 6B_1071/2009 vom 22. März 2010 E. 3.1.1; HEER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 24 zu Art. 64 StGB; QUELOZ/BROSSARD, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. I, 2009, N. 18 zu Art. 64 StGB).
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