BGE 139 IV 128 | |||
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18. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_307/2012 vom 14. Februar 2013 | |
Regeste |
Polizeiliche Anhaltung; Durchsuchung von Aufzeichnungen; selbständiges polizeiliches Handeln, wenn Gefahr in Verzug ist; Verwertbarkeit; Zufallsfund; Art. 215, 241 Abs. 3, Art. 243 und 141 Abs. 3 StPO. | |
Sachverhalt | |
A. Die stark alkoholisierte X., eine brasilianische Staatsangehörige, wurde am 28. Januar 2011, um 07.15 Uhr, durch die Kantonspolizei Zürich in der "A.-Bar", einer "Kontaktbar" im Kerngebiet des Stadtzürcher Milieus, angehalten. Da sie sich nicht ausweisen konnte (und wollte) und die Polizeibeamten in ihrer Handtasche keine Ausweispapiere fanden, wurde sie auf den Polizeiposten geführt. Im Zuge der auf dem Posten durchgeführten Durchsuchung wurden ein "Chip der Swisscom" und ein "I-Phone" gefunden sowie "offensichtliche Freier-Adressen", die darauf hinwiesen, X. sei ohne Bewilligung als Prostituierte erwerbstätig. Gestützt auf diese Daten kontaktierten die Polizeibeamten den späteren Zeugen B. Dieser gab an, mit X. Sexualverkehr gegen Geld gehabt zu haben.
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B. Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X. zweitinstanzlich am 9. März 2012 des rechtswidrigen Aufenthalts und der Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung gemäss Art. 115 Abs. 1 lit. b und c des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20) schuldig. In Bezug auf den Freispruch vom Vorwurf der Widerhandlung gegen Art. 115 Abs. 1 lit. a AuG (Verletzung von Einreisevorschriften) stellte es die Rechtskraft des Urteils des Bezirksgerichts Zürich vom 7. März 2011 fest. Es bestrafte X. mit 45 Tagen Freiheitsstrafe (wovon alle Tage durch Untersuchungs- und Sicherheitshaft erstanden sind). Den Vollzug der Freiheitsstrafe schob es nicht auf. Das Obergericht sprach X. keine Genugtuung zu und auferlegte ihr die Kosten des Berufungsverfahrens. Die erstinstanzliche Kostenregelung bestätigte es.
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C. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X., sie sei vom Vorwurf der mehrfachen Widerhandlung gegen das Ausländergesetz freizusprechen und die Kosten des kantonalen Verfahrens seien auf die Gerichtskasse zu nehmen. Für die erlittene Untersuchungs- und Sicherheitshaft sei ihr eine Genugtuung von mindestens Fr. 4'500.- zuzusprechen. Eventuell sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. X. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
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D. Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich haben auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
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Die Beschwerdeführerin rügt eine unrichtige Anwendung von Art. 215 StPO respektive von Art. 241 Abs. 1 i.V.m. Art. 246 bzw. 250 StPO. Die Polizei habe Aufzeichnungen durchsucht, ohne dass die Verfahrensleitung diese Zwangsmassnahme vorgängig mündlich oder schriftlich angeordnet oder nachträglich bewilligt hätte. Da sie - die Beschwerdeführerin - in die polizeiliche Durchsuchung auch nicht eingewilligt habe, habe die Strafbehörde die "Freierliste" in Verletzung einer Gültigkeitsvorschrift gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO erlangt. Die "offensichtlichen Freier-Adressen" und die in der Folge erhobenen Zeugenaussagen von B. seien nicht verwertbar.
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Zur Anhaltung benötigt die Polizei keine vorgängige Anordnung oder Bewilligung der Staatsanwaltschaft im Sinne von Art. 198 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 241 StPO (vgl. JONAS WEBER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 9 zu Art. 198 StPO). Kommt die angehaltene Person ihrer Pflicht nach Art. 215 Abs. 2 lit. c und d StPO zur Vorlage von Ausweispapieren und Gegenständen sowie zum Öffnen von Behältnissen und Fahrzeugen nicht nach, darf die Polizei Kleider, mitgeführte Gegenstände, Behältnisse oder Fahrzeuge ohne staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsbefehl unter den Voraussetzungen von Art. 241 Abs. 3 i.V.m. Art. 250 StPO durchsuchen (siehe Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1225 zu Art. 214; ALBERTINI/AMBRUSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 16 zu Art. 215 StPO; vgl. OBERHOLZER, a.a.O., S. 323 N. 885). Diese Durchsuchungen sind auf die Sicherung der Ziele der Anhaltung nach Art. 215 Abs. 1 StPO beschränkt (SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 17 zu Art. 215 StPO). Ebenfalls in eigener Kompetenz darf die Polizei die angehaltene Person aus Sicherheitsgründen - zum Zwecke der Gefahrenabwehr - gestützt auf Art. 241 Abs. 4 StPO durchsuchen.
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1.4 Von einer Durchsuchung von Aufzeichnungen gemäss Art. 246 StPO wird gesprochen, wenn die Schriftstücke oder Datenträger im Hinblick auf ihren Inhalt oder ihre Beschaffenheit durchgelesen bzw. besichtigt werden, um ihre Beweiseignung festzustellen, sie allenfalls zu beschlagnahmen und zu den Akten zu nehmen (vgl. zu Art. 50 VStrR [SR 313.0] BGE 109 IV 154 E. 1). Solche Durchsuchungen von Unterlagen und Datenträgern sind nach Art. 198 i.V.m. Art. 241 Abs. 1 StPO grundsätzlich von der Staatsanwaltschaft (allenfalls vom Sachgericht) anzuordnen bzw. vorzunehmen (vgl. Botschaft, a.a.O., BBl 2006 1238). Es ist der Staatsanwaltschaft aber unbenommen, die Polizei im Rahmen von Art. 312 StPO damit zu beauftragen, die auf die Amtsstelle verbrachten bzw. entsiegelten Aufzeichnungen nach bestimmten Kriterien zu durchsuchen bzw. auszuwerten (ANDREAS J. KELLER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, N. 4 zu Art. 246 StPO). Sofern im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO "Gefahr in Verzug" vorliegt, kann die Polizei Unterlagen und Aufzeichnungen auch ohne besonderen Befehl der Staatsanwaltschaft durchsuchen. Das polizeiliche Handeln muss sich dann allerdings - wie bei einer allfälligen Delegation von der Staatsanwaltschaft an die Polizei nach Art. 312 StPO - angesichts der besonderen Relevanz des Eingriffs in die Privatsphäre der betroffenen Person (oder Dritter) auf einfache Sachverhalte beschränken (SCHMID, Handbuch, a.a.O., S. 474 Rz. 1074; ders., Praxiskommentar, a.a.O., N. 3 zu Art. 246 StPO; DIEGO R. GFELLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 32 ff. zu Art. 241 StPO; vgl. CATHERINE CHIRAZZI in: Commentaire romand, Code de procédure pénale, 2010, N. 28 und 33 zu Art. 241 StPO).
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1.5 Inwiefern vorliegend "Gefahr in Verzug" war, welche die Polizei zu selbständigem Handeln im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO ermächtigte, ist nicht erkennbar. Der Umstand, dass die Anhaltung nach Art. 215 StPO und die damit einhergehende Beschränkung der Bewegungsfreiheit der angehaltenen Person nur kurze Zeit dauern darf (vgl. Botschaft, a.a.O., BBl 2006 1224; SCHMID, Handbuch, a.a.O., S. 433 Rz. 1003), vermag jedenfalls keine Dringlichkeit im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO zu begründen. Andernfalls wäre die Polizei bei einer Anhaltung unter Hinweis auf die engen zeitlichen Grenzen stets und ohne weiteres befugt, Durchsuchungen nach Art. 246 StPO selbständig anzuordnen und durchzuführen. Das entspricht nicht dem Sinn des Gesetzes. Art. 241 Abs. 3 StPO kommt (nur) zum Tragen, wenn ohne sofortige Durchsuchung ein Beweisverlust zu befürchten ist (GFELLER, a.a.O., N. 33 zu Art. 241 StPO; SCHMID, Handbuch, a.a.O., S. 468 f. Rz. 1064). Das ist hier nicht der Fall. Die "offensichtlichen Freier-Adressen" waren auf dem I-Phone gespeichert und konnten ohne Manipulation des Geräts nicht verloren gehen. Zwar durften die Polizeibeamten das I-Phone - ohne entsprechende Beschlagnahme - nur so lange (zurück-)behalten, als es der Beschwerdeführerin selber untersagt war, sich vom Ort der Massnahme zu entfernen. Das begründet aber für sich allein keine dringliche Situation im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO, zumal nicht erstellt und angesichts des Zeitpunkts der Kontrolle auch nicht wahrscheinlich ist, dass die Staatsanwaltschaft für eine (mindestens mündliche) Anordnung der Durchsuchung des I-Phones nicht erreichbar war (KELLER, a.a.O., N. 23 zu Art. 241 und N. 4 zu Art. 246 StPO, welcher Dringlichkeit bei Durchsuchungen von Aufzeichnungen praktisch für ausgeschlossen hält). Das selbständige Handeln der Polizei ohne staatsanwaltschaftlichen Befehl war regelwidrig. Es stellt sich die Frage nach den prozessualen Folgen dieses Verstosses.
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1.7 Dass die Polizeibeamten das I-Phone der Beschwerdeführerin bzw. die darin gespeicherten Adressen ohne die grundsätzlich erforderliche Bewilligung der Staatsanwaltschaft durchsuchten, führt nicht zu einem Verbot der Verwertung der erwähnten Freier-Adressen. Die Voraussetzungen für die Durchsuchung des (offenkundig nicht mittels eines Codes verschlossenen) I-Phones waren an sich erfüllt. Die Durchsuchung als solche war auch nicht unverhältnismässig. Die Polizeibeamten beschränkten sich offenbar darauf, (nur) Einsicht in die im Gerät abgelegten Adressen zu nehmen (vgl. hierzu Hinweis im Polizeirapport vom 28. Januar 2011, wonach "über die Agenda" eventuell noch weitere Freier ermittelt werden könnten). Anhaltspunkte dafür, dass sich die Beamten vorsätzlich und rechtsmissbräuchlich über die gesetzliche Zuständigkeitsordnung im Sinne von Art. 198 StPO hinwegsetzten bzw. den staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsbefehl bewusst nicht einholten, bestehen nicht. Das gilt umso mehr, als selbständiges polizeiliches Handeln im Rahmen von Art. 246 StPO nicht kategorisch ausgeschlossen, sondern bei Dringlichkeit (Art. 241 Abs. 3 StPO) möglich ist. Die Zuständigkeiten sind hier in einer gewissen Hinsicht "fliessend". Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der konkreten Umstände stellt das Erfordernis des staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsbefehls im vorliegenden Fall eine blosse Ordnungsvorschrift im Sinne von Art. 141 Abs. 3 StPO dar (vgl. insoweit auch GFELLER, a.a.O., N. 10 zu Art. 246 StPO mit Hinweisen). Demnach sind die ermittelten "offensichtlichen Freier-Adressen" und die gestützt darauf erlangten Aussagen des Zeugen B. verwertbar.
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2.1 Unter Zufallsfunden nach Art. 243 StPO versteht man die bei der Durchführung von Zwangsmassnahmen allgemein und bei Durchsuchungen und Untersuchungen im Besonderen zufällig entdeckten Beweismittel, Spuren, Gegenstände oder Vermögenswerte, die mit der abzuklärenden Straftat in keinem direkten Zusammenhang stehen und den ursprünglichen Verdacht weder erhärten noch widerlegen, aber auf eine weitere Straftat hinweisen (GFELLER/THORMANN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 6 zu Art. 243 StPO; SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 1 zu Art. 243 StPO; ders., Handbuch, a.a.O., S. 470 Rz. 1066; KELLER, a.a.O., N. 1 zu Art. 243 StPO). Kein Zufallsfund liegt dagegen vor, wenn eine Spur bzw. ein Gegenstand in einem direkten Zusammenhang mit der abzuklärenden Straftat steht. Abzugrenzen sind Zufallsfunde von unzulässigen Beweisausforschungen, sogenannten "Fishing-Expeditions". Eine solche besteht, wenn einer Zwangsmassnahme kein genügender Tatverdacht zugrunde liegt, sondern aufs Geratewohl Beweisaufnahmen getätigt werden. Aus Beweisausforschungen resultierende Ergebnisse sind nicht verwertbar (siehe BGE 137 I 218 E. 2.3.2 mit zahlreichen Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre).
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2.2 Gemäss Polizeirapport vom 28. Januar 2011 wurde gegen die Beschwerdeführerin wegen Verletzung von Art. 115 Abs. 1 lit. a und c AuG ermittelt. Es bestand der Verdacht der illegalen Einreise in die Schweiz zur Ausübung der Prostitution ohne Bewilligung. Die Polizei führte die Beschwerdeführerin gemäss Rapport zwar primär deshalb auf den Polizeiposten, weil sich diese nicht ausweisen konnte und Anhaltspunkte dafür bestanden, sie sei ohne gültige Ausweispapiere in der Schweiz anwesend. Damit stand für die Polizei nach Ansicht der Vorinstanz anfänglich zwar ein allfälliger Verstoss gegen Einreisevorschriften im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. a AuG im Vordergrund, ohne dass aber Widerhandlungen gegen Art. 115 Abs. 1 lit. b und c AuG (rechtswidriger Aufenthalt, Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung) ausgeschlossen werden konnten. Solche Verstösse schienen vielmehr ebenso wahrscheinlich. Dieser Schluss der Vorinstanz ist nicht willkürlich. Er folgt aus der Gesamtsituation anlässlich der Kontrolle der Beschwerdeführerin (Einsatzörtlichkeit der Polizei in einer einschlägigen "Kontakt-Bar" im Kerngebiet des Stadtzürcher Milieus; starke Alkoholisierung der Beschwerdeführerin; Weigerung, sich auszuweisen; keine Ausweispapiere). Deren Einwand, nicht jede Frau, die sich im "Chreis Cheib" die "Nacht um die Ohren schlage", sei ein "leichtes Mädchen", ist nicht geeignet, den vorinstanzlichen Schluss in Frage zu stellen. Mit der Vorinstanz kann ohne Willkür davon ausgegangen werden, gegenüber der Beschwerdeführerin habe von Anbeginn an ein (Anfangs-)Verdacht bestanden, sie weile ohne gültige Papiere in der Schweiz und übe eine nicht bewilligte Erwerbstätigkeit aus. Die ermittelten Adressdaten von Freiern stehen demnach in direktem Zusammenhang mit den abzuklärenden Straftaten und stellen keinen Zufallsfund dar.
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