BGE 140 IV 82 | |||
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10. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_908/2013 vom 20. März 2014 | |
Regeste |
Art. 3 und 355 Abs. 2 StPO; Verfahren bei Einsprache, Säumnis nach Vorladung, Rückzugsfiktion. |
Die gesetzliche Fiktion, wonach bei unentschuldigtem Fernbleiben die Einsprache gegen den Strafbefehl als zurückgezogen gilt, gelangt nur zur Anwendung, wenn der Einsprecher tatsächlich Kenntnis von der Vorladung und damit auch von den Säumnisfolgen hat. Vorbehalten bleiben Fälle rechtsmissbräuchlichen Verhaltens (E. 2.7). | |
Sachverhalt | |
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X. erhob Einsprache. In der Folge lud die Staatsanwaltschaft sie am 28. Januar 2013 zu einer Einvernahme auf den 19. März 2013 vor. Die eingeschriebene Postsendung mit der Vorladung wurde am 29. Januar 2013 zur Abholung gemeldet und am 6. Februar 2013 mit dem Vermerk "nicht abgeholt" retourniert. Nachdem X. nicht zur Einvernahme erschienen war, stellte die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 20. März 2013 fest, dass die Einsprache als zurückgezogen gilt und der Strafbefehl vom 20. Dezember 2012 in Rechtskraft erwachsen ist.
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B. Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 5. August 2013 eine von X. gegen die Verfügung vom 20. März 2013 gerichtete Beschwerde ab.
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C. X. erhebt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das obergerichtliche Urteil und die Verfügung der Staatsanwaltschaft aufzuheben und diese anzuweisen, das Strafverfahren weiterzuführen.
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Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht verzichtet auf eine Stellungnahme.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit darauf einzutreten ist.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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Die Vorinstanz begründet, die Beschwerdeführerin habe nach der Einsprache gegen den Strafbefehl mit behördlichen Zustellungen rechnen müssen. Gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO gelte die Vorladung am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch, somit am 5. Februar 2013, als zugestellt. Indem die Beschwerdeführerin trotz Einsprache nichts vorgekehrt habe, um behördliche Zustellungen auch während ihrer Ferienabwesenheit in Empfang nehmen zu können, habe sie ihr Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens bekundet. Sie sei der Einvernahme unentschuldigt ferngeblieben, sodass ihre Einsprache nach Art. 355 Abs. 2 StPO als zurückgezogen gelte.
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2.3 Das Bundesgericht legte im Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5 mit einlässlicher Begründung dar, dass der Strafbefehl mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) bzw. dem konventionsrechtlichen Anspruch auf Zugang zu einem Gericht mit voller Überprüfungskompetenz (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) nur vereinbar ist, weil es letztlich vom Willen des Betroffenen abhängt, ob er diesen akzeptieren oder mit Einsprache vom Recht auf gerichtliche Überprüfung Gebrauch machen will. Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung des Einspracherechts dürfe ein konkludenter Rückzug der Einsprache gegen den Strafbefehl nur angenommen werden, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Betroffenen der Schluss aufdrängt, er verzichte mit seinem Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens bewusst auf den ihm zustehenden Rechtsschutz. Der vom Gesetz an das unentschuldigte Fernbleiben geknüpfte (fingierte) Rückzug der Einsprache setze voraus, dass sich der Beschuldigte der Konsequenzen seiner Unterlassung bewusst ist und er in Kenntnis der massgebenden Rechtslage auf die ihm zustehenden Rechte verzichtet.
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Die Strafprozessordnung regelt die "Vorladung" ausführlich in den Art. 201 bis 206 StPO. Wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, hat der Vorladung Folge zu leisten (Art. 205 Abs. 1 StPO). Wer einer Vorladung unentschuldigt nicht oder zu spät Folge leistet, kann mit Ordnungsbusse bestraft und überdies polizeilich vorgeführt werden, wobei das Abwesenheitsverfahren vorbehalten bleibt (Art. 205 Abs. 4 und 5 StPO).
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Bleibt dagegen gemäss Art. 355 Abs. 2 StPO eine Einsprache erhebende Person trotz Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fern, "so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen". Anders als im Rahmen von Art. 205 StPO kann eine Säumnis nach Art. 355 Abs. 2 StPO zum Totalverlust des Rechtsschutzes führen, und dies, obwohl der Betroffene ausdrücklich Einsprache erhoben und damit genau diesen Rechtsschutz bei der zuständigen Behörde beantragt hat.
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Diese Grundsätze sind ebenso bei der Anwendung von Art. 355 Abs. 2 StPO zu beachten. Die Bestimmung enthält ausdrücklich zwei Bedingungen, die für den Eintritt der Rechtsfolge massgebend sind, nämlich dass der Betroffene erstens "trotz Vorladung" und zweitens "unentschuldigt" fernbleibt. Das kann dieser nach allgemein anerkannten Grundsätzen der Verfahrensfairness und Justizförmigkeit nur, wenn er von der Vorladung und den Rechtsfolgen einer Säumnis überhaupt Kenntnis erhält. Dies setzt die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs voraus. Im Strafbefehl ist lediglich der Hinweis auf die Folgen einer unterbliebenen Einsprache vorgeschrieben (Art. 353 Abs. 1 lit. i StPO). Im Übrigen erscheint fraglich, ob mit einer formularmässigen, für Laien unverständlichen Belehrung über alle möglichen Rechte und Pflichten der Parteien im Strafverfahren der rechtsstaatlichen Aufklärungs- und Fürsorgepflicht nachgekommen werden kann (Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5.2). Die gesetzliche Rückzugsfiktion kann in verfassungskonformer Auslegung nur zum Tragen kommen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5.4).
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2.6 Der Strafbefehl ist ein Vorschlag zur aussergerichtlichen Erledigung der Strafsache. Einziger Rechtsbehelf ist die Einsprache. Sie ist kein Rechtsmittel, sondern löst das gerichtliche Verfahren aus, in dem über die Berechtigung der im Strafbefehl enthaltenen Deliktsvorwürfe entschieden wird (Botschaft, a.a.O., S. 1291 zu Art. 358 E-StPO bzw. Art. 355 StPO). Wird Einsprache erhoben, liegt die Sache zunächst wieder bei der Staatsanwaltschaft. Sie trägt damit die Verantwortung für die Einhaltung der "Grundsätze des Strafverfahrensrechts" bei der Fortsetzung des Verfahrens. Die Einsprache erhebende Person darf und muss auf ein rechtsstaatliches Verfahren vertrauen können. Auf den gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 29a in Verbindung mit Art. 30 BV) kann nur der informierte Beschuldigte wirksam verzichten (vgl. MARC THOMMEN, Kurzer Prozess - fairer Prozess?, Strafbefehls- und abgekürztes Verfahren zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, 2013, S. 303 ff. zur "Fairness als Teilhabe").
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Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Beschwerdeführerin wird von der Vorinstanz nicht festgestellt. Die Staatsanwaltschaft wusste aufgrund der Retournierung der Vorladung, dass die Beschwerdeführerin nicht informiert war. In dieser Situation wäre sie gehalten gewesen, den Vorladungsversuch zu wiederholen und damit das rechtliche Gehör zu gewährleisten (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO).
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