![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
2. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und A. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_123/2014 vom 2. Dezember 2014 | |
Regeste |
Art. 183 StGB; Freiheitsberaubung und Entführung. |
Jeder Elternteil, der das Recht hat, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, ist grundsätzlich berechtigt, diesen zu verändern, ohne eine Entführung im Sinne von Art. 183 Ziff. 2 StGB zu begehen. Widerspricht die Verbringung des Kindes an einen anderen Ort massiv dessen Interessen und Wohl, lässt sich die Tat nicht mehr mit dem Aufenthaltsbestimmungsrecht rechtfertigen (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 4.5). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
X. wurde am 30. Oktober 2011 verhaftet. Am 25. November 2011 wurde der Mutter die alleinige elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder zugeteilt, was X. am 13. Dezember 2011 eröffnet wurde. Gemäss Anklage habe er ab diesem Zeitpunkt gewusst, dass er nicht befugt sei, über den Aufenthaltsort der Kinder zu bestimmen und ihnen die Rückkehr zur Mutter zu verwehren. Trotzdem weigere er sich seither, durch entsprechende Anweisung seiner Familienangehörigen in der Schweiz oder in Nigeria die Rückführung der Kinder zu veranlassen, obwohl ihm dies möglich wäre, was er wisse.
| 2 |
B. Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X. am 13. Januar 2014 zweitinstanzlich wegen mehrfacher qualifizierter Freiheitsberaubung und mehrfachen Entziehens von Minderjährigen zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren.
| 3 |
4 | |
D. Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich verzichten auf eine Stellungnahme. A. lässt sich nicht vernehmen.
| 5 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
| 6 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 4 | |
7 | |
8 | |
4.3 Gemäss Art. 183 StGB wird bestraft, wer jemanden unrechtmässig festnimmt oder gefangen hält oder jemandem in anderer Weise unrechtmässig die Freiheit entzieht (Freiheitsberaubung; Ziff. 1 Abs. 1) oder wer jemanden durch Gewalt, List und Drohung entführt oder wer jemanden entführt, der urteilsunfähig, widerstandsunfähig oder ![]() | 9 |
Erwägung 4.4 | |
4.4.1 Freiheitsberaubung ist die Aufhebung der körperlichen Bewegungsfreiheit (TRECHSEL/FINGERHUTH, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 1 zu Art. 183 StGB). Unrechtmässig ist eine Freiheitsberaubung, wenn rechtfertigende Umstände fehlen. Als solche kommen nebst den gesetzlichen Rechtfertigungsgründen nach Art. 14 ff. StGB auch Einwilligungen in Betracht (DELNON/RÜDY, a.a.O., N. 53 f. zu Art. 183 StGB). Die unzulässige Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit liegt nach Rechtsprechung und Lehre darin, dass jemand daran gehindert wird, sich selbstständig, mit Hilfsmitteln oder mit Hilfe Dritter nach eigener Wahl vom Ort, an dem er sich befindet, an einen anderen Ort zu begeben oder bringen zu lassen (BGE 101 IV 154 E. 3b S. 160; DELNON/RÜDY, a.a.O., N. 20 zu Art. 183 StGB). Demgegenüber erfüllt den Tatbestand nicht, wer jemanden zwingt, einen Ort zu verlassen (BGE 101 IV 154 E. 3b S. 161). Ebenfalls keine unzulässige Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit liegt vor, wenn eine Person einen bestimmten Ort überhaupt nicht oder nicht auf dem gewünschten Weg erreichen kann. Eine partielle Beeinträchtigung der Freiheit, den Aufenthaltsort zu wählen, ist keine Freiheitsberaubung. Nur eine umfassende Aufhebung dieser Freiheit erfüllt den Tatbestand. Wird eine Person gezwungen, einen Ort zu verlassen, oder an dessen Betreten gehindert, wird sie allenfalls im Sinne von Art. 181 StGB genötigt (zum Ganzen ANDREAS DONATSCH, Delikte gegen den Einzelnen, 10. Aufl. 2013, S. 454; DELNON/RÜDY, a.a.O., N. 20 zu Art. 183 StGB; STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, Besonderer Teil I: Straftaten gegen Individualinteressen, 7. Aufl. 2010, § 5 N. 35; BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. I, 3. Aufl. 2010, N. 20 zu Art. 183 und 184 StGB; MARTIN SCHUBARTH, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Bd. III: Delikte gegen die Ehre, ![]() | 10 |
Was als Aufenthaltsort zu verstehen ist, ob darunter ein Raum, ein Fahrzeug, ein Haus, ein Gebiet oder allenfalls auch ein Land fällt, wird in der Rechtsprechung und Lehre nicht näher definiert. BERNARD CORBOZ hält fest, der Ort sei nicht wichtig. Es könne sich um einen Ort unter freiem Himmel, einen Raum oder ein Transportmittel handeln (CORBOZ, a.a.O., N. 18 zu Art. 183 und 184 StGB). Die Botschaft vom 23. Juli 1918 zu einem Gesetzesentwurf enthaltend das Schweizerische Strafgesetzbuch (BBl 1918 IV 1) und die Botschaft vom 10. Dezember 1979 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (BBl 1980 I 1241) äussern sich nicht dazu. Die in Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB beispielhaft genannten Tathandlungen des Festnehmens und Gefangenhaltens deuten darauf hin, dass der Tatbestand restriktiv anzuwenden ist. Hierfür spricht auch die hohe Strafandrohung der qualifizierten Freiheitsberaubung (vgl. BGE 118 IV 61 E. 3c S. 65 f.; BGE 116 IV 312 E. 2d/aa S. 315 f.). Der Gesetzgeber wollte Situationen erfassen, in denen Personen gänzlich an der Betätigung der körperlichen Fortbewegungsfreiheit gehindert werden. Die Rechtsprechung bejahte einen Freiheitsentzug unter anderem, als eine Ehefrau die Familienwohnung nicht verlassen durfte (Urteil 6B_139/2013 vom 20. Juni 2013 E. 2), beim Festhalten in einer Wohnung während 20 bis 30 Minuten (Urteil 6B_400/2012 vom 15. November 2012 Sachverhalt lit. A), beim Einschliessen in der Waschküche (Urteil 6B_20/2012 vom 29. Mai 2012 E. 1.3.5), bei einer Fahrt in einem Auto gegen den Willen des Opfers (BGE 89 IV 85 E. 1 S. 87; Urteil 6B_1064/2013 vom 10. März 2014 E. 1), bei einer unrechtmässigen Inhaftierung aufgrund einer falschen Anschuldigung (Urteil 6B_899/2013 vom 17. März 2014 E. 3) und bei einer Festnahme einer auf frischer Tat ertappten verdächtigen Person durch den Geschädigten, sofern sie länger dauert als die Zeit, welche die Polizei bräuchte, um zum Ort des Geschehens zu gelangen (BGE 128 IV 73 E. 2a-d S. 74 ff.).
| 11 |
![]() | 12 |
Erwägung 4.5 | |
13 | |
4.5.2 Nach Art. 183 Ziff. 2 StGB macht sich strafbar, wer jemanden entführt, der urteilsunfähig, widerstandsunfähig oder noch nicht 16 Jahre alt ist. Der Tatbestand der Entführung setzt voraus, dass ![]() | 14 |
15 | |
16 | |
In BGE 118 IV 61 erwog das Bundesgericht, dass der Schutz der Freiheit des Kindes bezüglich der Wahl seines Aufenthaltsorts den ![]() | 17 |
In BGE 126 IV 221 änderte das Bundesgericht seine Rechtsprechung dahin gehend, als unabhängig davon, ob die Ortsveränderung dem Wohl und dem Interesse des Kindes entspricht, keine Entführung begeht, wer Inhaber der elterlichen Sorge ist und das Recht hat, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. Anders liegt es, wenn das Obhutsrecht einem Elternteil allein zugeteilt wird. Alsdann ist der andere Elternteil nicht mehr berechtigt, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. Wechselt er dennoch eigenmächtig dessen Aufenthaltsort, liegt unter den Voraussetzungen von Art. 183 Ziff. 2 StGB eine Entführung vor. Seinen Entscheid begründete das Bundesgericht damit, dass das Wohl des Kindes beim Entführungstatbestand kein ausschlaggebendes Kriterium ist. Je nach Fall ist sehr schwer festzustellen, ob sich ein Wechsel des Aufenthaltsorts mit dem Wohle des Kindes verträgt oder nicht (E. 1b S. 222 f.).
| 18 |
4.5.5 An dieser Rechtsprechung kann in dieser Absolutheit nicht festgehalten werden. Der Grundsatz, wonach derjenige Elternteil, der das Recht hat, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, keine Entführung im Sinne von Art. 183 Ziff. 2 StGB begehen kann, behält Gültigkeit. Vorliegend drängt es sich jedoch auf zu prüfen, ob dem Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern (zivilrechtliche) Schranken gesetzt sind. So hielt bereits ROBERT KOBER zur altrechtlichen Kindesentführung (aArt. 185 StGB in der bis am 30. September 1982 gültig gewesenen Fassung [AS 54 757], wonach bestraft wurde, wer ein Kind unter 16 Jahren zum Zweck der Gewinnsucht oder der Unzucht entführte) fest, eine Entführung aus Gewinnsucht oder zu einem unzüchtigen Zweck sei ein so starker Eingriff in die Freiheit der körperlichen Integrität und der Entwicklung des Kindes, dass eine solche Tat niemals im Rahmen der elterlichen oder ![]() | 19 |
Gemäss aArt. 296 Abs. 1 ZGB (in der im Tatzeitpunkt und bis am 30. Juni 2014 in Kraft gestandenen Fassung; AS 1999 1118) stehen Kinder, solange sie unmündig sind, unter elterlicher Sorge (ähnlich Art. 296 Abs. 2 ZGB). Die elterliche Sorge umfasst unter anderem das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen (aArt. 301 Abs. 3 ZGB; Art. 301 Abs. 3 und Art. 301a ZGB) und über dessen Erziehung zu entscheiden (Art. 302 ZGB). Dabei sind die Eltern jedoch nicht völlig frei, sondern haben sich am Wohl des Kindes zu orientieren und dessen Persönlichkeit zu achten (aArt. 272 und 301 Abs. 1 ZGB; Art. 296 Abs. 1 ZGB; vgl. BGE 136 III 353 E. 3.3 S. 358). Beim Aufenthaltsbestimmungsrecht sind Aspekte der Stabilität und Kontinuität von besonderer Bedeutung (INGEBORG SCHWENZER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 2 und 12 zu Art. 301 ZGB). Ferner kann die elterliche Sorge durch andere Gesetzesbestimmungen eingeschränkt sein (vgl. SCHWENZER, a.a.O., N. 16 zu Art. 301 ZGB).
| 20 |
Das Bundesgericht entschied in einem nicht publizierten Urteil aus dem Jahr 2003, das Einschliessen und Gefangenhalten eines Kindes während mehrerer Tage stelle keine zulässige Erziehungsmassnahme dar und erfülle den Tatbestand der Freiheitsberaubung (Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB). Es legte anhand des Erziehungsrechts der Eltern dar, dass es unter gewissen Bedingungen ein zulässiges Erziehungsmittel sein könne, sein Kind einzuschliessen. Jedoch rechtfertige das Erziehungsrecht der Eltern nicht jegliche Erziehungsmassnahme. Diese hätten immer im Blick auf das Wohl des Kindes zu erfolgen (Urteil 6S.145/2003 vom 13. Juni 2003 E. 2; vgl. zum elterlichen Züchtigungsrecht BGE 129 IV 216 E. 2 S. 219 ff.; Urteil 6P.106/2006 vom 18. August 2006 E. 6.4; BARBARA LOPPACHER, Erziehung und Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht [Art. 219 StGB], ZStStr 58/2011 S. 29 ff.). Im gleichen Entscheid wurde mit Hinweis auf BGE 126 IV 221 ausgeführt, die Freiheitsberaubung unterscheide sich von der ![]() | 21 |
Zusammengefasst ist grundsätzlich jeder Elternteil, der das Recht hat, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, berechtigt, diesen zu verändern, ohne eine Entführung im Sinne von Art. 183 Ziff. 2 StGB zu begehen. Greift die Verbringung des Kindes an einen anderen Ort massiv in dessen Interessen ein, lässt sich die Tat nicht mit dem Aufenthaltsbestimmungsrecht rechtfertigen.
| 22 |
4.5.6 Vorliegend sind die objektiven Tatbestandsmerkmale der Entführung gemäss Art. 183 Ziff. 2 StGB erfüllt. Indem der Beschwerdeführer seine damals 3˝- und 5-jährigen Söhne an einen unbekannten Ort in Nigeria verbrachte, erlangte er über sie eine Machtposition. Die Ortsveränderung ist dauerhaft und die Kinder können nicht unabhängig vom Willen des Beschwerdeführers an ihren gewohnten Aufenthaltsort zurückkehren. Auf den Willen der Kinder kommt es nicht an. Daher braucht auf die im Zusammenhang mit dem Tatbestand der Freiheitsberaubung vorgebrachte Rüge nicht eingegangen zu werden, die Vorinstanz verletze das Anklageprinzip und das Willkürverbot, wenn sie annehme, die Kinder weilten nicht freiwillig in Nigeria. Die Verbringung der Kinder lässt sich nicht mehr durch das Aufenthaltsbestimmungsrecht des Beschwerdeführers rechtfertigen. Gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen hat er die Interessen und das Wohl seiner Kinder in eklatanter Weise verletzt. Er verbrachte sie an einen unbekannten Ort in Nigeria, zu ihnen nicht näher bekannten Personen, fernab von ihrer Mutter, bei der sie bis dahin ununterbrochen lebten. Weder konnten sie sich von ihr verabschieden ![]() | 23 |
4.5.7 Ob der Tatbestand von Art. 183 Ziff. 2 StGB auch in subjektiver Hinsicht erfüllt ist, kann aufgrund der Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nicht abschliessend beurteilt werden. Es obliegt ihr, darüber und über den (neuen) Schuldpunkt zu entscheiden. Dabei wird sie dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör gewähren müssen.
| 24 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |