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26. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen X. sowie Y. gegen X. und Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_1045/2014 / 6B_1046/2014 vom 19. Mai 2015 |
Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 StGB, Art. 183 Ziff. 1 und aArt. 220 StGB, Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 lit. a und b des Haager Kindesschutzübereinkommens (HKsÜ); Zuständigkeit der schweizerischen Gerichtsbarkeit bei Entführung und Entziehung eines Unmündigen. |
Art. 31 und aArt. 220 StGB; Entziehen eines Unmündigen bzw. Minderjährigen; Strafantragsfrist. | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.a X. brachte im Sommer 2010 im Einverständnis mit ihrem heute getrennt von ihr lebenden Ehemann Y. den gemeinsamen Sohn Z., geboren am 17. Dezember 2005, in die Ukraine, wo er die Sommerschulferien bei seiner Grossmutter verbringen sollte. Die Eltern hatten vereinbart, dass Z. auf den Schulbeginn am 18. August 2010 in die Schweiz zurückkehren sollte. Als Z. im August 2010 noch nicht in der Schweiz angekommen war, überzeugte X. ihren Ehemann, den Aufenthalt des Sohnes bis Ende des Jahres 2010 zu verlängern, weil sie wegen ihrer Dissertation und ihrer Anstellung an der ETH ![]() | 2 |
X. wird vorgeworfen, sie habe entgegen ihren Versprechungen gegenüber ihrem Ehemann von Anbeginn die Absicht gehabt, ihren Sohn für immer in der Ukraine zurückzuhalten.
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A.b Das Bezirksgericht Brugg stellte mit superprovisorischer Verfügung vom 7. April 2011 Z. vorläufig unter die Obhut von Y. und verpflichtete X., den Sohn zur Ausübung der Obhut bis spätestens am 10. April 2011 herauszugeben. Mit Teilentscheid vom 21. April 2011 bestätigte das Bezirksgericht Brugg diese Verfügung und verpflichtete X., ihren Sohn Z. unverzüglich in die eheliche Wohnung zurückzubringen. Dieser Verpflichtung kam X. nicht nach und verweigerte ihrem Ehemann jeglichen Kontakt zum gemeinsamen Sohn. Sie versagte auch aus der Untersuchungshaft die Zustimmung zur Ausreise des Sohnes aus der Ukraine.
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B. Das Bezirksgericht Brugg erklärte X. am 3. Dezember 2013 der Freiheitsberaubung gemäss Art. 183 Ziff. 1 Satz 1 StGB und der Entziehung eines Unmündigen gemäss aArt. 220 StGB (in der bis zum 30. Juni 2014 geltenden Fassung) schuldig und verurteilte sie zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren, unter Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Von der Anklage der Entführung im Sinne von Art. 183 Ziff. 1 Satz 2 und Art. 183 Ziff. 2 StGB sprach es sie frei. Ferner widerrief das Bezirksgericht die mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach vom 11. Oktober 2011 bedingt aufgeschobene Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 200.-.
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Gegen dieses Urteil erhob die Beurteilte Berufung und die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach Anschlussberufung. Mit Urteil vom 5. September 2014 trat das Obergericht des Kantons Aargau auf die Berufung nicht ein. Es hob das erstinstanzliche Dispositiv auf, bestätigte den erstinstanzlichen Freispruch von der Anklage der Entführung gemäss Art. 183 Ziff. 1 Satz 2 sowie Art. 183 Ziff. 2 StGB und stellte das gegen X. geführte Strafverfahren hinsichtlich der ![]() | 6 |
C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerdeführerin 1) und Y. (Beschwerdeführer 2) führen Beschwerde in Strafsachen. Die Oberstaatsanwaltschaft stellt Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Durchführung eines Berufungsverfahrens. Y. beantragt, die Sache sei zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei die Berufung von X. (Beschwerdegegnerin) abzuweisen.
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D. Das Obergericht des Kantons Aargau beantragt die Abweisung der Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft. Zur Beschwerde von Y. liess es sich nicht vernehmen. Die Oberstaatsanwaltschaft hat auf Gegenbemerkungen zur Beschwerde von Y. verzichtet. X. hat sich nicht vernehmen lassen.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 5 | |
5.1 Die Beschwerdeführerin 1 macht in Bezug auf die Frage der schweizerischen Gerichtsbarkeit geltend, die Beschwerdegegnerin habe spätestens im Dezember 2010 den Vorsatz gefasst, das Kind in der Ukraine zurückzubehalten. Denn dem Beschwerdeführer 2, der zu jenem Zeitpunkt in die Ukraine gereist war, sei es auf Anweisung der Beschwerdegegnerin verwehrt worden, seinen Sohn eigenhändig in die Schweiz zurückzuholen. Im Dezember 2010, als sie ihrer Mutter die Anweisung erteilt habe, das Kind zurückzubehalten, habe sich die Beschwerdegegnerin noch in der Schweiz befunden. Sie sei auch während weiterer drei Monate in der Schweiz verblieben, ohne den Sohn in die Schweiz an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zu bringen und damit den rechtmässigen Zustand wieder herzustellen. Dadurch habe sie den Tatbestand der Freiheitsberaubung sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun erfüllt, wobei der Handlungsort in der Schweiz liege. Die Vorinstanz nehme daher zu Unrecht an, es liege ein Auslanddelikt vor. Ob der ![]() | 9 |
Die Beschwerdeführerin 1 rügt weiter, die Vorinstanz verletze Bundesrecht auch insofern, als sie die schweizerische Gerichtsbarkeit in Bezug auf den Tatbestand des Entziehens eines Unmündigen im Sinne von aArt. 220 StGB verneine. Dass die minderjährige Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt am gleichen Ort wie der Inhaber des Obhutsrechts habe, sei nicht Voraussetzung der Strafbarkeit. Es stehe einer Bestrafung mithin nicht entgegen, wenn das entzogene Kind einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Land begründet habe. Die Regelung internationaler Abkommen über die zivilrechtliche Zuständigkeit von Zivilgerichten im Falle von Kindsentführungen berühre die Zuständigkeit für die strafrechtliche Verfolgung der entsprechenden Taten nicht. Die Beschwerdegegnerin sei daher nach schweizerischem Recht strafbar, da beide Elternteile die elterliche Sorge ausgeübt hätten und die Beschwerdegegnerin sich geweigert habe, den gemeinsamen Sohn in die Schweiz zurückzubringen. Die Beschwerdegegnerin sei mit dem Beschwerdeführer 2 verheiratet gewesen. Solange sie sich in der Schweiz aufgehalten habe, habe ein gemeinsames Sorgerecht nach schweizerischem Recht bestanden. Sie habe daher - auch nachdem der Sohn in die Ukraine verbracht worden sei - nicht alleine über dessen Aufenthalt entscheiden dürfen.
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5.2 Gemäss Art. 3 Abs. 1 StGB ist dem Schweizerischen Strafgesetzbuch unterworfen, wer in der Schweiz ein Verbrechen oder ein ![]() | 11 |
Beim Unterlassungsdelikt liegt der Handlungsort dort, wo der Täter handeln müsste (BGE 125 IV 14 E. 2c/aa). Ist die strafrechtlich gebotene Handlung nicht an einen bestimmten Ort gebunden, ist der Handlungsort jeder bis zu diesem Zeitpunkt faktisch gewählte, vorübergehende Aufenthaltsort des Unterlassungstäters (Urteil 6B_123/ 2014 vom 2. Dezember 2014 E. 2.3, nicht publ. in: BGE 141 IV 10, mit weiteren Hinweisen).
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Nach der Rechtsprechung erscheint es im internationalen Verhältnis zur Vermeidung negativer Kompetenzkonflikte grundsätzlich als geboten, auch in Fällen ohne engen Bezug zur Schweiz die schweizerische Zuständigkeit zu bejahen (BGE 133 IV 171 E. 6.3).
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Erwägung 5.3 | |
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Der Beschwerdeführer 2 und die Beschwerdegegnerin waren in der Tatzeit unbestrittenermassen beide Inhaber der elterlichen Sorge über den gemeinsamen Sohn. Die Beschwerdegegnerin durfte daher nicht uneingeschränkt über den Aufenthaltsort des Kindes ![]() | 15 |
Dieselben Erwägungen gelten in Bezug auf die Anklage der Freiheitsberaubung gemäss Art. 183 Ziff. 1 StGB. Nach dieser Bestimmung macht sich strafbar, wer jemanden unrechtmässig festnimmt oder gefangen hält (1. Halbsatz). Soweit die Beschwerdegegnerin sich in der fraglichen Zeit in der Schweiz aufhielt, hätte sie von ihrem Aufenthaltsort aus die Anweisung erteilen müssen, den Sohn in die Schweiz zurückzuführen. Indem sie dies unterliess, blieb sie in der Schweiz pflichtwidrig untätig. Daraus ergibt sich die schweizerische Gerichtsbarkeit. Bei dieser Sachlage muss nicht geprüft werden, ob die Beschwerdegegnerin bereits im Sommer 2010 den Vorsatz gefasst hatte, das Kind dauerhaft in die Ukraine zu verbringen, wofür die Beschwerde führenden Parteien stichhaltige Gründe vorbringen. Ob das Verhalten der Beschwerdegegnerin nach der neueren Rechtsprechung als Freiheitsberaubung im Sinne von Art. 183 Ziff. 1 StGB zu würdigen ist, bildet nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und muss daher nicht geprüft werden (vgl. hiezu nunmehr BGE 141 IV 10 E. 4.4).
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5.3.2 Was die Vorinstanz in diesem Kontext zur Zuständigkeit der Gerichte am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines Minderjährigen erwägt, ist ohne Bedeutung, zumal es hier nicht um die Regelung der Kinderbelange, namentlich die Zuteilung der elterlichen Sorge sowie die Regelung des persönlichen Verkehrs zwischen Eltern und Kindern geht (vgl. BGE 138 III 11 E. 5.1; BGE 132 III 586 E. 2.2.1). Es mag zutreffen, dass gemäss Art. 20 Abs. 1 lit. b IPRG (SR 291) eine natürliche Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat hat, in dem sie während längerer Zeit lebt, selbst wenn diese Zeit von vornherein befristet ist. Doch gilt diese gesetzliche Umschreibung nicht für Staatsverträge, denen die Schweiz beigetreten ist (vgl. Urteil 5A_427/ 2009 vom 27. Juli 2009 E. 3.2, in: FamPra.ch 2009 S. 1088; KURT ![]() | 17 |
Das angefochtene Urteil verletzt in diesem Punkt somit Bundesrecht.
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Erwägung 6 | |
6.1 In Bezug auf die Anklage des Entziehens eines Unmündigen nimmt die Vorinstanz in einer Eventualbegründung an, die Strafbarkeit der Beschwerdegegnerin wäre auch zu verneinen, wenn die schweizerische Gerichtsbarkeit zu bejahen wäre. Die Beschwerdegegnerin sei mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach vom 11. Oktober 2011 wegen Entziehens von Unmündigen, begangen im Zeitraum vom 1. Januar bis 11. Oktober 2011 rechtskräftig ![]() | 19 |
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6.3 Gemäss Art. 31 StGB (aArt. 29 StGB) erlischt das Recht, Strafantrag zu stellen, nach Ablauf von drei Monaten. Die Frist beginnt mit dem Tag, an welchem der antragsberechtigten Person der Täter bekannt wird. Ein Dauerdelikt liegt vor, wenn die Begründung des rechtswidrigen Zustandes mit den Handlungen, die zu seiner Aufrechterhaltung vorgenommen werden, bzw. mit der Unterlassung seiner Aufhebung eine Einheit bildet und das auf das Fortdauern des deliktischen Erfolgs gerichtete Verhalten vom betreffenden Straftatbestand ausdrücklich oder sinngemäss mitumfasst ist. Dauerdelikte sind mit anderen Worten dadurch gekennzeichnet, dass die zeitliche Fortdauer eines rechtswidrigen Zustandes oder Verhaltens noch tatbestandsmässiges Unrecht bildet. Das Dauerdelikt ist vollendet, wenn die strafbare Handlung ausgeführt wurde. Beendet ist es mit dem Ende oder der Unterdrückung des rechtswidrigen Zustandes. Die Rechtsprechung hat ein Dauerdelikt etwa bejaht bei der Freiheitsberaubung und der qualifizierten Entführung gemäss Art. 183 Ziff. 2 i.V.m. Art. 184 Abs. 4 StGB, der Vernachlässigung von Unterhaltspflichten im Sinne von Art. 217 StGB sowie dem ![]() | 21 |
6.4 Der Beschwerdeführer 2 erstattete am 4. März 2011 Strafanzeige/Strafantrag gegen die Beschwerdegegnerin wegen Entziehens von Unmündigen im Sinne von aArt. 220 StGB. Sein Strafantrag bezieht sich mithin auf ein Dauerdelikt. Die Antragsfrist beginnt bei der Tatvariante der "Weigerung der Rückgabe" von Art. 220 StGB mithin erst ab dem Zeitpunkt, in welchem der rechtswidrige Zustand beendet wird (ANDREAS ECKERT, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 3. Aufl. 2013, N. 36 zu Art. 220 StGB; DONATSCH/WOHLERS, Delikte gegen die Allgemeinheit, 4. Aufl. 2011, S. 29). Da der Antrag indes auch auf die auf den Antrag folgende spätere deliktische Tätigkeit weiterwirkt, liegt im zu beurteilenden Fall auch für die Zeit nach dem 11. Oktober 2011 ein gültiger Strafantrag vor. Daran ändert nichts, dass die Beschwerdegegnerin mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach vom 11. Oktober 2011 für den Zeitraum 1. Januar bis 11. Oktober 2011 des Entziehens von Unmündigen schuldig erklärt und zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt wurde. Für die von dieser Verurteilung erfasste Dauer des Delikts verbietet der Grundsatz "ne bis in idem" in einem späteren Verfahren indes eine erneute Bestrafung (BGE 135 IV 6 E. 3.2). Im Übrigen hat der Beschwerdeführer 2 am 25. Januar 2013 für alle in Frage kommenden Delikte erneut Strafantrag gestellt. Da das Dauerdelikt auch zu jenem Zeitpunkt nicht beendet war, ist auch dieser Antrag rechtzeitig erhoben worden. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach kein gültiger Strafantrag vorliege, verstösst somit gegen Bundesrecht.
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