![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
17. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Departement Volkswirtschaft und Inneres, Amt für Justizvollzug und Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_640/2015 vom 25. Februar 2016 | |
Regeste |
Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB; stationäre therapeutische Behandlung von psychischen Störungen, Beginn der fünfjährigen Dauer. | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
B. Auf Ersuchen des Amts für Justizvollzug des Kantons Aargau (nachfolgend: AJV) beantragte die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm am 30. Juli 2013 beim Bezirksgericht Zofingen, es sei gegenüber X. nachträglich eine stationäre therapeutische Massnahme anzuordnen. Gleichentags ersuchte sie das Zwangsmassnahmengericht Muri, X. im Anschluss an das ordentliche Strafende in Sicherheitshaft zu versetzen.
| 2 |
Am 2. August 2013 ordnete das Zwangsmassnahmengericht Muri über X. per 11. August 2013 Sicherheitshaft an.
| 3 |
Das Bezirksgericht Zofingen ordnete am 14. November 2013 gegenüber X. eine stationäre therapeutische Massnahme für die Dauer von eineinhalb Jahren an. Ferner verlängerte es die Sicherheitshaft. Das bezirksgerichtliche Urteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
| 4 |
Am 27. Februar 2014 beschloss das Bezirksgericht Zofingen, dass X. bis am 13. Mai 2014 in Sicherheitshaft verbleibt.
| 5 |
X. trat am 12. Mai 2014 zum Massnahmevollzug in die Psychiatrische Klinik Königsfelden (nachfolgend: PKK) ein.
| 6 |
C. Im Vollzugsbefehl vom 11. Juni 2014 hielt das AJV in Ziffer 2 fest, der stationäre Massnahmevollzug von X. dauere höchstens einhalb Jahre, gerechnet ab dem 12. Mai 2014, zuzüglich allfälliger ![]() | 7 |
Die hiergegen geführten Beschwerden von X. an das Departement Volkswirtschaft und Inneres sowie das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau blieben erfolglos.
| 8 |
Am 1. Mai 2015 ist X. aus der PKK entwichen.
| 9 |
D. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das verwaltungsgerichtliche Urteil und Ziffer 2 des Vollzugsbefehls vom 11. Juni 2014 seien aufzuheben. Dieser sei wie folgt abzuändern: "Der stationäre Massnahmevollzug dauert höchstens eineinhalb Jahre, gerechnet ab 14. November 2013. Eine Verlängerung der Massnahme bleibt dem zuständigen Gericht ausdrücklich vorbehalten." Eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
| 10 |
E. Das Verwaltungsgericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichten auf eine Stellungnahme, die Oberstaatsanwaltschaft mit dem Antrag, die Beschwerde kostenfällig abzuweisen. Das AJV lässt sich nicht vernehmen.
| 11 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
| 12 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 4 | |
13 | |
Angesichts dieser Konstellation ist vorliegend zu prüfen, wann die vom Bezirksgericht angeordnete Massnahmedauer von eineinhalb ![]() | 14 |
Da dies nicht der Fall war, ist zu entscheiden, ob bei der Berechnung der angeordneten Massnahmedauer lediglich die Zeit, in welcher der Beschwerdeführer tatsächlich in der PKK behandelt wurde, einzubeziehen ist, oder auch die Zeit, die er nach der Anordnung der Massnahme in Sicherheitshaft verbrachte. Mangels Antrag nicht zu beurteilen ist, ob und inwiefern die vor dem Urteil des Bezirksgerichts ausgestandene Sicherheitshaft zu berücksichtigen ist (vgl. Art. 107 Abs. 1 BGG). Gleiches gilt hinsichtlich der (umstrittenen) Frage, wie zu entscheiden wäre, wenn der Beschwerdeführer die Massnahme vorzeitig angetreten hätte (vgl. Art. 236 StPO; MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 129 zu Art. 59 StGB; QUELOZ/MUNYANKINDI, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. I, 2009, N. 35 zu Art. 59 StGB).
| 15 |
4.2 Obwohl es sich vorliegend um eine vom Gericht nach eigenem Ermessen beschränkte Massnahmedauer handelt, rechtfertigt es sich aus Gründen der Rechtsgleichheit und Praktikabilität, den Beginn der gerichtlich festgesetzten Dauer jenem der gesetzlichen Dauer der Behandlung von psychischen Störungen gemäss Art. 59 Abs. 4 StGB gleichzusetzen (vgl. zu den übrigen stationären therapeutischen Massnahmen: Art. 60 Abs. 4 und Art. 61 Abs. 4 StGB). Nach Art. 59 Abs. 4 StGB beträgt der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug in der Regel höchstens fünf Jahre. Sind die Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben und ist zu erwarten, durch die Fortführung der Massnahme lasse sich der Gefahr weiterer mit der psychischen Störung des ![]() | 16 |
Das Bundesgericht hat sich noch nie dazu geäussert, in welchem Zeitpunkt eine gerichtliche oder gesetzliche Höchstdauer der Massnahme beginnt. Auch in der Literatur wird die Frage soweit ersichtlich kaum diskutiert. HEER beschreibt die Problematik hinsichtlich des Beginns der in Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB genannten Frist anschaulich. Sie weist darauf hin, dass die Unterbringung in einer Massnahmeanstalt gelegentlich nicht sofort möglich ist, weshalb ein Straftäter aus organisatorischen Gründen vorerst anderweitig, beispielsweise in einem Untersuchungsgefängnis, platziert werden muss, was, so HEER, höchstens in sehr eingeschränktem Rahmen möglich sei. In solchen Fällen sei die Aufnahme in der spezialisierten Einrichtung für die Berechnung der Dauer der Massnahme massgebend. Der Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis müsse auf die Strafe angerechnet werden. Es erscheine vernünftig, dass ein Freiheitsentzug erst als Massnahme gelte, wenn er seine Wirkungen auch tatsächlich entfalten könne. Andererseits vertritt HEER die Ansicht, dass ungenügende Vollzugsmöglichkeiten dem Betroffenen nicht zum Nachteil gereichen dürfen. Für eine inadäquate Unterbringung etwa in einem Untersuchungsgefängnis fehle an sich auch eine rechtliche Grundlage, da im Sachurteil eine Massnahme angeordnet worden sei. Diesem Problem liesse sich dadurch begegnen, dass bereits der Freiheitsentzug im Untersuchungsgefängnis als Massnahmevollzug erachtet werde. Entsprechend berechne sich die Dauer der Massnahme ab Rechtskraft des Sachurteils (HEER, a.a.O., N. 129 zu Art. 59 StGB). QUELOZ/MUNYANKINDI und ANASTASIADIS vertreten ohne weitere Begründung die Ansicht, für die Berechnung der Dauer der Massnahme sei der Zeitpunkt der Aufnahme in die spezialisierte Einrichtung massgebend (QUELOZ/MUNYANKINDI, a.a.O., N. 35 zu Art. 59 StGB; RENATE ANASTASIADIS, in: Das schweizerische Vollzugslexikon, Benjamin F. Brägger [Hrsg.], 2014, S. 294). NOLL/GRAF/STÜRM/BORCHARD/SPILLER/URBANIOK unterscheiden zwischen formellem und materiellem Beginn der Massnahme. Während der Massnahmevollzug formell mit Erwachsen des Urteils in Rechtskraft beginne, gelte die Massnahme materiell mit Eintritt in die spezialisierte Einrichtung als angetreten (NOLL UND ANDERE, Erste Praxiserfahrungen mit stationären Massnahmen nach Art. 59 Abs. 3 StGB, AJP 2010 S. 593 ff., 595).
| 17 |
![]() | 18 |
Erwägung 5 | |
19 | |
5.2 Der Wortlaut von Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB erscheint in allen Sprachfassungen nicht eindeutig und lässt verschiedene Interpretationen zu. Nach der deutschen Fassung beträgt "der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug in der Regel höchstens fünf Jahre". Der französische Gesetzestext lautet "la privation de liberté entraînée par le traitement institutionnel ne peut en règle générale excéder cinq ans". Die italienische Version spricht von "la privazione della libertà connessa al trattamento stazionario non supera di regola i cinque anni". Einerseits kann damit lediglich der Freiheitsentzug gemeint sein, während dem der Betroffene tatsächlich behandelt wird, was darauf hindeuten könnte, dass die Frist erst mit dem Antritt der effektiven Behandlung beginnt. Andererseits ist auch der Freiheitsentzug, während dem der Massnahmeunterworfene in einer Straf- oder Haftanstalt ohne Behandlung auf einen Platz in einer spezialisierten Einrichtung oder Strafanstalt (vgl. Art. 59 Abs. 2 und 3 StGB) wartet, mit der stationären Behandlung verbunden, womit er ebenfalls vom Wortlaut erfasst wird. Dies wiederum würde bedeuten, dass die Dauer in dem Zeitpunkt beginnt, ab welchem dem Betroffenen die Freiheit gestützt auf einen Sachentscheid entzogen ist. Satz 2 von ![]() | 20 |
Ebenso wenig hilft der Umstand, dass das Gesetz verschiedentlich eine ähnliche Formulierung wie jene von Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB verwendet ("mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug" [Art. 57 Abs. 3, Art. 60 Abs. 4 Satz 3, Art. 61 Abs. 4, Art. 62b Abs. 3 und Art. 62c Abs. 2 StGB], "mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug" [Art. 60 Abs. 4 Satz 1 StGB], "mit der ambulanten Behandlung verbundene Freiheitsentzug" [Art. 63b Abs. 4 StGB]).
| 21 |
22 | |
5.4 Systematisch steht Art. 59 StGB in Zusammenhang mit den übrigen Bestimmungen des Massnahmerechts, insbesondere Art. 56 ff. StGB (Grundsätze zu den Massnahmen) und Art. 62 ff. StGB ([bedingte] Entlassung sowie Aufhebung der stationären Massnahmen). Die Systematik sowie Sinn und Zweck des Massnahmerechts generell sowie der stationären therapeutischen Behandlung von psychischen Störung im Besonderen lassen ebenfalls darauf schliessen, dass ![]() | 23 |
Folge des Zwecks der Massnahme gemäss Art. 59 StGB - die Verhinderung von weiteren Straftaten zum Schutz der Allgemeinheit (ausführlich hierzu: BGE 141 IV 236 E. 3.7 f. S. 241 f. mit Hinweisen; vgl. auch: BGE 124 IV 246 E. 3b S. 250 f. mit Hinweisen; HEER, a.a.O., N. 1 und 3 Vor Art. 56 StGB) - ist, dass sie im Gegensatz zu einer Strafe unabhängig vom Verschulden des Betroffenen angeordnet wird und zeitlich nicht absolut limitiert ist. Ihre Dauer hängt vom Behandlungsbedürfnis des Massnahmeunterworfenen und der Erfolgsaussicht der Massnahme (vgl. Art. 56 Abs. 1 lit. b StGB), letztlich also von den Auswirkungen der Massnahme auf die Gefahr weiterer Straftaten ab (vgl. BGE 141 IV 49 E. 2.1 S. 51; BGE 136 IV 156 E. 2.3 S. 158). Da eine stationäre therapeutische Massnahme in die verfassungsmässig garantierten Grundrechte des Massnahmeunterworfenen eingreift, hat sie dem Gebot der Verhältnismässigkeit zu entsprechen (Art. 36 Abs. 2 und 3 BV). Dieser Grundsatz gilt im gesamten Massnahmerecht, sowohl bei der Anordnung von Massnahmen als auch bei den Folgeentscheidungen. Er wird im StGB konkretisiert. Art. 56 Abs. 2 StGB besagt, dass der mit einer Massnahme verbundene Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismässig sein darf. Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz verlangt, dass die Sicherheitsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Betroffenen als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden (Urteil 6B_109/2013 vom 19. Juli 2013 E. 4.4 mit Hinweisen; vgl. auch: Urteil 6B_596/2011 vom 19. Januar 2012 E. 3.2 mit Hinweisen; zur Verlängerung nach Art. 59 Abs. 4 StGB: BGE 135 IV 139 E. 2.4 S. 143 f.; siehe ferner: BGE 136 IV 156 E. 3.2 S. 161 f.; HEER, a.a.O., N. 128 zu Art. 59 StGB). Insbesondere die Beschränkung des mit der stationären therapeutischen Behandlung verbundenen Freiheitsentzugs sowie der Verlängerung der Massnahme auf in der Regel fünf Jahre trägt dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung. Der Staat soll dem Betroffenen die Freiheit nur so lange entziehen können, als die von ihm ausgehende Gefahr dies zu rechtfertigen vermag.
| 24 |
5.5 Aufgrund des Wortlauts von Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB, wonach der mit der Behandlung verbundene Freiheitsentzug in der Regel höchstens fünf Jahre beträgt, drängen sich einige Überlegungen zu den möglichen Arten des Freiheitsentzugs auf. Nach der ![]() | 25 |
Fraglich erscheint, ob Sicherheitshaft auch noch angeordnet oder weitergeführt werden muss bzw. darf, wenn der Massnahmeentscheid rechtskräftig und vollstreckbar ist. Denn damit liegt ein gültiger Vollzugstitel vor (vgl. E. 5.7 nachfolgend), welcher die Grundlage für den Freiheitsentzug des Betroffenen bildet. Es erscheint zumindest prüfenswert, ob in dieser Situation überhaupt noch Raum für die Anordnung bzw. Weiterführung von Sicherheitshaft (nach Art. 221 i.V.m. 231 f. oder Art. 440 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. a StPO) besteht. Die Frage kann jedoch vorliegend offenbleiben. In jedem Fall dient der Aufenthalt ohne Behandlung in einer Straf- oder Haftanstalt nach der rechtskräftigen gerichtlichen Anordnung einer stationären Massnahme der Sicherung des Betroffenen bzw. des Vollzugs der Massnahme (vgl. für die Sicherheitshaft: Art. 231 Abs. 1 lit. a und Art. 440 Abs. 1 StPO; BENJAMIN F. BRÄGGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 440 StPO; MARC FORSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 4 zu Art. 231 StPO). Folglich stellt er einen mit der stationären Behandlung verbundenen Freiheitsentzug im Sinne von Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB dar.
| 26 |
5.6 Nach dem Gesagten stellt die zeitliche Begrenzung von Art. 59 Abs. 4 StGB sicher, dass ein Gericht regelmässig überprüft, ob die Massnahme und damit letztlich der mit ihr verbundene ![]() | 27 |
Dies erscheint auch praktikabel, da in jedem Einzelfall unabhängig von den konkreten Umständen auf den Entscheid abgestellt wird, mit dem die Massnahme angeordnet wurde. So braucht jeweils nicht abgeklärt zu werden, ob der Massnahmeunterworfene während seinem Aufenthalt in der Straf- oder Haftanstalt bereits teilweise therapeutisch betreut wurde, als er auf einen Behandlungsplatz wartete, und ob dies gegebenenfalls beim Beginn der Massnahmedauer zu berücksichtigen wäre. Auch das Gleichheitsgebot spricht dafür, den Aufenthalt nach Anordnung der Massnahme in einer Straf- oder Haftanstalt zu berücksichtigen, denn die einzelnen Betroffenen können in der Regel nicht beeinflussen, wie lange sie auf eine effektive Behandlung warten müssen.
| 28 |
5.7 Mit dem Entscheid, in welchem das Gericht die Voraussetzungen gemäss Art. 59 Abs. 1 i.V.m. Art. 56 StGB für die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme bejaht, liegt ein gültiger Vollzugstitel vor. Ab diesem Zeitpunkt wird dem Betroffenen die Freiheit immer im Hinblick auf den Massnahmevollzug entzogen (vgl. E. 5.5 vorstehend). Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass formelle Rechtskraft und Vollstreckbarkeit nicht zwangsläufig miteinander einhergehen. Es rechtfertigt sich daher, den Beginn der Dauer gemäss Art. 59 Abs. 4 StGB von einem rechtskräftigen und vollstreckbaren ![]() | 29 |
Wie der Beschwerdegegner 1 im kantonalen Verfahren zutreffend einwendete, besteht bei dieser Lösung die Möglichkeit, dass der Betroffene die effektive Behandlungsdauer vermeintlich verkürzt. Er könnte ein Rechtsmittel gegen den erstinstanzlichen Entscheid ergreifen und dieses kurz vor dem Entscheid der zweiten Instanz zurückziehen. Diesfalls würde der erstinstanzliche Entscheid rückwirkend auf den Tag, an dem er gefällt wurde, rechtskräftig und vollstreckbar (Art. 437 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 StPO). Die Zeit, die der Betroffene während des Rechtsmittelverfahrens ohne Behandlung in einer Straf- oder Haftanstalt verbracht hätte, würde bei der Fünfjahresfrist berücksichtigt. Ein solches Vorgehen liegt jedoch keinesfalls im Interesse des Massnahmeunterworfenen. Einerseits wird er in dieser Zeit nicht behandelt, womit sich auch sein Zustand nicht verbessern kann. Andererseits würde mit diesem Vorgehen nicht zwangsläufig auch die Massnahmedauer reduziert; vielmehr würde das Gericht lediglich nach kürzerer effektiver Behandlungsdauer die Verlängerung der Massnahme prüfen müssen (vgl. Art. 59 Abs. 4 StGB).
| 30 |
Erwägung 5.8 | |
5.8.1 Die gefundene Lösung führt dazu, dass die effektive Behandlungsdauer um die nach dem rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheid ohne Behandlung in einer Straf- oder Haftanstalt verbrachte Zeit verkürzt wird. Dies ist in Kauf zu nehmen. Einzig auf den Freiheitsentzug während der stationären Behandlung abzustellen, wäre mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht vereinbar. Diesfalls bliebe ein (längerer) Freiheitsentzug in einer Straf- oder Haftanstalt, während dem ein Betroffener ohne Behandlung auf einen Platz in einer geeigneten Einrichtung oder Strafanstalt wartet, unberücksichtigt. Hier ist anzumerken, dass zwischen einem solchen Aufenthalt ohne Behandlung und der Behandlung des Massnahmeunterworfenen in einer Strafanstalt nach Art. 76 Abs. 2 StGB zu unterscheiden ist. Während Ersterer der Sicherung des Betroffenen bzw. des Vollzugs der Massnahme dient (vgl. E. 5.5 vorstehend), ist die Behandlung in einer Strafanstalt eine Vollzugsart bzw. -form der stationären therapeutischen Massnahme von psychischen Störungen und in Art. 59 Abs. 3 StGB gesetzlich vorgesehen (vgl. hierzu: BGE 142 IV 1 E. 2.4.4 S. 7). ![]() | 31 |
Eine Unterbringung in einer Straf- oder Haftanstalt ohne Behandlung steht - unabhängig davon, ob Sicherheitshaft angeordnet wurde oder nicht - letztlich auch in Widerspruch zu der rechtskräftigen Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme (vgl. HEER, a.a.O., N. 100c zu Art. 59 StGB). So hat das Bundesgericht zur pointierteren Lage im Jugendstrafrecht, das die Unterbringung eines Jugendlichen in einer Strafanstalt nicht (mehr) vorsieht, sowie unter Geltung des kantonalen Verfahrensrechts festgehalten, der Umstand, dass eine adäquate Institution nicht gefunden werden kann, berechtige die Vollzugsbehörden nicht dazu, den Betroffenen wochen- oder monatelang in einer Strafanstalt unterzubringen (vgl. Urteile 6A.20/2006 vom 12. Mai 2006 E. 4.5 [zurUnterbringung in einem Erziehungsheim gemäss aArt. 91 Ziff. 1 Abs. 1 StGB]; 1P.334/2003 vom 17. Juli 2003E. 8.5 f. [zur Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt nachaArt. 100bis StGB];HEER, a.a.O., N. 87 zu Art. 56 StGB und N. 100b sowie 129 zu Art. 59 StGB). Daran ist auch hinsichtlich des Erwachsenenstrafrechts und nach Einführung der eidgenössischen Strafprozessordnung festzuhalten. Die Unterbringung des Betroffenen in einer Straf- oder Haftanstalt ist mit dem materiellen Bundesrecht vereinbar, solange es sich um eine kurzfristige Überbrückung einer Notsituation handelt (vgl. Urteil 6A.20/2006 vom 12. Mai 2006 E. 4.5). Da jedoch der Massnahmezweck nicht vereitelt werden darf, ist eine längerfristige Unterbringung in einer Straf- oder Haftanstalt, ohne dass die Voraussetzungen von Art. 59 Abs. 3 StGB vorliegen, nicht zulässig (vgl. HEER, a.a.O., N. 87 zu Art. 56 StGB; vgl. zum deutschen Recht: HEINZ SCHÖCH, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl., Berlin 2008, N. 33 ff. zu § 67 D-StGB).
| 32 |
Gleiches ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Dieser hat wiederholt festgehalten, dass der Freiheitsentzug einer behandlungsbedürftigen Person grundsätzlich nur rechtmässig ist, wenn er in einem Krankenhaus, einer Klinik oder in anderen hierfür geeigneten Institutionen erfolgt (vgl. Urteile des EGMR Papillo gegen Schweiz vom 27. Januar 2015 § 42; Glien gegen Deutschland vom 28. November 2013 § 75; Ashingdane gegen Vereinigtes Königreich vom 28. Mai 1985, ![]() | 33 |
Letztlich führt die nicht nur vorübergehende Unterbringung in einer Straf- oder Haftanstalt ohne Behandlung mit zunehmender Wartezeit dazu, dass der Zweck der Massnahme - die Resozialisierung des Betroffenen durch eine geeignete Behandlung - sowie der Anspruch des Massnahmeunterworfenen auf eine adäquate Behandlung (vgl. hierzu HEER, a.a.O., N. 4 und 7 Vor Art. 56 StGB) unterlaufen und die in Art. 57 Abs. 2 StGB vorgesehene Vollstreckungsreihenfolge - Massnahme vor Strafe - umgedreht wird. Hinzu kommt, dass das Behandlungsbedürfnis des Betroffenen nur so lange als Rechtfertigung für eine stationäre therapeutische Massnahme bzw. den damit verbundenen Freiheitsentzug herbeigezogen werden kann, als effektiv eine Behandlung stattfindet. Andernfalls kann der wahre Zweck der Massnahme ![]() | 34 |
35 | |
5.9 Zusammengefasst beginnt die in Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB festgesetzte Dauer einer stationären therapeutischen Massnahme, sofern dem Betroffenen nach der Massnahmeanordnung bis zum effektiven Behandlungsbeginn die Freiheit entzogen ist, mit dem rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheid, in dem die Massnahme angeordnet wird. (...)
| 36 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |