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32. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zug (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_1061/2014 vom 18. April 2016 | |
Regeste |
Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO; Entschädigung der wirtschaftlichen Einbussen. |
Ansprüche auf Entschädigung und Genugtuung beurteilen sich grundsätzlich nach der im Zeitpunkt ihres Entstehens massgebenden Rechtsgrundlage. Es kann ausnahmsweise zulässig sein, den gesamten Anspruch nach dem neuen Recht zu beurteilen, sofern dieses für die beschuldigte Person nicht nachteiliger ist (E. 1.4). |
Die Strafbehörden tragen keine Verantwortung für ein Fehlverhalten anderer Behörden. Adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem Strafverfahren und der sachlich nicht gerechtfertigten Entlassung eines Lehrers verneint (E. 1.5.3). | |
Sachverhalt | |
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Mit Anklageschrift vom 11. Januar 2013 wurde X. vorgeworfen, die damals noch nicht 16 Jahre alte Schülerin A. im Zeitraum von ca. 2006 bis ca. Januar 2008 während der Schulzeiten mindestens einmal wöchentlich im Klassenzimmer sexuell missbraucht und in einem Fall vergewaltigt zu haben.
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B. Das Strafgericht des Kantons Zug sprach X. mit Urteil vom 3. Oktober 2013 von allen Vorwürfen frei. Es sprach ihm für die Untersuchungshaft eine Entschädigung von Fr. 2'400.- zu. Für die Kosten seiner Verteidigung entschädigte es ihn mit Fr. 65'000.- und für das privat eingeholte Glaubhaftigkeitsgutachten mit Fr. 4'375.-. Sodann richtete es ihm eine Genugtuung von Fr. 20'000.- aus. Die darüber hinausgehenden Entschädigungs-, Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen wies das Strafgericht ab.
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C. X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt im Wesentlichen, das obergerichtliche Urteil sei in Bezug auf die abgewiesenen weitergehenden Entschädigungsforderungen sowie die Kostenfolgen aufzuheben. Es sei ihm Schadenersatz nach gerichtlichem Ermessen, mindestens jedoch Fr. 235'889.10 beziehungsweise eventualiter Fr. 132'200.85 zuzüglich 5 % Zins seit dem 12. August 2009 zuzusprechen. Für das Verfahren vor Obergericht sei er mit mindestens Fr. 5'000.- zu entschädigen. Allenfalls sei die Sache zur Neubeurteilung an das Strafgericht beziehungsweise das Obergericht zurückzuweisen.
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D. Das Obergericht des Kantons Zug verzichtet auf eine Vernehmlassung und beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Staatsanwaltschaft liess sich nicht vernehmen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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Die Höhe der wirtschaftlichen Einbussen wird nach den zivilrechtlichen Regeln berechnet (Urteil 6B_1026/2013 vom 10. Juni 2014 E. 3.1 mit Hinweisen; WEHRENBERG/FRANK, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 25 zu Art. 429 StPO). Nach konstanter Rechtsprechung entspricht der Schaden der ![]() | 10 |
Die Strafbehörde ist nicht verpflichtet, alle für die Beurteilung des Entschädigungsanspruchs bedeutsamen Tatsachen von Amtes wegen abzuklären. Gestützt auf Art. 429 Abs. 2 StPO hat sie die beschuldigte Person im Falle eines (teilweisen) Freispruchs zur Frage der Entschädigung aber mindestens anzuhören und gegebenenfalls aufzufordern, ihre Ansprüche zu beziffern und zu belegen. Es obliegt der beschuldigten Person, ihre Ansprüche zu begründen und auch zu belegen (Urteil 6B_251/2015 vom 24. August 2015 E. 2.2.2 mit Hinweisen). Dies entspricht der zivilrechtlichen Regel, wonach wer Schadenersatz beansprucht, den Schaden zu beweisen hat (Art. 42 Abs. 1 OR). Nur wenn sich der Schaden nicht ziffernmässig nachweisen lässt, ist er gestützt auf Art. 42 Abs. 2 OR nach Ermessen des Richters mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge und auf die vom Geschädigten getroffenen Massnahmen abzuschätzen (Urteil 6B_666/2014 vom 16. Dezember 2014 E. 4.1). Die Beweiserleichterung gemäss Art. 42 Abs. 2 OR ist restriktiv anzuwenden (BGE 133 III 462 E. 4.4.2 S. 471 mit Hinweisen; Urteil 6B_1026/2013 vom 10. Juni 2014 E. 3.1).
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1.3.2 Weder aus dem offenen Wortlaut der Norm noch aus den Ausführungen in der bundesrätlichen Botschaft ergibt sich, dass gestützt auf Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO nur diejenigen wirtschaftlichen Einbussen entschädigt werden, die in einem Kausalzusammenhang mit einer bestimmten Verfahrenshandlung stehen. Die Vorinstanz weist zwar mit Recht darauf hin, dass in der Botschaft ausgeführt wird, es gehe vor allem um die Lohn- oder Erwerbseinbusse, die wegen der vorläufigen Verhaftung oder der Beteiligung an Verfahrenshandlungen erlitten wurde, sowie um die Reisekosten (BBl 2006 1329 Ziff. 2.10.3.1). Allerdings ist diese Aufzählung nicht abschliessend. Im Parlament wurde die Frage nicht thematisiert und Art. 437 des Entwurfs vom 21. Dezember 2005 zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung (E-StPO), welcher dem heutigen Art. 429 StPO ![]() | 12 |
In der Lehre wird überwiegend die Ansicht vertreten, dass nicht nur der unmittelbar aus einer bestimmten Verfahrenshandlung (insbesondere einer Zwangsmassnahme) entstandene Schaden, sondern auch die mittelbar aus dem Strafverfahren sich ergebenden wirtschaftlichen Einbussen, beispielsweise aufgrund des Verlusts der Arbeitsstelle, zu entschädigen sind (vgl. WEHRENBERG/FRANK, a.a.O., N. 23 f. zu Art. 429 StPO; YVONA GRIESSER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO],Donatsch/Hansjakob/Lieber[Hrsg.], 2.Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 429 StPO; NIKLAUS SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, S. 811, N. 1814 f.; derselbe, Schweizerische Strafprozessordnung[StPO], Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 8 zu Art. 429 StPO;JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale, 2013, N. 5066; JO PITTELOUD, Code de procédure pénale suisse [CPP], Commentaireà l'usage des praticiens, 2012, N. 1354 zu Art. 429 StPO; MIZEL/RÉTORNAZ, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 43 und 45 zu Art. 429 StPO; RIEDO/FIOLKA/NIGGLI, Strafprozessrecht sowie Rechtshilfe in Strafsachen, 2011, N. 3102; MAURO MINI, in: Commentario, Codice svizzero di procedura penale [CPP], 2010, N. 6 zu Art. 429 StPO; zum altrechtlichen zürcherischen Untersuchungsverfahren: RUTH WALLIMANN BAUR, Entschädigung und Genugtuung durch den Staat an unschuldig Verfolgte im ordentlichen zürcherischen Untersuchungsverfahren, 1998, S. 103 Ziff. 5.2.2). Dieser Auffassung folgen auch einige kantonale Gerichte (vgl. Urteile des Obergerichts des Kantons Zürich vom 14. Oktober 2015 [SB140563] E. 3 sowie vom 22. September 2015 ![]() | 13 |
1.3.3 Das Bundesgericht hat sich bisher noch nicht dazu geäussert, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen in Fällen wie dem vorliegenden eine Entschädigungspflicht des Staates gestützt auf Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO besteht. Die in der Literatur und teilweise in der (kantonalen) Rechtsprechung erkennbare Stossrichtung (vgl. E. 1.3.2), dass der Staat den gesamten sich aus dem Strafverfahren ergebenden Schaden wiedergutzumachen hat, wenn die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen wird, erscheint indessen sachlich gerechtfertigt. Der Umstand, dass ein Strafverfahren geführt wird, ist (natürlich) kausal für alle damit in Zusammenhang stehenden Verfahrenshandlungen und die sich daraus allenfalls ergebenden wirtschaftlichen Einbussen der beschuldigten Person. Gerade für den Verlust der Arbeitsstelle dürfte zudem oftmals nicht eine einzelne Verfahrenshandlung ursächlich sein, sondern eine Kombination der mit dem Strafverfahren einhergehenden Verfahrenshandlungen beziehungsweise der Umstand an sich, dass eine Strafuntersuchung geführt wird. Müsste die beschuldigte Person belegen, dass die erlittene wirtschaftliche Einbusse auf eine ganz bestimmte Verfahrenshandlung zurückzuführen ist, wäre eine Entschädigung in vielen Fällen illusorisch. Ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Einbusse und dem Strafverfahren muss deshalb genügen. Es wäre stossend, wenn die (teilweise) zu Unrecht verfolgte Person einen aus der Strafverfolgung resultierenden Schaden selbst zu tragen hätte oder ausserhalb des Strafverfahrens geltend machen müsste, wenn dieser nicht einer bestimmten Verfahrenshandlung zugeordnet werden kann (vgl. dazu auch WEHRENBERG/FRANK, a.a.O., N. 34 zu Art. 429 StPO). Dem Gesetzestext und den Materialien zu Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO lässt sich nichts entnehmen, was gegen eine derartige Auslegung sprechen würde. Sie steht zudem im Einklang mit der Bestimmung von Art. 420 StPO, welche die Ausschliesslichkeit der staatlichen Ersatzpflicht verankert. ![]() | 14 |
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Erwägung 1.5 | |
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Der adäquate Kausalzusammenhang wird unterbrochen, wenn zu einer an sich adäquaten Ursache eine andere Ursache hinzutritt, die einen derart hohen Wirkungsgrad aufweist, dass erstere nach wertender Betrachtungsweise als rechtlich nicht mehr beachtlich erscheint. Entscheidend ist die Intensität der beiden Ursachen (BGE 130 III 182 E. 5.4 S. 188 mit Hinweisen). Das Verhalten eines Dritten vermag den Kausalzusammenhang nur zu unterbrechen, wenn diese Zusatzursache derart ausserhalb des normalen Geschehens liegt, derart unsinnig ist, dass damit nicht zu rechnen war (BGE 116 II 519 E. 4b S. 524 mit Hinweisen).
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