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3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_373/2016 vom 23. November 2016 | |
Regeste |
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO; Haftgrund der Wiederholungsgefahr. |
Je schwerer die drohenden Taten sind und je höher die Gefährdung der Sicherheit anderer ist, desto geringere Anforderungen sind an die Rückfallgefahr zu stellen. Zugleich ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr restriktiv zu handhaben. Hieraus folgt, dass eine negative, d.h. eine ungünstige Rückfallprognose zur Annahme von Wiederholungsgefahr notwendig, grundsätzlich aber auch ausreichend ist (E. 2.9). |
Im zu beurteilenden Fall drohen sexuelle Handlungen mit Kindern von nicht bloss leichtem Ausmass. Ein Rückfall ist ernsthaft zu befürchten, d.h. es ist von einer ungünstigen Rückfallprognose auszugehen. Es besteht Wiederholungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO (E. 3). | |
Sachverhalt | |
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A. wurde am 28. Juli 2016 verhaftet und mit Verfügung des Bezirksgerichts Zürich, Zwangsmassnahmengericht, vom 30. Juli 2016 auf Antrag der Staatsanwaltschaft in Untersuchungshaft versetzt. Mit Verfügung vom 23. August 2016 wies das Zwangsmassnahmengericht ein Haftentlassungsgesuch von A. ab und verlängerte die Untersuchungshaft bis zum 22. September 2016. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 7. September 2016 ab. Mit Verfügung vom 21. September 2016 ![]() | 2 |
B. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 7. Oktober 2016 an das Bundesgericht beantragt A., den Beschluss der Vorinstanz vom 5. Oktober 2016 aufzuheben und ihn (eventuell unter Anordnung von Ersatzmassnahmen) aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.
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Die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft verzichten auf Vernehmlassungen.
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Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung hat die Angelegenheit am 23. November 2016 in öffentlicher Sitzung beraten und entschieden. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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Der Beschwerdeführer ist geständig und bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht. Er macht jedoch geltend, es liege keine Wiederholungsgefahr vor, da keine sehr ungünstige Rückfallprognose bestehe.
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Bei der Annahme, dass der Beschuldigte weitere schwere Delikte begehen könnte, ist allerdings Zurückhaltung geboten. Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht der persönlichen ![]() | 9 |
Dieser in zahlreichen kantonalen Strafprozessordnungen verankerte Haftgrund der Wiederholungsgefahr wurde in die am 1. Januar 2011 in Kraft getretene eidgenössische StPO überführt (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO; vgl. auch E. 2.1 hiervor). Nach der Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts handelt es sich beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr um eine sichernde, polizeiliche Zwangsmassnahme, die der Gefahrenabwehr dient (vgl. BBl 2006 1229 zu Art. 220; siehe auch ALEXIS SCHMOCKER, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale, 2011, N. 17 zu Art. 221 StPO).
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Das Bundesgericht hat nach Inkrafttreten der StPO seine bisherige Rechtsprechung weitergeführt und betont, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr restriktiv zu handhaben ist (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85 mit Verweis auf BGE 135 I 71).
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Erwägung 2.3 | |
2.3.1 In Anwendung und Auslegung von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO hat das Bundesgericht weiter erwogen, dass der besondere Haftgrund der Wiederholungsgefahr gegeben ist, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass die beschuldigte Person durch Verbrechen oder schwere Vergehen (vgl. dazu BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85 f.) die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO). Verbrechen sind Taten, die mit Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind (Art. 10 Abs. 2 StGB); Vergehen sind Taten, die mit Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht sind ![]() | 12 |
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Eine Änderung der Praxis lässt sich regelmässig nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelter Rechtsanschauung entspricht; andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten. Eine ![]() | 15 |
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Ausgangspunkt bildet die abstrakte Strafdrohung gemäss Gesetz (vgl. Urteil 1B_512/2012 vom 2. Oktober 2012 E. 4.3). Voraussetzung für die Einstufung als schweres Vergehen ist, dass eine Freiheitsstrafe (bis zu drei Jahren) droht. Vergehens-Tatbestände, wie etwa Art. 177 StGB (Beschimpfung), bei welchen keine Freiheitsstrafe, sondern ausschliesslich Geldstrafe angedroht ist, gelten als minder schwere Vergehen und fallen für die Anordnung von Präventivhaft von vorneherein ausser Betracht (vgl. hierzu MARC FORSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2014, N. 12 zu Art. 221 StPO).
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Bei der Beurteilung der Schwere der Tat sind neben der abstrakten Strafdrohung gemäss Gesetz insbesondere auch das betroffene Rechtsgut und der Kontext einzubeziehen. Je höherwertig ein geschütztes Rechtsgut ist, desto eher werden Eingriffe in dieses als schwer zu qualifizieren sein (vgl. HUG/SCHEIDEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2. Aufl. 2014, N. 32 zu Art. 221 StPO). Dem Kontext, insbesondere der konkret vom Beschuldigten ausgehenden Gefährlichkeit bzw. dem bei ihm vorhandenen Gewaltpotenzial, das aus den Umständen der Tatbegehung hervorgehen kann, ist ebenfalls angemessen Rechnung zu tragen, was ![]() | 19 |
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Im Vordergrund stehen Delikte gegen die körperliche und sexuelle Integrität. In diesem Kontext muss insbesondere bei Straftaten gegenüber speziell schutzbedürftigen Personengruppen, namentlich Kindern, aus den weiter oben angesprochenen Gründen des Opferschutzes (E. 2.3 hiervor) ein strenger Massstab gelten, denn diesfalls sind auch weniger schwerwiegende Tathandlungen geeignet, die von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO angesprochene "Sicherheit anderer" zu gefährden. Zulässig ist die Anordnung von Präventivhaft indes auch bei Delikten gegen die Freiheit sowie bei schweren Verstössen gegen Nebenstrafgesetze. Vermögensdelikte dagegen sind zwar unter Umständen in hohem Mass sozialschädlich, betreffen aber grundsätzlich nicht unmittelbar die Sicherheit der Geschädigten (Urteil 1B_247/2016 vom 27. Juli 2016 E. 2.1 und 2.2.2). Anders kann es sich in der Regel nur bei besonders schweren Vermögensdelikten verhalten (vgl. Urteil 1B_379/2011 vom 2. August 2011 E. 2.9). Drohungen können nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Anordnung von Präventivhaft ebenfalls begründen, da sie die Sicherheitslage einer Person erheblich beeinträchtigen können (Urteil 1B_238/2012 vom 16. Mai 2012 E. 2.4.2). Gleiches gilt für schwere Strassenverkehrsdelikte; so hat das Bundesgericht drohende Trunkenheitsfahrten, bei welchen gravierende Unfallfolgen zu befürchten sind, als "erheblich sicherheitsgefährdend" im Sinne des Gesetzes qualifiziert (Urteil 1B_435/2012 vom 8. August 2012 E. 3.9). Ferner hat ![]() | 21 |
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Die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens ist zur Beurteilung der Rückfallgefahr nicht in jedem Fall notwendig (vgl. Urteil 1B_379/2011 vom 2. August 2011 E. 2.10). Erscheint ein solches im konkreten Fall erforderlich oder wurde es bereits in Auftrag gegeben, rechtfertigt sich die Aufrechterhaltung der Haft bei gemäss Aktenlage ungünstiger Prognose jedenfalls so lange, bis die Wiederholungsgefahr gutachterlich abgeklärt ist (vgl. Urteil 1B_174/2013 vom 27. Mai 2013 E. 3.6). Mit Blick auf das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot kann insoweit die Einholung eines Kurz- oder ![]() | 23 |
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Zugleich ist daran festzuhalten, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr restriktiv zu handhaben ist. Hieraus folgt, dass eine negative, d.h. eine ungünstige Rückfallprognose zur Annahme von Wiederholungsgefahr unabdingbar ist.
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Erwägung 3 | |
3.1 Im zu beurteilenden Fall ist das Vortatenerfordernis erfüllt. Der Beschwerdeführer ist einschlägig vorbestraft. Mit Strafmandat der Staatsanwaltschaft Baden vom 13. April 2011 wurde er wegen Pornografie im Deliktszeitraum vom 21. März 2009 bis 30. April 2010 (sowie wegen Strassenverkehrsdelikten) mit einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu Fr. 40.- bestraft. Mit Strafmandat der Staatsanwaltschaft Baden vom 26. September 2013 wurde er erneut wegen ![]() | 27 |
Der Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187 Ziff. 1 StGB ist mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bedroht. Es handelt sich somit um ein Verbrechen im Sinne von Art. 10 Abs. 2 StGB. Das Rechtsgut der Gefährdung der sexuellen Entwicklung Unmündiger (vgl. hierzu PHILIPP MAIER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 3. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 187 StGB) wiegt sehr hoch. Die dem Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren vorgeworfene Tat ist nicht als leicht, aber auch nicht als besonders schwer zu qualifizieren, denn unter den Tatbestand gemäss Art. 187 Ziff. 1 StGB fallen auch weit schwerer ins Gewicht fallende Übergriffe.
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Der Gutachter, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, Schwerpunkt FMH Forensische Psychiatrie, ist in seinem Vorabgutachten zum Schluss gekommen, es gäbe mehr günstige als ungünstige Legalprognosefaktoren. Die pädosexuelle Nebenströmung und die einschlägige Vorstrafe seien jedoch aus prognostischer Sicht von sehr hoher Relevanz. Legalprognostisch ungünstig sei die Tatsache, dass das Anlassdelikt mit Berühren der Geschädigten eine Progredienz im Vergleich zur einschlägigen Vorstrafe und dem illegalen Pornografiekonsum (Kinderpornografie) darstelle. Gestützt darauf sei die kurzfristige Rückfallgefahr (bis sechs Monate) für einschlägige Delinquenz (sexuelle Handlungen mit Kindern) beim Beschwerdeführer zusammenfassend als moderat einzustufen. Dies bedeute, dass Rückfallfreiheit wahrscheinlicher sei als Rückfälligkeit. Ohne entsprechende Therapie bestehe aufgrund der pädophilen Neigung bei abnehmender Wirkung des jetzigen Strafverfahrens langfristig ein ![]() | 31 |
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Vorweg ist festzuhalten, dass noch kein abschliessendes psychiatrisches Gutachten vorliegt, sondern einzig eine gutachterliche Vorabstellungnahme als provisorische Einschätzung, welcher bloss ein beschränkter Geltungsanspruch zukommen kann. Zudem ist nicht ganz klar, ob dem Experten die Art der früheren Delikte sowie deren zeitliche Abfolge bewusst waren, denn er spricht - in Einzahlform - bloss von einer (einzigen) Vorstrafe. Zwar erwähnt er auch den Konsum von Kinderpornografie, doch ergibt sich erst aus dem Strafregisterauszug, dass der Beschwerdeführer ein erstes Mal im Jahr 2011 wegen Pornografie, begangen zwischen März 2009 und April 2010, und dann wenige Jahre später im September 2013 erneut wegen sexuellen Handlungen mit einem Kind sowie wegen Pornografie verurteilt worden ist.
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Hinzu kommt, dass der Gutachter sein Vorabgutachten erstellt hat, ohne vom Suizid der Ehefrau des Beschwerdeführers während laufender Untersuchungshaft Kenntnis zu haben. Der Beschwerdeführer bringt zwar vor, dass der Tod seiner Ehefrau bewirke, dass sich die Wiederholungsgefahr "infolge starker Involvierung in die Erledigung der Todesfallformalitäten" reduziere. Ob dies indes tatsächlich der Fall ist, erscheint fraglich. Denkbar ist im Gegenteil auch, dass der Wegfall der Halt und Stabilität gebenden Beziehung zu seiner Ehefrau die Wiederholungsgefahr zusätzlich erhöht. Diese Bedenken werden verstärkt durch den Umstand, dass der ![]() | 34 |
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Die aufgeführten Umstände sprechen zurzeit für das Vorliegen einer negativen, d.h. ungünstigen Rückfallprognose. Zusammenfassend fällt insbesondere ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer einschlägig vorbestraft ist und dass die aktuellen Tatvorwürfe in der Gesamtschau auf eine Steigerung bzw. Ausweitung des deliktischen Verhaltens seit seiner letzten Verurteilung hinweisen. Es ist daher auch nicht auszuschliessen, dass es bei einem Rückfall zu (noch) schwerer wiegenden sexuellen Handlungen mit Kindern kommen könnte. Zudem ist ungewiss, wie sich der Suizid seiner Ehefrau und der Verlust seiner Arbeitsstelle auswirken. Bei Vorliegen des psychiatrischen Gutachtens wird die Situation neu beurteilt werden müssen.
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Nichts zu seinen Gunsten ableiten kann der Beschwerdeführer im Übrigen aus dem von ihm angeführten Urteil 1B_88/2015 vom 7. April 2015. In jenem Fall galt der Beschuldigte für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr als Ersttäter, weshalb die Annahme von Wiederholungsgefahr über den Gesetzeswortlaut hinaus nur bei Vorliegen eines Ausnahmefalls in Betracht gekommen wäre (vgl. Urteil 1B_88/2015 vom 7. April 2015 E. 2.2.2 f., in: Pra 2015 Nr. 69 S. 544, sowie E. 2.3.1 hiervor). Überdies waren die dem als nicht vorbestraft geltenden Beschuldigten vorgeworfenen Delikte weniger gravierend (vgl. Urteil 1B_88/2015 vom 7. April 2015 Sachverhalt lit. A, in: Pra 2015 Nr. 69 S. 544).
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3.6 Im zu beurteilenden Fall droht ein schweres Delikt von hoher Sicherheitsrelevanz, konkret drohen sexuelle Handlungen mit Kindern von nicht bloss leichtem Ausmass. Ein Rückfall ist nach heutigem Wissensstand, vor Vorliegen des abschliessenden psychiatrischen Gutachtens, ernsthaft zu befürchten, d.h. es ist nach dem Gesagten von einer ungünstigen Rückfallprognose auszugehen. In Würdigung der gesamten Umstände besteht Wiederholungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO. (...)
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