![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
8. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwalt des Kantons Nidwalden (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_1151/2015 vom 21. Dezember 2016 | |
Regeste |
Anklageprinzip; Anwendbarkeit des AETR sowie der ARV 1 bei Auslandtaten. |
Durchbrechung des Territorialitätsprinzips bei im Ausland begangenen Widerhandlungen gegen das AETR respektive die ARV 1. Frage des anwendbaren Sanktionsrechts (E. 3.1 und 3.2). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
B. Das Kantonsgericht Nidwalden sprach X. am 1. September 2014 von der Anklage frei.
| 2 |
C. Die Staatsanwaltschaft Nidwalden erhob Berufung gegen das Urteil des Kantonsgerichts. Das Obergericht Nidwalden sprach X. am 12. Mai 2015 im Sinne der Anklage schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 1'250.-.
| 3 |
D. X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Obergerichts vom 12. Mai 2015 sei aufzuheben und das Urteil des Kantonsgerichts zu bestätigen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
| 4 |
E. Das Obergericht verzichtet mit Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil auf eine Vernehmlassung. Die Oberstaatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
| 5 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
2.1 Der Beschwerdeführer rügt den Anklagegrundsatz als verletzt. In der Anklageschrift fehlten jegliche Ortsangaben. Dies sei von Bedeutung, da er die Übertretungen im Ausland begangen haben soll. Weiter sei aus der Anklage nicht ersichtlich, welche allfälligen ausländischen Strafbemessungsgrundlagen angewendet werden sollen. Schliesslich fehle es an einer Umschreibung des subjektiven ![]() | 6 |
2.2 Nach dem Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 9 und Art. 325 StPO; Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK). Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden (Immutabilitätsprinzip), nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde (vgl. Art. 350 StPO). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Das Akkusationsprinzip bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 141 IV 132 E. 3.4.1; BGE 140 IV 188 E. 1.3; BGE 133 IV 235 E. 6.2 f.; BGE 126 I 19 E. 2a; je mit Hinweisen). Die beschuldigte Person muss unter dem Gesichtspunkt der Informationsfunktion aus der Anklage ersehen können, wessen sie angeklagt ist. Das bedingt eine zureichende Umschreibung der Tat. Entscheidend ist, dass der Betroffene genau weiss, welcher konkreter Handlungen er beschuldigt und wie sein Verhalten rechtlich qualifiziert wird, damit er sich in seiner Verteidigung richtig vorbereiten kann. Er darf nicht Gefahr laufen, erst an der Gerichtsverhandlung mit neuen Anschuldigungen konfrontiert zu werden (vgl. BGE 103 Ia 6 E. 1b; Urteile 6B_492/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 2.2, nicht publ. in: BGE 141 IV 437; 6B_1073/2014 vom 7. Mai 2015 E. 1.2; 6B_344/2011 vom 16. September 2011 E. 3; je mit Hinweisen).
| 7 |
2.3 Die Einwände erweisen sich als unbegründet. Dem Beschwerdeführer wird in der Anklageschrift vorgeworfen, gegen Art. 5, Art. 8 und Art. 9 der Verordnung vom 19. Juni 1995 über die Arbeits- und Ruhezeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer und -führerinnen (Chauffeurverordnung, ARV 1; SR 822.221) verstossen zu haben, indem er am 12. September 2013 die tägliche Höchstlenkzeit um 2 Stunden 56 Minuten überschritten und die vorgeschriebenen Lenkpausen um 1 Stunde 19 Minuten sowie um 2 Stunden 37 Minuten unterschritten habe. Ferner habe er am 12./13. September 2013 die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht eingehalten. Damit wird der Vorwurf in zeitlicher Hinsicht ausreichend präzise umschrieben. Dem Umstand, dass die Verstösse in Deutschland und Polen begangen wurden, misst die Staatsanwaltschaft deshalb keine besondere Bedeutung zu, da dies ihrer Auffassung nach keinen Einfluss auf die ![]() | 8 |
9 | |
3.1 Die Vorinstanz setzt sich ausführlich mit der Frage des anwendbaren Rechts auseinander. Ihre diesbezüglichen Erwägungen sind zutreffend. Diese können mit einigen Ergänzungen übernommen werden. Die Bestimmungen des SVG und der dazugehörigen Verordnungen sind nach dem Territorialitätsprinzip grundsätzlich nur auf Sachverhalte anwendbar, welche sich in der Schweiz zugetragen haben. Art. 56 SVG durchbricht das Territorialitätsprinzip, indem der Bundesrat ermächtigt wird, auf Verordnungsebene Bestimmungen zu erlassen, die für berufsmässige Motorfahrzeugfahrer auch auf ausländischem Territorium Geltung haben (BRUNO SCHLEGEL, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 183 zu Art. 56 SVG). Gestützt auf diese Bestimmung sowie Art. 103 SVG hat der Bundesrat die ARV 1 erlassen. Nebst der genannten Verordnung ist ![]() | 10 |
Die Durchführungsbestimmungen des AETR sehen vor, dass jede Vertragspartei alle geeigneten Massnahmen trifft, um die Beachtung des Übereinkommens sicherzustellen. Diese Kontrollen sind ohne Diskriminierung nach gebietsansässigen oder gebietsfremden Fahrzeugen, Unternehmen und Fahrern sowie unabhängig von Ausgangspunkt und Ziel der Fahrt durchzuführen (Art. 12 Ziff. 1 AETR). Die Vertragsparteien ermächtigen die zuständigen Behörden, gegen einen Fahrer bei einem in ihrem Hoheitsgebiet festgestellten Verstoss gegen dieses Übereinkommen eine Sanktion zu verhängen, ![]() | 11 |
Daraus geht hervor, dass weder der Ort der Widerhandlung noch die Fahrzeugimmatrikulation oder der Wohnsitz des Fahrzeugführers ausschlaggebend sein können für die Zuständigkeit der Strafverfolgung. Demnach können auch im Ausland begangene Verstösse gegen das AETR respektive die ARV 1 von den schweizerischen Strafbehörden verfolgt und bestraft werden. Im Lichte dieser Erwägungen ist denn auch Art. 3 Abs. 3 ARV 1 auszulegen. Die Bestimmung sieht vor, dass Führer und Führerinnen, die im Ausland immatrikulierte Fahrzeuge in der Schweiz lenken, (nur) die Vorschriften der Art. 5, Art. 7, Art. 8 Abs. 1, 2, 4 und 5 sowie Art. 9-12, Art. 14-14c und Art. 18 Abs. 1 ARV 1 einhalten müssen. Art. 3 Abs. 3 ARV 1 fungiert, wie dies in der Literatur postuliert wird (SCHMID, a.a.O., S. 480), als Platzhalter für das AETR. Der Regelungsinhalt der Art. 5, Art. 8 und Art. 9 ARV 1 entspricht denn auch vollständig demjenigen der Art. 6-8 AETR. Dies hat zur Folge, dass die genannten Bestimmungen der ARV 1 auch in einem Fall wie dem vorliegenden zur Anwendung gelangen, wo die Widerhandlungen mit einem ausländischen Fahrzeug auf ausländischem Staatsgebiet begangen wurden. Entsprechend können die Verstösse gemäss Art. 21 ARV 1 sanktioniert werden.
| 12 |
3.2 Die übrigen Einwände des Beschwerdeführers sind unbehelflich. So rügt er eine Verletzung von Art. 3 und Art. 104 StGB, denn es ergebe sich aus keiner Gesetzesbestimmung, dass das schweizerische Verschuldenssanktionsrecht zur Anwendung gelange. Zudem hätten bei einer ausländischen Regelverletzung die "dortigen Verhältnisse" bei der Sanktionierung berücksichtigt werden müssen. Wie bereits ausgeführt, ermächtigt Art. 12 Ziff. 6 lit. a AETR die Vertragsparteien, gegen einen Fahrer bei einem in ihrem Hoheitsgebiet festgestellten Verstoss gegen das Übereinkommen eine Sanktion zu verhängen, und zwar selbst dann, wenn der Verstoss im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei oder eines Nichtvertragsstaats begangen wurde. Die Sanktionen für Verstösse gegen das Übereinkommen unterscheiden sich in den verschiedenen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Art der Sanktion, der Höhe der Bussgelder usw. Diese Problematik ist bekannt. Auf internationaler Ebene sind Bestrebungen im Gange, für eine einheitlichere Anwendung und ![]() | 13 |
14 | |
Das Absorptionsprinzip wird im Strafrecht in Zusammenhang mit den Strafzumessungsmethoden diskutiert. Allerdings hat sich der Gesetzgeber in Art. 49 StGB für das Asperationsprinzip ausgesprochen (JÜRG-BEAT ACKERMANN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 10 zu Art. 49 StGB). Es ist daher weder ersichtlich noch erschliesst sich aus der knappen Beschwerdebegründung, was der Beschwerdeführer aus dem Argument der "Absorption" zu seinen Gunsten ableiten könnte. (...)
| 15 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |