BGE 143 IV 154 | |||
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21. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_370/2016 vom 16. März 2017 | |
Regeste |
Art. 1 und 30 Abs. 3 OHG; Art. 116 Abs. 1, Art. 135 Abs. 4 lit. a und Art. 138 Abs. 1 StPO; Pflicht zur Rückerstattung der Kosten der unentgeltlichen Verbeiständung durch das Opfer bei verbesserten wirtschaftlichen Verhältnissen. | |
Sachverhalt | |
A. Das Kriminalgericht Luzern sprach A. mit Urteil vom 5. Februar 2015 vom Vorwurf der Vergewaltigung frei und verwies die Zivilforderungen der Privatklägerin X. an den Zivilrichter. Die Kosten des Verfahrens wurden vollumfänglich dem Staat überbunden, so auch die Kosten der unentgeltlichen Verbeiständung der Privatklägerin von Fr. 2'908.70 für das Untersuchungsverfahren und von Fr. 2'549.90 für das Gerichtsverfahren. Gegen den Freispruch erhoben die Staatsanwaltschaft und X. Berufung.
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B. Das Kantonsgericht Luzern sprach A. am 26. November 2015 vom Vorwurf der Vergewaltigung ebenfalls frei und verwies die Zivilforderungen von X. an den Zivilrichter. Es bestätigte den erstinstanzlichen Kostenspruch und auferlegte die Kosten des Berufungsverfahrens je zur Hälfte X. und dem Staat. Es verpflichtete X. gestützt auf Art. 135 Abs. 4 StPO, dem Kantonsgericht die ihr auferlegte Hälfte der Gerichtskosten des Berufungsverfahrens (Fr. 2'000.-) sowie die gesamten Kosten ihrer unentgeltlichen Verbeiständung in allen Verfahren von Fr. 9'288.80 zu bezahlen, sobald es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zulassen.
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C. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil vom 26. November 2015 sei im Kostenpunkt aufzuheben und dahingehend zu ändern, dass die Kosten des Berufungsverfahrens sowie die gesamten Kosten der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung auf die Staatskasse zu nehmen seien. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
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D. Das Kantonsgericht Luzern beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit verlangt wird, dass die Kosten des Berufungsverfahrens auf die Staatskasse zu nehmen seien. Im Übrigen sei die Beschwerde gutzuheissen. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern verzichtete auf eine Vernehmlassung.
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E. Das Bundesgericht hat den Entscheid öffentlich beraten (Art. 58 Abs. 1 BGG).
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Aus den Erwägungen: | |
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Zur Frage, ob dies wie vorliegend auch bei einem Freispruch der beschuldigten Person gilt, äusserte sich das Bundesgericht in BGE 141 IV 262 nicht, denn dem Entscheid lag eine grundlegend andere Konstellation zugrunde. In jenem Fall wurde der Beschuldigte zweitinstanzlich der Schändung zum Nachteil der Privatklägerin schuldig gesprochen. Bei der Fällung des zweitinstanzlichen Urteils (und somit im Zeitpunkt des Entscheids über die Kosten- und Entschädigungsfolgen) stand eine Straftat somit fest.
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2.3.3 Ein Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung nach Art. 2 lit. d und e sowie Art. 19 ff. OHG besteht nur, wenn eine Straftat feststeht. Da es um die definitive Zusprechung von Entschädigung und Genugtuung geht, müssen alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen erfüllt sein, auch die einer Straftat im zuvor erwähnten Sinne (vgl. BGE 122 II 211 E. 3d S. 216). Andere Leistungen des OHG wie die Beratung und Soforthilfe sowie die längerfristige Hilfe der Beratungsstellen (vgl. Art. 2 lit. a und b sowie Art. 9 ff. OHG) sind jedoch verfahrensrechtlicher Natur. Sie müssen, damit sie ihren Zweck erfüllen können, gewährt werden, bevor endgültig feststeht, ob ein tatbestandsmässiges und rechtswidriges Verhalten des Täters zu bejahen ist oder nicht (BGE 122 II 211 E. 3c S. 216; siehe auch BGE 134 II 33 E. 5.6 S. 39). Auch für die Anerkennung der Opferstellung im Strafverfahren kann nicht verlangt werden, dass die Tatbestandsmässigkeit und die Rechtswidrigkeit einer Tat erstellt sind. Ob diese und die weiteren Voraussetzungen einer Straftat gegeben sind, bildet erst Gegenstand des Strafverfahrens. Soll das Opfer seine Rechte im diese Frage klärenden Strafverfahren wahrnehmen können, muss es genügen, dass eine die Opferstellung begründende Straftat in Betracht fällt (BGE 122 II 211 E. 3c S. 216). Um im Strafverfahren als geschädigte Person gemäss Art. 115 Abs. 1 StPO bzw. als Opfer nach Art. 116 Abs. 1 StPO anerkannt zu werden, genügt es daher, wenn eine Schädigung im Sinne dieser Bestimmungen glaubhaft gemacht wird (siehe etwa Urteil 6B_617/2016 vom 2. Dezember 2016 E. 1.1 mit Hinweisen). Die Legitimation zur Berufung und zur Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht im Schuldpunkt hängt ebenfalls davon ab, ob die betroffene Person im Strafverfahren als Privatklägerin anerkannt wurde (vgl. Art. 382 Abs. 1 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO; Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 5 BGG).
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2.3.4 Wer bedürftig ist und eine unmittelbare Beeinträchtigung in seiner körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität durch eine Straftat dartut, hat Anspruch darauf, seine Vorwürfe im Rahmen eines strafprozessualen Untersuchungs- und erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens abklären zu lassen, ohne dabei das Risiko einzugehen, im Falle eines Freispruchs die Kosten der unentgeltlichen Verbeiständung zurückerstatten zu müssen. Art. 30 Abs. 3 OHG kommt daher auch zum Tragen, wenn die geltend gemachte Straftat im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren nicht nachgewiesen werden kann. Die Beschwerdeführerin hatte im Untersuchungs- und erstinstanzlichen Gerichtsverfahren die prozessuale Stellung eines Opfers. Nicht zulässig wäre es daher, von dieser die Kosten ihrer unentgeltlichen Rechtsverbeiständung in diesen Verfahren zurückzuverlangen. Diesbezüglich ist der angefochtene Entscheid wie dargelegt allerdings bereits wegen der Verletzung von Art. 404 Abs. 1 StPO aufzuheben (vgl. nicht publ. E. 2.2).
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2.3.6 Die Vorinstanz entschied in Dispositiv-Ziff. 5.1, die Kosten des Berufungsverfahrens seien je zur Hälfte von der Beschwerdeführerin und vom Staat zu tragen, wobei aus den Urteilserwägungen - welche zur Auslegung des Dispositivs heranzuziehen sind - ersichtlich ist, dass sich die hälftige Kostenauflage nur auf die Gerichtskosten bezieht. Obwohl der Beschwerdeführerin nur die Hälfte der Gerichtskosten auferlegt wurde, gilt sie im Berufungsverfahren als vollumfänglich unterliegend, denn die bloss hälftige Kostenauflage ist darin begründet, dass neben ihr auch die Staatsanwaltschaft Berufung erhob. Wenn das Kantonsgericht in Dispositiv-Ziff. 5.3 anordnet, die Beschwerdeführerin habe, sobald es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zulassen, dem Kantonsgericht gestützt auf Art. 135 Abs. 4 StPO die gesamten Kosten ihrer unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im Berufungsverfahren (insgesamt Fr. 3'830.20) zurückzuzahlen, so ist dies nicht zu beanstanden und die Beschwerde diesbezüglich abzuweisen. (...)
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