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51. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden gegen X. und Mitb. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_32/2017 vom 29. September 2017 |
Art. 341 Abs. 3, 409 Abs. 1 StPO; Befragung der beschuldigten Person; Aufhebung und Rückweisung des erstinstanzlichen Urteils durch das Berufungsgericht. |
Art. 76 ff. StPO; erstinstanzliches Verhandlungsprotokoll. | |
Sachverhalt | |
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B.
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B.a Das Kantonsgericht Nidwalden verurteilte mit Urteil vom 23. Juli 2015
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X. wegen mehrfacher falscher Anschuldigung, mehrfachen Betruges, mehrfacher Veruntreuung, mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfacher Erschleichung einer falschen Beurkundung, mehrfacher Misswirtschaft, mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung, mehrfachen betrügerischen Konkurses sowie wegen Unterlassung der Buchführung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten, unter Anrechnung von 8 Tagen ausgestandener Untersuchungshaft, als teilweise Zusatzstrafe zum Urteil des Amtsgerichts München vom 1. September 2005; ferner verpflichtete es ihn zur Bezahlung einer Ersatzforderung von Fr. 1'000.- an den Staat;
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Y. wegen mehrfacher falscher Anschuldigung, Betruges, mehrfacher Veruntreuung, mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfacher Erschleichung einer falschen Beurkundung, mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung, mehrfacher Misswirtschaft sowie wegen Unterlassung der Buchführung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten, unter Anrechnung von einem Tag ausgestandener Untersuchungshaft; ferner verpflichtete es ihn zur Bezahlung einer Ersatzforderung von Fr. 100'000.- an den Staat;
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Z. wegen mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfacher Erschleichung einer falschen Beurkundung sowie wegen Misswirtschaft zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu Fr. 50.-, mit bedingtem Strafvollzug bei einer Probezeit von 2 Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 1'000.-, bei schuldhafter Nichtbezahlung umwandelbar in eine Ersatzfreiheitsstrafe von 10 Tagen;
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A. wegen mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfacher Erschleichung einer falschen Beurkundung, mehrfacher Misswirtschaft sowie wegen mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung zu einer Geldstrafe von 275 Tagessätzen zu Fr. 60.- mit bedingtem Strafvollzug bei einer Probezeit von 3 Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 1'000.-, bei schuldhafter Nichtbezahlung umwandelbar in eine Ersatzfreiheitsstrafe von 10 Tagen, als Zusatzstrafe zum Strafmandat des Untersuchungsrichteramtes Freiburg vom 27. Juli 2007 und zum Strafmandat des Untersuchungsrichteramtes Freiburg vom 16. Juli 2009.
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Das Kantonsgericht sprach frei
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X. von der Anklage der Misswirtschaft in Sachen H. AG, der Erpressung zum Nachteil von I. und vom Vorwurf des Betruges, der Urkundenfälschung sowie vom Eventualvorwurf der Gehilfenschaft zur Veruntreuung zum Nachteil der Bank J. (Präzisierung des Urteilsdispositivs, Beschluss des Kantonsgerichts vom 13. Januar 2016);
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Schliesslich stellte das Kantonsgericht im Anklagepunkt betreffend mehrfache unwahre Angaben über ein kaufmännisches Gewerbe im Zusammenhang mit den Sachverhaltskomplexen K. AG und L. AG das Verfahren gegen X. und Y. ein.
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Das Kantonsgericht hob ferner die auf den Grundstücken Nr. x und Nr. y, Grundbuch U., am 17. Juli 2006 vom Untersuchungsrichter des Kantons Luzern angeordneten Kanzleisperren (Anmerkung: "Beschränkung der Verfügungsbefugnis im Sinne des StGB"; Tagebuch-Nr. z/2006 vom 18. Juli 2006) auf und wies das Grundbuchamt V. an, diese Kanzleisperren zu löschen. Ferner verpflichtete es X., dem Privatkläger F. Schadenersatz in der Höhe von Fr. 32'000.-, zuzüglich 5 % Zins auf dem Teilbetrag von Fr. 5'000.- seit 12. Juli 2002, auf dem Teilbetrag von Fr. 14'000.- seit 9. August 2002, auf dem Teilbetrag von Fr. 5'000.- seit 5. September 2002 und auf dem Teilbetrag von Fr. 8'000.- seit 23. September 2002 zu bezahlen. Die Zivilforderungen der BVG-Stiftung D. AG hiess es im Betrage von Fr. 594'000.- gut; im Mehrbetrag verwies es sie ebenso wie die Privatklägerin G. für ihre Schadenersatzforderung gegen X. und B. an den Zivilrichter. Schliesslich entschied es über die Herausgabe der sichergestellten Unterlagen.
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B.b Gegen dieses Urteil erhoben X., Y. und Z. Berufung. Dabei rügten Y. und Z. unter anderem eine ungenügende Befragung der beschuldigten Personen durch das erstinstanzliche Gericht und das Fehlen eines schriftlichen Protokolls. A. verzichtete auf die Einlegung eines Rechtsmittels. Die Staatsanwaltschaft focht die Freisprüche und Einstellungen des Verfahrens nicht an.
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Die Verfahrensleitung des Obergerichts des Kantons Nidwalden gewährte den Parteien mit Verfügung vom 31. August 2016 das rechtliche Gehör zur Frage einer allfälligen Rückweisung der Sache an die Vorinstanz wegen wesentlicher Verfahrensmängel. Mit Urteil vom 30. November 2016 hob das Obergericht den erstinstanzlichen Entscheid auf und wies die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung und zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung an die Vorinstanz zurück.
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C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das angefochtene Urteil ![]() | 15 |
Subeventualiter sei das angefochtene Urteil betreffend B. und A. vollumfänglich und betreffend X. und Y. in Bezug auf die Teilfreisprüche und Verfahrenseinstellungen sowie betreffend die Privatklägerin BVG-Stiftung D. AG in Bezug auf die Löschung der Kanzleisperre auf dem Grundstück Nr. y, Grundbuch U., aufzuheben. Schliesslich ersucht sie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung für ihre Beschwerde.
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D. Das Obergericht des Kantons Nidwalden beantragt in seiner Vernehmlassung, es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. X. stellt Antrag, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Y. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Z. trägt auf vollumfängliche Abweisung der Beschwerde an. Beide letztgenannten Beschwerdegegner ersuchen zudem um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. A. und B. haben auf Stellungnahme verzichtet. Die Privatkläger und Privatklägerinnen haben sich innert Frist nicht vernehmen lassen bzw. auf Vernehmlassung verzichtet.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt das Urteil des Obergerichts des Kantons Nidwalden auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 6 | |
6.1 Die Berufung nach Art. 398 ff. StPO ist grundsätzlich ein reformatorisches Rechtsmittel. Tritt das Berufungsgericht auf die Berufung ein, fällt es ein neues Urteil, welches das erstinstanzliche Urteil ersetzt (Art. 408 StPO). Nach Art. 409 Abs. 1 StPO hebt das Berufungsgericht bei wesentlichen, im Berufungsverfahren nicht heilbaren Mängeln das angefochtene Urteil ausnahmsweise auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Urteils an die Vorinstanz zurück. ![]() | 19 |
Die kassatorische Erledigung durch Rückweisung ist aufgrund des reformatorischen Charakters des Berufungsverfahrens die Ausnahme und kommt nur bei derart schwerwiegenden, nicht heilbaren Mängeln des erstinstanzlichen Verfahrens in Betracht, in denen die Rückweisung zur Wahrung der Parteirechte, in erster Linie zur Vermeidung eines Instanzverlusts, unumgänglich ist (Urteile 6B_1302/2015 vom 28. Dezember 2016 E. 4.2.1; 6B_843/2016 vom 10. August 2016 E. 3.1; 6B_794/2014 vom 9. Februar 2015 E. 8.2; 6B_528/2012 vom 28. Februar 2013 E. 3.1.1; 6B_362/2012 vom 29. Oktober 2012 E. 8.4.2; je mit Hinweisen). Dies ist etwa der Fall bei Verweigerung von Teilnahmerechten oder nicht gehöriger Verteidigung (Urteil 6B_512/2012 vom 30. April 2013 E. 1.3.3), bei nicht richtiger Besetzung des Gerichts (Urteile 6B_596/2012 und 6B_682/2012 je vom 25. April 2013 je E. 1.3) oder bei unvollständiger Behandlung sämtlicher Anklage- oder Zivilpunkte (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1318 Ziff. 2.9.3.3; vgl. auch MOREILLON/PAREIN-REYMOND, a.a.O., N. 2 zu Art. 409 StPO; HUG/SCHEIDEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 409 StPO;EUGSTER, a.a.O., N. 1 ![]() | 20 |
Erwägung 6.2 | |
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Das Rechtsmittelverfahren setzt das Strafverfahren fort und knüpft an die bereits erfolgten Verfahrenshandlungen, namentlich die bereits durchgeführten Beweiserhebungen, an. Gemäss Art. 389 Abs. 1 StPO beruht das Rechtsmittelverfahren auf den Beweisen, die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Hauptverfahren erhoben worden sind (vgl. auch Art. 343 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 StPO). Beweisabnahmen des erstinstanzlichen Gerichts werden im Rechtsmittelverfahren nach Abs. 2 derselben Bestimmung nur wiederholt, wenn Beweisvorschriften verletzt worden sind (lit. a), die Beweiserhebungen unvollständig waren (lit. b) oder die Akten über die Beweiserhebung unzuverlässig erscheinen (lit. c).
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6.2.2 Die Bestimmung von Art. 341 Abs. 3 StPO dient einerseits Beweiszwecken, andererseits trägt sie auch der Subjektstellung der beschuldigten Person Rechnung. Die Vorschrift garantiert als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör das persönlichkeitsbezogene Mitwirkungsrecht der beschuldigten Person im gegen sie ![]() | 23 |
Die eingehende Befragung im Sinne von Art. 341 Abs. 3 StPO dient dem Gericht dazu, einen persönlichen Eindruck von der beschuldigten Person zu gewinnen und zu klären, wie sich diese zu den Anklagevorwürfen und den Ergebnissen des Vorverfahrens stellt, namentlich ob sie im Sinne der Anklage geständig ist oder nicht. Dies erlaubt ihm, wesentliche Schlüsse für den weiteren Gang der Hauptverhandlung zu ziehen. Von der Stellungnahme zur Anklage hängt vor allem ab, ob und inwieweit Beweise zu wiederholen bzw. weitere Beweise abzunehmen sind (Urteil 6B_492/2012 vom 22. Februar 2013 E. 2.4.1; SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 6 zu Art. 341 StPO; ders., Handbuch, a.a.O., N. 1324; PIERRE DE PREUX, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 14 zu Art. 341 StPO). In welcher Intensität die Befragung zur Anklage und zu den Ergebnissen des Vorverfahrens erfolgen muss, hängt vom konkreten Fall ab, namentlich von der Schwere der Anklagevorwürfe und der Beweislage (BGE 143 IV 288 E. 1.4.2; HAURI/VENETZ, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 16 zu Art. 341 StPO; GUT/FINGERHUTH, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 11 zu Art. 341 StPO; SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 8 zu Art. 341 StPO).
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Die Bestimmung von Art. 341 Abs. 3 StPO ist in Bezug auf die Befragung der beschuldigten Person zwingend, nicht aber in Bezug auf den Zeitpunkt. Ergänzungsfragen der Parteien können eine lückenhafte gerichtliche Befragung vervollständigen, eine gänzlich unterbliebene Befragung jedoch grundsätzlich nicht ersetzen (BGE 143 IV 288 E. 1.4.3; ferner GUT/FINGERHUTH, a.a.O., N. 11 zu Art. 341 StPO).
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Erwägung 6.3 | |
6.3.1 Im zu beurteilenden Fall wies der Verteidiger des Angeklagten Y. zu Beginn der erstinstanzlichen Hauptverhandlung im Rahmen der Prüfung der Vorfragen auf das Unmittelbarkeitsprinzip und auf die Notwendigkeit einer ausführlichen Parteibefragung hin. Daraufhin stellte der Gerichtspräsident zunächst in Aussicht, dass die Beschuldigten ausführlich Gelegenheit erhalten würden, sich zu ![]() | 26 |
6.3.2 Bei dieser Sachlage ist der Schluss der Vorinstanz, die Angeklagten hätten sich zur Sache nicht äussern können, nicht haltbar. Diese haben vielmehr ausdrücklich Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, und zwar nicht erst im Rahmen ihres letzten Wortes (vgl. hierzu Urteil 6B_16/2015 vom 12. März 2015 E. 1.4.3), sondern zu Beginn der Verhandlung. Da die Beschuldigten A., X. und Z. auf Aussagen verzichteten, wobei letzterer allerdings verschiedene Ergänzungsfragen der Staatsanwaltschaft beantwortete, käme eine Verletzung der Befragungspflicht nur in Bezug auf den Angeklagten Y. in Frage, der allerdings in freier Rede während mehrerer Stunden Stellung genommen hat. Damit kann der ersten Instanz nicht vorgeworfen werden, sie habe den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensgang nicht sichergestellt. Eine schwerwiegende Verletzung von Verfahrensvorschriften, welche im Berufungsverfahren nicht geheilt werden könnte, ist nicht ersichtlich, zumal den Angeklagten die Gelegenheit, sich zu äussern, nicht vollständig verwehrt war. Dass die Verfahrensleitung die Angeklagten nicht selbst befragte, sondern diese in freier Rede zu Wort kommen liess oder auf Frage der Staatsanwaltschaft antworteten, schadet, wie auch die Vorinstanz implizit annimmt, nicht, solange jene sich jedenfalls uneingeschränkt äussern und ihren Standpunkt in Bezug auf ihre persönlichen Verhältnisse und die Anklagevorwürfe eingehend darlegen konnten. Soweit die Vorinstanz zum Schluss gelangt, die Befragung der Angeklagten in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung sei nicht ausreichend gewesen, hätte sie die Einvernahmen der Angeklagten im Übrigen in Anwendung von Art. 389 Abs. 2 lit. b StPO wiederholen können (vgl. ZIEGLER/KELLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 389 StPO; KISTLER VIANIN, ![]() | 27 |
Ob im zu beurteilenden Fall die Befragung der Angeklagten gesetzeskonform durchgeführt wurde, kann mithin letztlich offenbleiben, da allfällige Mängel unter den gegebenen Umständen nicht als derart gravierend erschienen, dass die Rückweisung zur Wahrung der Parteirechte unumgänglich gewesen wäre. Jene wären in der Berufungsverhandlung vielmehr ohne Weiteres heilbar gewesen. Es hat daher insgesamt kein hinreichender Anlass bestanden, die Sache gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO an die erste Instanz zurückzuweisen. Die Rückweisung führt vielmehr zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen, die mit dem Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären (BGE 137 I 195 E. 2.3.2 mit Hinweisen; vgl. auch KISTLER VIANIN, a.a.O., N. 5 zu Art. 409 StPO). Das angefochtene Urteil verletzt in diesem Punkt Bundesrecht.
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Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet.
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Erwägung 7 | |
7.1 Die Beschwerdeführerin rügt im Weiteren, die Vorinstanz sei aktenwidrig zum Schluss gelangt, dass die erste Instanz kein Einvernahmeprotokoll erstellt habe. In Wirklichkeit sei das Kantonsgericht seiner Protokollierungspflicht nachgekommen. Einerseits habe es die gesamte Verhandlung mit technischen Hilfsmitteln akustisch aufgezeichnet und die Audio-Datei auf einem Massenspeicher abgelegt. Andererseits habe es den Ablauf der Verhandlung und die Aussagen der Angeklagten zusammenfassend schriftlich festgehalten. Der Ablauf der Hauptverhandlung sei mithin in einem Verfahrensprotokoll und die Aussagen der Beschuldigten in ihrem wesentlichen Gehalt zusammengefasst schriftlich wiedergegeben worden. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach kein Einvernahmeprotokoll im eigentlichen Sinne erstellt worden sei, sei daher willkürlich. Die Audio-Dateien könnten jederzeit von den Rechtsmittelinstanzen und den Parteien abgerufen werden und erfüllten alle Anforderungen an die Protokollierung vollumfänglich. Durch die summarische Niederschrift der wichtigsten Aussagen und des Verfahrensablaufs in Verbindung mit der akustischen Aufzeichnung der gesamten Verhandlung sei sichergestellt, dass sowohl die Rechtsmittelinstanzen ![]() | 31 |
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Erwägung 8 | |
8.1 Gemäss Art. 76 Abs. 1 StPO werden die Aussagen der Parteien, die mündlichen Entscheide der Behörden sowie alle anderen Verfahrenshandlungen, die nicht schriftlich durchgeführt werden, protokolliert. Die Verfahrensleitung ist dafür verantwortlich, dass die Verfahrenshandlungen vollständig und richtig protokolliert werden ![]() | 33 |
Gemäss Art. 78 Abs. 1 StPO werden die Aussagen der Parteien, Zeuginnen, Zeugen, Auskunftspersonen und Sachverständigen laufend protokolliert. Nach Abs. 3 derselben Bestimmung werden entscheidende Fragen und Antworten wörtlich protokolliert. Nach Abschluss der Einvernahme wird der einvernommenen Person das Protokoll vorgelesen oder ihr zum Lesen vorgelegt; sie hat das Protokoll nach Kenntnisnahme zu unterzeichnen und jede Seite zu visieren (Art. 78 Abs. 5 StPO). Wird die Einvernahme im Hauptverfahren mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet, kann das Gericht gemäss Art. 78 Abs. 5bis StPO darauf verzichten, der einvernommenen Person das Protokoll vorzulesen oder zum Lesen vorzulegen und von dieser unterzeichnen zu lassen; die Aufzeichnungen werden zu den Akten genommen.
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Nach der früheren Fassung von Art. 78 Abs. 7 StPO mussten die Aussagen, die mittels technischer Hilfsmittel aufgezeichnet worden waren, unverzüglich in Reinschrift übertragen werden (AS 2010 1881, 1903). Die Bestimmung liess nach Auffassung der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vermuten, dass Einvernahmen mittels technischer Hilfsmittel aufgezeichnet werden dürften, ohne dass gleichzeitig fortlaufend und sinngemäss zu protokollieren sei, was nach ihrer Ansicht im Widerspruch zu Art. 76 Abs. 4 StPO stand, nach welcher Bestimmung eine Aufzeichnung nur zusätzlich zur schriftlichen Protokollierung, nicht aber an deren Stelle, erfolgen kann. Der entsprechende Passus der Bestimmung wurde daher mit Änderungen der Schweizerischen Zivilprozessordnung und der Schweizerischen Strafprozessordnung (Protokollierungsvorschriften) vom 28. September 2012 gestrichen (vgl. nunmehr Art. 78 Abs. 7 StPO in der Fassung vom 28. September 2012, in Kraft seit 1. Mai 2013; Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 16. April 2012 zur Parlamentarischen Initiative Strafprozessordnung [Protokollierungsvorschriften], BBl 2012 5716). Hauptanliegen der Revision war allerdings die Verringerung des Zeit- und Kostenaufwandes durch Verzicht auf Verlesung des Protokolls und Vorlage desselben zur Unterzeichnung durch die einvernommene Person, wenn die Einvernahme im Hauptverfahren mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet wurde (Art. 78 Abs. 5bis StPO).
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8.3 Prozessrelevante Vorgänge müssen schriftlich-lesbar oder mindestens bildlich-visuell erfassbar dargestellt werden. Mündliche Verfahrensvorgänge sind demnach in Schriftform zu übertragen (SCHMID, Handbuch, a.a.O., N. 569, N. 571). Art. 76 Abs. 4 StPO erlaubt zwar, dass Verfahrenshandlungen ganz oder teilweise auch in Ton oder Bild festgehalten werden können. Dies kann indes nur zusätzlich zur schriftlichen Protokollierung erfolgen (vgl. auch Art. 235 Abs. 2 ZPO). Die Aufnahme mit technischen Hilfsmitteln vermag das schriftliche Protokoll somit zwar zu ergänzen, nicht aber zu ersetzen. Auf die Schriftform kann daher grundsätzlich nicht verzichtet werden (Botschaft, a.a.O., S. 1156; vgl. auch Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates, a.a.O., S. 5713 f.; BRÜSCHWEILER, a.a.O., N. 8 zu Art. 76 StPO; NÄPFLI, in: Basler Kommentar, a.a.O., ![]() | 37 |
Das Festhalten am Erfordernis des Schriftprotokolls bezweckt, die Strafbehörden und die Verfahrensbeteiligten davon zu entbinden, stundenlang Aufzeichnungen anzuhören. Das schriftliche Protokoll erlaubt ihnen, sich rasch einen Überblick über die durchgeführte Beweiserhebung zu verschaffen (vgl. CAPUS/STOLL, Lesen und Unterzeichnen von Einvernahmeprotokollen im Vor- und Hauptverfahren, ZStrR 131/2013 S. 214). Die Bestimmung von Art. 76 Abs. 4 StPO schliesst in diesem Sinn - jedenfalls für Einvernahmen im Vorverfahren - nicht aus, dass das schriftliche Protokoll erst nachträglich auf der Grundlage akustischer oder audiovisueller Aufzeichnungen erstellt wird. Die Beweiserhebung wird dadurch nicht nur umfassender, sondern auch authentischer protokolliert, als dies bei einer parallelen Protokollierung der Fall wäre (OBERHOLZER, a.a.O., N. 1277).
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Erwägung 9 | |
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Unter diesen Umständen ist zunächst nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz annimmt, es liege kein eigentliches Schriftprotokoll vor. Die "Übersicht über den Verhandlungsverlauf" ist eine differenzierte, in einzelne Punkte aufgegliederte Inhaltsangabe, die in knapper Form festhält, was im betreffenden Punkt auf der Audiodatei zu hören ist. Ein fortlaufendes schriftliches Protokoll im Sinne der Art. 76 Abs. 1 und Art. 78 Abs. 1 StPO ist sie nicht und will sie nach den Ausführungen der ersten Instanz auch gar nicht sein. ![]() | 40 |
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Grundsätzlich trifft zu, dass Protokollvorschriften zwingend sind und ihre Beachtung Voraussetzung für die Gültigkeit des Protokolls und damit für die Verwertbarkeit der Aussagen ist (Art. 141 Abs. 2 StPO; vgl. oben E. 7.2; ferner SCHMID, Handbuch, a.a.O., N. 571 ff., N. 214 f.; NÄPFLI, in: Basler Kommentar, a.a.O., N. 12 zu Art. 76 und N. 20/25 zu Art. 78 StPO). Zudem ist richtig, dass der Mangel im Berufungsverfahren nicht geheilt werden kann. Doch ist zu bedenken, dass die Vorinstanz im vorliegenden Fall nicht gänzlich von einer Protokollierung abgesehen hat, sondern dass sie die gesamte Hauptverhandlung auf Tonträger aufgezeichnet hat. Auf diese Weise ist sie offensichtlich gerade deshalb verfahren, weil sie angesichts von Umfang und Komplexität des Sachverhalts mit fünf Angeklagten und einer Verfahrensdauer von 12 ˝ Verhandlungstagen sicherstellen wollte, dass in Bezug auf die Einvernahmen keine Unklarheiten entstehen können. Zudem hat sie eine Übersicht über den ![]() | 42 |
Der Mangel erschöpft sich im vorliegenden Fall somit lediglich darin, dass die Tonaufnahme nicht bloss eine zusätzliche, sondern die hauptsächliche Aufzeichnung ist. Da sich dieser Mangel ohne Weiteres beheben lässt, erscheint die Rückweisung der Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung als nicht nachvollziehbar und damit als unverhältnismässig. Die Vorinstanz wird demzufolge das Kantonsgericht anweisen, von der Tonaufzeichnung eine Abschrift zu erstellen und nach Eingang derselben das Berufungsverfahren fortzusetzen.
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