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39. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_714/2018 vom 14. August 2018 | |
Regeste |
Art. 65 Abs. 2 StGB; Art. 410 ff. StPO; nachträgliche Verwahrung, neues Gutachten. |
Der Entscheid des Berufungsgerichts über das Vorliegen von Revisionsgründen unter gleichzeitiger Rückweisung der Sache an die von ihm bezeichnete Behörde zur neuen Behandlung und Beurteilung gemäss Art. 413 Abs. 2 lit. a StPO ist ein Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG (E. 2.3). |
Die nachträgliche Verwahrung in Durchbrechung der Rechtskraft des Strafurteils kann gestützt auf ein neues Gutachten nur sehr restriktiv angeordnet werden. Die Revision kommt ausschliesslich aufgrund von Tatsachen oder Beweismitteln in Betracht, die im Zeitpunkt der Verurteilung bereits bestanden haben, ohne dass das Gericht davon Kenntnis haben konnte (E. 3.1). |
Bildete die Anordnung der Verwahrung bereits Gegenstand des ursprünglichen Strafverfahrens, kann ein neues Gutachten, welches lediglich von den Einschätzungen und Schlussfolgerungen des früheren Gutachtens abweicht, in aller Regel keinen Revisionsgrund begründen (E. 3.2). | |
Sachverhalt | |
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Das Obergericht hatte eine Verwahrung gemäss aArt. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB gestützt auf ein psychiatrisches Gutachten von Dr. med. A. vom 21. Juni 2006 geprüft und war dabei zum Schluss gekommen, X. wohne eine gewisse Gefährlichkeit inne. Es könne aber nicht gesagt werden, dass es sich bei ihm um einen hochgefährlichen Täter handle, der keiner Behandlung zugänglich sei. Auch wenn letztlich ein deutlich erhöhtes Rückfallrisiko anzunehmen sei, rechtfertige sich seine Verwahrung als Ersttäter nicht.
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A.b Das Bundesgericht wies die von der Staatsanwaltschaft erhobene Beschwerde in Strafsachen ab, mit welcher diese eventualiter die Verwahrung (oder eine ambulante Massnahme) beantragt hatte (Urteil 6B_347/2007 vom 29. November 2007, publ. in: BGE 134 IV 121).
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Es erwog, der revidierte Allgemeine Teil des StGB sei am 1. Januar 2007 in Kraft getreten. Ziff. 2 Abs. 1 der Schlussbestimmung sehe die rückwirkende Anwendung des neuen Massnahmenrechts für verurteilte wie für noch nicht beurteilte Täter vor. Die nachträgliche Anordnung der Verwahrung nach Art. 65 Abs. 2 StGB sei aber gemäss Ziff. 2 Abs. 1 lit. a der Schlussbestimmung nur zulässig, wenn die Verwahrung auch gemäss aArt. 42 oder 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB möglich gewesen wäre (BGE 134 IV 121 E. 3.1 S. 124). Das Rückwirkungsverbot erlange für die Verwahrung Gültigkeit (BGE 134 IV 121 E. 3.3.3 S. 129). Das (anzuwendende) neue Recht erweise sich aber weder hinsichtlich der Anordnung noch der Entlassung als strenger als das alte Recht. Damit stehe Ziff. 2 Abs. 1 der Schlussbestimmungen nicht im Widerspruch zu Art. 7 Abs. 1 EMRK und Art. 15 Abs. 1 UNO-Pakt II. Der Verzicht auf die Verwahrung sei indes auch gemäss Art. 64 StGB nicht zu beanstanden (BGE 134 IV 121 E. 3.4.4 S. 131).
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B. Am 13. Dezember 2017 ersuchte die Staatsanwaltschaft IV beim Obergericht um nachträgliche Anordnung der Verwahrung nach Art. 65 Abs. 2 StGB und beantragte die Anordnung von Sicherheitshaft (Art. 388 lit. b StPO) bis zum Vorliegen des rechtskräftigen Entscheids (Ende des Strafvollzugs am 17. Dezember 2017). ![]() | 5 |
Das Bundesgericht hob auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft die Präsidialverfügung auf und wies die Sache zur Anordnung von Sicherheitshaft zurück (Urteil 1B_548/2017 vom 29. Januar 2018 E. 3.1). Mit Präsidialverfügung vom 30. Januar 2018 wurde X. in Sicherheitshaft versetzt. Er wurde am 1. Februar 2018 inhaftiert.
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Am 6. Juni 2018 hiess das Obergericht des Kantons Zürich das Gesuch um nachträgliche Anordnung der Verwahrung vom 13. Dezember 2017 gut, hob das Strafurteil vom 19. März 2007 auf und wies die Sache im Sinne der Erwägungen zur neuen Behandlung und Beurteilung an das Bezirksgericht Hinwil.
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C. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, die Eingabe als Beschwerde in Strafsachen entgegenzunehmen (Ziff. 1), den vorinstanzlichen Beschluss aufzuheben, das Gesuch um nachträgliche Verwahrung (Revision) abzuweisen, eventualiter die Sache zur Vervollständigung der Sachverhaltsabklärung und weiteren Beweiserhebung zurückzuweisen und die Vorinstanz anzuweisen, die Sache gestützt auf das Revisionsrecht nach Art. 410 ff. StPO zu behandeln, ihn per sofort aus der Sicherheitshaft zu entlassen, ihm pro Hafttag seit dem 1. Februar 2018 bis zum Entscheiddatum eine Genugtuung von Fr. 300.- (zzgl. Zins) zuzusprechen sowie eventualiter ihm die unentgeltliche Rechtspflege (und Verbeiständung) zu bewilligen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt, den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 6. Juni 2018 hebt es auf und die Sache weist es zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
1.1 Der Beschwerdeführer beantragt, das eingereichte Rechtsmittel als Beschwerde in Strafsachen entgegenzunehmen, eventualiter als altrechtliche eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und subeventualiter als subsidiäre staatsrechtliche Beschwerde (Ziff. 1; oben Bst. C). Aus anwaltlicher Vorsicht werde eine altrechtliche kantonale Nichtigkeitsbeschwerde eingereicht mit dem Antrag auf Sistierung bis zum bundesgerichtlichen Entscheid. Nach dem Zustellungsschreiben des Obergerichts an das Bundesgericht vom 18. Juli ![]() | 10 |
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Die Vorinstanz prüft die Sachfrage im Bewilligungsverfahren gestützt auf das als neues Beweismittel eingereichte psychiatrische Gutachten von Dr. med. B. vom 4. Mai 2015. Die darin belegten neuen Tatsachen seien geeignet, eine Verwahrung zu begründen. Sie habe die Sach- und Beweislage nicht abschliessend zu klären.
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Die Vorinstanz kommt zum Ergebnis, da die Revisionsgründe gemäss Art. 65 Abs. 2 StGB gegeben seien, sei das Revisionsgesuch gutzuheissen. Für die Revision zu Ungunsten des Betroffenen sehe § 448 aStPO/ZH eine Rückweisung an die Staatsanwaltschaft vor. Davon sei abzusehen und Art. 413 Abs. 2 StPO anzuwenden (Urteil 6B_41/2012 vom 28. Juni 2012 E. 1.1). Die Aktenlage erlaube keinen sofortigen Entscheid. Es werde noch eingehender abzuklären sein, ob und inwieweit die Voraussetzungen für eine Verwahrung erfüllt seien. Das Sachurteil sei von der I. Strafkammer des Obergerichts mit geschworenengerichtlicher Kompetenz und als erste Instanz gefällt worden. Diese Behörde sei mit Inkrafttreten der StPO abgeschafft worden. Daher sei die Sache gemäss Art. 31 ff. StPO an das örtlich zuständige Bezirksgericht zurückzuweisen.
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Die StPO trat am 1. Januar 2011 in Kraft und war mithin bei Erlass von Art. 65 Abs. 2 StGB nicht in Kraft. Art. 65 Abs. 2 StGB wurde auf den 1. Januar 2007 in Kraft gesetzt (AS 2006 3544) und ist inzwischen nicht an die StPO angepasst worden; es werden weder die Revision im Sinne von Art. 410 ff. StPO noch die Art. 363-365 StPO in Art. 65 Abs. 2 StGB genannt (Urteil 1B_548/2017 vom ![]() | 15 |
Die Botschaft vom 29. Juni 2005 zur Änderung des Strafgesetzbuches [...] (BBl 2005 4689) bezeichnet die nachträgliche Verwahrungnach dem Wortlaut von Art. 65 Abs. 2 StGB als "Revision zu Ungunsten des Verurteilten" und betrachtet sie unter zwei Voraussetzungen als zulässig: Es sei erstens eine gesetzliche Grundlage notwendig, welche die nachträgliche Anordnung einer härteren Sanktion ausdrücklich vorsehe; und zweitens bedürfe es neuer Tatsachen und Beweismittel, die belegen, dass die Voraussetzungen für die härtere Sanktion schon im Zeitpunkt des ersten Urteils bestanden haben, ohne dass das Gericht davon Kenntnis haben konnte (Botschaft, a.a.O., S. 4714 zu Ziff. 2.2.3.1). Art. 65 Abs. 2 StGB bildet nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers die notwendige Grundlage für die nachträgliche Verwahrung.
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Verfahrensrechtlich verweist Art. 65 Abs. 2 letzter Satz StGB auf die Regeln, die für die Wiederaufnahme gelten und damit für die Zeit bis zum 31. Dezember 2010 auf die Revisionsbestimmungen in den kantonalen Prozessordnungen und für die Zeit nach Inkrafttreten der StPO in zeitgemässer Auslegung nach der ratio legis und dem heutigen Stand der Gesetzgebung hinsichtlich Zuständigkeit und Verfahren auf die Regeln von Art. 410 ff. StPO (Urteil 6B_896/2014 vom 16. Dezember 2015 E. 4.6, in: Pra 2016 Nr. 34 S. 302 sowie Urteil 6B_597/2012 vom 28. Mai 2013 E. 2.3.3; zu letzterem Urteil der Revisionsentscheid 6F_8/2018 vom 22. Mai 2018 zum Urteil der Dritten Kammer des EGMR Kadusic contre Suisse vom 9. Januar 2018, Nr. 43977/13).
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Im Urteil 1B_548/2017 vom 29. Januar 2018 E. 3.1 wies die I. öffentlich-rechtliche Abteilung im Rahmen dieses Revisionsverfahrens (oben Bst. B) darauf hin, das Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Massnahmenentscheiden (insb. Art. 64 i.V.m. Art. 65 StGB) richte sich nach der StPO.
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Dass die Vorinstanz das Verfahren im Rahmen des kantonalen Rechts durchführte, führt nicht bereits zur Gutheissung der Beschwerde, da ![]() | 23 |
Diese bundesrechtlich konstituierte Rechtslage führt zu der weiteren Konsequenz, dass die altrechtliche kantonale Nichtigkeitsbeschwerde an das (abgeschaffte) Kassationsgericht und damit heute an eine Abteilung des Obergerichts nicht mehr gegeben ist. Auf die Sistierungsfrage (oben E. 1.1) ist nicht einzutreten.
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Erwägung 2 | |
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2.3 Der vorinstanzliche Beschluss schliesst das Verfahren nicht ab, sondern weist die Sache im Gegenteil an die Erstinstanz (Bezirksgericht) ![]() | 27 |
Ein Zwischenentscheid ist gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG mit Beschwerde in Strafsachen nur anfechtbar, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Der nicht wiedergutzumachende Nachteil gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss rechtlicher Natur sein, was voraussetzt, dass er sich auch mit einem späteren günstigen Endentscheid nicht oder nicht gänzlich beseitigen lässt (BGE 137 III 380 E. 1.2.1 S. 382; BGE 141 IV 284 E. 2.2 S. 287). Dagegen reichen rein tatsächliche Nachteile wie die Verfahrensverlängerung oder -verteuerung nicht aus (BGE 137 III 380 E. 1.2.1 S. 382; BGE 133 IV 139 E. 4 S. 141). Letztinstanzliche kantonale Rückweisungsentscheide bewirken in der Regel keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (BGE 133 IV 139 E. 4 S. 141). Eine Ausnahme von dieser Regel sieht die Rechtsprechung vor, wenn eine Behörde durch einen Rückweisungsentscheid gezwungen würde, einer von ihr als falsch erachteten Weisung Folge zu leisten (Urteil 6B_845/2015 vom 1. Februar 2016 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 142 IV 70). In casu wird das Bezirksgericht nicht angewiesen, die Verwahrung gemäss Art. 65 Abs. 2 StGB anzuordnen; die Vorinstanz weist die Sache (nur) "zur neuen Behandlung und Beurteilung zurück" (Art. 413 Abs. 2 lit. a StPO). Strafprozessuale Zwischenentscheide sind nur ausnahmsweise und restriktiv anfechtbar (BGE 133 IV 288 E. 3.2 S. 292). Dies gilt ebenso im Rahmen von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG (vgl. Urteil 6B_594/2018 vom 14. Juni 2018 E. 2).
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Sind die Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. a und b BGG nicht gegeben, tritt das Bundesgericht auf Zwischenentscheide wie den vorliegenden revisionsrechtlichen Bewilligungsentscheid in konstanter Rechtsprechung nicht ein (Urteile 6B_52/2011 vom 9. März 2011 und 6B_1186/2017 vom 22. Dezember 2017).
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Wie BOMMER (a.a.O., S. 65) nachweist, setzt die Revision eine "Unerkennbarkeit" voraus. Dies ist nach dem Wortlaut des Gesetzes ("ohne dass das Gericht davon Kenntnis haben konnte") eindeutig, denn Art. 65 Abs. 2 StGB setzt damit voraus, dass dem Gericht das Vorliegen der Voraussetzungen der Verwahrung nicht bekannt sein konnte. Wie der Autor ausführt, scheiden damit bereits sämtliche Fälle aus, in denen solche bekannt waren, vom Gericht aber nicht entsprechend gewürdigt worden sind, so bei der Ablehnung einer beantragten Verwahrung. Damit entfällt die Neuheit der Tatsache oder des Beweismittels. Nur wo verwahrungsbegründende Tatsachen kein Thema des ersten Verfahrens gebildet hatten, bleibt die Anwendung von Art. 65 Abs. 2 StGB denkbar, sofern diese Unterlassung nicht in die Verantwortung des Gerichts fällt (BOMMER, a.a.O., S. 66). In analoger Weise können im Rahmen von Art. 65 Abs. 1 StGB Tatsachen oder Beweismittel, die dem urteilenden Gericht bereits zur Beurteilung vorlagen und deshalb Gegenstand der richterlichen ![]() | 32 |
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3.3 Der vorinstanzliche Bewilligungs- und Rückweisungsbeschluss verletzt die bundesrechtlichen Voraussetzungen von Art. 65 Abs. 2 StGB. Gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG ist die Beschwerde gegen selbstständig eröffnete Zwischenentscheide zulässig, wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde. Das ist hier der Fall. Der angefochtene Zwischenentscheid ist aufzuheben.
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