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54. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis und Schweizerische Bundesbahnen SBB AG (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_1326/2018 vom 16. Oktober 2019 | |
Regeste |
Art. 86 Abs. 1 EBG; Art. 382 Abs. 1 i.V.m. Art. 115 Abs. 1 StPO; Betreten des Bahnbetriebsgebiets ohne Erlaubnis, Legitimation der SBB AG zur Berufung gegen ein freisprechendes Strafurteil. |
Die Rechtsmittelberechtigung im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO entscheidet sich nach der Rechtsgutsqualifizierung (E. 2.4.1 und 2.4.2). |
Die SBB AG kann im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO grundsätzlich durch ihre Bevollmächtigten ein Rechtsmittel ergreifen; die Berechtigung im Sinne der Sachurteilsvoraussetzung steht ihr aber einzig unter den Bedingungen von Art. 115 StPO zu (E. 2.4.7). |
Art. 86 Abs. 1 EBG dient der Sicherheit des Bahnbetriebs auf dem Bahnbetriebsgebiet und damit öffentlichen Interessen. Die SBB AG ist in casu nicht als Geschädigte im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO anzuerkennen (E. 2.4.13). | |
Sachverhalt | |
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis, Region Oberwallis, bestrafte mit Strafbefehl vom 22. September 2016 A. wegen Widerhandlung gegen Art. 86 Abs. 1 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957 (EBG; SR 742.101) mit Fr. 100.- Busse. Dem Strafbefehl lag sachverhaltlich der Verzeigungsbericht zugrunde, mit der Ergänzung: Um 09.11 Uhr sei der Zug im Bahnhof angekommen. Nachdem alle Passagiere den Zug verlassen hatten, habe der Lokführer den Zug zur Rangierfahrt in Bewegung gesetzt. Als der Zug bereits in Fahrt gewesen sei, habe A. die Gleise 1 bis 3 im Sektor D überquert.
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B. Das Bezirksgericht Brig-Östlich Raron-Goms sprach A. auf ihre Einsprache hin am 1. Juni 2017 von Schuld und Strafe frei. Es nahm an, am Tag des Vorfalls habe es sich an der fraglichen Stelle des Bahnhofs nicht um ein in allen Fällen gesperrtes Bahnbetriebsgebiet gehandelt, sondern um einen Bahnübergang nach Art. 37 der Verordnung vom 23. November 1983 über Bau und Betrieb der Eisenbahnen (Eisenbahnverordnung, EBV; SR 742.141.1). Art. 86 Abs. 1 EBG stelle das vorsätzliche unerlaubte Betreten des Bahnbetriebsgebiets unter Strafe. Es sei nicht anzunehmen, dass sich A. selber gefährden und bewusst trotz des herannahenden Zuges das Bahnbetriebsgebiet habe überqueren wollen.
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Das Kantonsgericht des Kantons Wallis hiess am 16. November 2018 die Berufung der SBB AG gut, hob das bezirksgerichtliche Urteil auf und verurteilte A. wegen Widerhandlung gegen Art. 86 Abs. 1 EBG zu Fr. 100.- Busse. Es stellte fest, der strittige Übergang sei eine dienstlich genutzte Karrenüberfahrt und nicht ein Zugang zum Perron für Reisende. Karrenüberfahrten seien nicht publikumsöffentlich (Anhang 2 zur EBV). Die Überschreitung der Gleise an dortiger Stelle hätte einer Erlaubnis bedurft, die fehle.
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C. A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben, das erstinstanzliche Urteil vollumfänglich zu ![]() | 6 |
D. In der Vernehmlassung verzichtete die Staatsanwaltschaft auf eine Stellungnahme und beantragte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.
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Die SBB AG beantragt die Abweisung der Beschwerde und begründet: Das EBG (Art. 1 Abs. 1) regle den Bau und Betrieb der Eisenbahnen. In der Fassung vor dem 1. Januar 2016 sei Art. 86 EBG (unberechtigte Gleisüberschreitung) als Antragsdelikt ausgestaltet gewesen. Mit der Ausgestaltung dieser Übertretung als Offizialdelikt sei das Interesse der Eisenbahnunternehmungen, Gleisübertretungen strafrechtlich zu verfolgen, nicht dahingefallen. Sie seien es, die durch das unerlaubte Betreten des Bahnbetriebsgebiets im technischen Betrieb gestört und insbesondere bei einem Personenschaden kausal haften würden, sofern keine Entlastung nach Art. 40c EBG möglich wäre. Weiter verweist sie auf ihre Eingabe an die Vorinstanz (unten E. 2.4.8) und das vorinstanzliche Urteil und hält zu ihrer Legitimation fest, sie sei durch den erstinstanzlichen Entscheid beschwert gewesen und habe ein rechtlich geschütztes Interesse an dessen Aufhebung gehabt. Sie äussert sich materiell mit Verweisungen auf das vorinstanzliche Urteil.
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Die Vorinstanz führt zum Vorwurf der Gehörsrechtsverletzung aus, sie habe nicht festgehalten, A. habe sich nicht zur Berufungslegitimation der SBB AG geäussert, sondern auf die Verfügung vom 21. August 2017 hin keine Vernehmlassung deponiert. Sie (die Vorinstanz) habe das aktuelle Interesse der SBB AG bejaht. Sie äussert sich u.a. zum fraglichen Karrenweg und entgegnet zum Vorwurf willkürlicher Sachverhaltsfeststellung namentlich, sie habe erörtert, warum es auf der Hand liege, dass die SBB AG an der besagten Stelle keine öffentliche Passage für Reisende errichtet habe.
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A. bestreitet in ihrer Replik u.a. die vorinstanzliche Annahme, die kleinen Verbotstafeln "Überschreiten der Gleise verboten" unterhalb der Perronkante in 5 m Entfernung vom fraglichen Gleisdurchgang bildeten eine genügende Verbotssignalisierung, damit, sie habe diese nicht gesehen und die SBB AG habe inzwischen oberhalb der Perronkante Schilder angebracht. Sollten Gleisüberschreitungen verboten sein, müsste die SBB AG dies explizit mit der dreidimensionalen ![]() | 10 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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2.3.2 Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten gibt es keine Geschädigten im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO, es sei denn, jemand werde als Folge der Begehung eines solchen Delikts konkret gefährdet. Raufhandel (Art. 133 StGB) ist ein solches Delikt, das primär das öffentliche Interesse schützt, Schlägereien (unter mindestens drei Beteiligten) zu verhindern, und das erst in zweiter Linie Individualinteressen ![]() | 15 |
Anschaulich wird diese Rechtslage anhand der Verletzung des Amtsgeheimnisses (Art. 320 StGB). Ein Geheimnis offenbart, wer es einem dazu nicht ermächtigten Dritten zur Kenntnis bringt oder diesem die Kenntnisnahme zumindest ermöglicht. Bei der ersten Variante bringt der Täter das Geheimnis dem Dritten zur Kenntnis und verletzt damit das Geheimhaltungsinteresse des Geheimnisherrn. Bei der zweiten Variante ermöglicht der Täter dem Dritten lediglich die Kenntnisnahme und gefährdet dadurch das Geheimhaltungsinteresse des Geheimnisherrn. So verhält es sich etwa bei unzureichender Verwahrung von Akten. Bei Verletzung des Geheimhaltungsinteresses des Geheimnisherrn ist dessen unmittelbare Verletzung und damit Geschädigtenstellung nach Art. 115 Abs. 1 StPO zu bejahen. Bei Gefährdung des Geheimhaltungsinteresses ist zu unterscheiden: Bestand die konkrete Gefahr, dass der Dritte vom Geheimnis Kenntnis nimmt, war also nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die Wahrscheinlichkeit oder nahe Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung gegeben, ist die Geschädigtenstellung zu bejahen. Bestand dagegen keine konkrete, sondern lediglich die abstrakte Gefahr der Verletzung des Geheimhaltungsinteresses, ist die Geschädigtenstellung zu verneinen. Bei Gefährdungsdelikten gibt es insoweit keine Geschädigten im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO, es sei denn, jemand werde konkret gefährdet (Urteil 1B_29/2018 vom 24. August 2018 E. 2.4 und 2.5 [betreffend Bindung von Archivmaterial der KESB durch Strafgefangene]).
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Der Straftatbestand lautet:
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"Mit Busse wird bestraft, wer vorsätzlich das Bahnbetriebsgebiet ohne Erlaubnis betritt, befährt oder es auf andere Weise beeinträchtigt."
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"Es liegt kein Gefährdungsdelikt vor. Die Übertretung gemäss Art. 86 Abs. 1 EBG stellt vielmehr ein Verletzungsdelikt dar, dessen Erfolg eingetreten ist, sobald jemand ohne Bewilligung und mit Vorsatz Bahnbetriebsgebiet betritt. Die Bahn ist diesfalls geschädigt und kann sich als Privatklägerin konstituieren" (nicht publ. E. 2.2).
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Vorsätzliches unerlaubtes "Betreten" der Gleise schädigt nicht schon und ist dennoch im Bahnbetriebsgebiet tatbestandsmässig, so dass "oder auf andere Weise (...) beeinträchtigt" als Auffangtatbestand und "beeinträchtigt" nicht als Erfolgsmerkmal zu verstehen ist, das vom Vorsatz erfasst sein müsste. Betreten und Befahren sind namentlich aufgeführte typische Varianten des Beeinträchtigens. Da sich das verpönte Verhalten oder das Unrecht in einer Handlung erschöpft, ohne dass ein Erfolg i.e.S. eintreten müsste, lässt sich Art. 86 Abs. 1 EBG auch als Tätigkeitsdelikt mit zwei Handlungsvarianten und einem Auffangtatbestand verstehen. Die Einordnung in die Typologie der Tatbestände kann offenbleiben, da die Rechtsmittelberechtigung durch die Rechtsgutsqualifizierung entschieden wird.
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2.4.2 Strafbar ist, wer durch Betreten, Befahren oder auf andere Weise das Bahnbetriebsgebiet beeinträchtigt. Wie dargelegt, erfordert "beeinträchtigen" nicht eine Schadenszufügung. Rechtsgut und Handlungsobjekt sind zu unterscheiden. Rechtsgut ist der durch die Strafvorschrift geschützte Wert (JESCHECK/WEIGEND, a.a.O., S. 259 f.). Dieser wird bei Übertretungstatbeständen des Verkehrsstrafrechts ![]() | 25 |
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2.4.6 Art. 86 Abs. 1 EBG pönalisiert jedenfalls verbotene Gleisüberschreitungen (KLETT/BAUMEIER/DAPHINOFF, a.a.O., Rz. 474). In casu ![]() | 29 |
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Der Gesetzgeber sieht den Betrieb der Eisenbahn als äussert gefährlich an (Urteil 4A_602/2018 vom 28. Mai 2019 E. 3.4.2). Der Gefährdungshaftungstatbestand von Art. 40b EBG legt die Voraussetzungen fest, die erfüllt sein müssen, damit der Inhaber des Eisenbahnunternehmens für Personen- und Sachschäden haftet. Die Haftung knüpft an die Verwirklichung der charakteristischen Risiken an, die mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden sind. Es handelt sich um eine strenge Kausalhaftung (sog. Gefährdungshaftung), die weder ein Verschulden noch eine Ordnungswidrigkeit bedingt (Urteil 4A_602/2018 vom 28. Mai 2019 E. 2.3). Das Eisenbahnunternehmen kann sich gemäss Art. 40c EBG entlasten, wobei entscheidend sein kann, welcher "Sphäre" eine Teilursache zuzurechnen ist; stösst ein Schuldunfähiger einen wartenden Passagier vor den Zug, kann es sich rechtfertigen, diese Teilursache dem Risikobereich des Unternehmens zuzurechnen (Urteil 4A_602/2018 vom 28. Mai 2019 E. 3.4.2). Ein Bahnunternehmen hat mithin ein eminentes Sicherheitsinteresse ![]() | 31 |
Somit kann die SBB AG zwar als juristische Person im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO grundsätzlich durch ihre Bevollmächtigten ein Rechtsmittel ergreifen; die Berechtigung im Sinne der Sachurteilsvoraussetzung steht ihr aber einzig unter den Bedingungen von Art. 115 StPO zu (vgl. Urteil 6B_367/2017 vom 17. Januar 2018 E. 1). Mit der blossen Verweisung auf BGE 139 IV 78 vermag sie ihre Legitimation ebenso wenig zu begründen wie mit einem Hinweis auf haftungsrechtliche Probleme (unten E. 2.4.8). Sie müsste dazu vielmehr in ihren Individualrechtsgütern unmittelbar verletzt sein. Dabei ist zu beachten, dass Art. 115 Abs. 1 StPO nicht einen "Schaden" voraussetzt, sondern die unmittelbare Verletzung der (juristischen) Person "in ihren Rechten". Art. 382 Abs. 1 StPO ist entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin nicht gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG zu interpretieren (BGE 139 IV 78 E. 3.3.3 S. 82 und E. 3.3.4 S. 83).
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2.4.9 Die von der SBB AG vorgetragene Interessenlage, nach welcher das Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vordergrund steht sowie dass weder Privatpersonen noch Zugpersonal oder Rollmaterial zu Schaden kommen und ein geordneter Bahnbetrieb gewährleistet werden soll, verweist auf Allgemeininteressen. Die Strafnorm lässt sich denn auch nicht anders verstehen, als dass sie den Bahnbetrieb schützt, wie auch die Vorinstanz annimmt (nicht publ. E. 2.2). Das ist unter dem Titel des SBBG ein öffentliches ![]() | 34 |
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2.4.12 Die Vorinstanz verweist "zur partiell fehlenden Legitimation der SBB AG" auf das Urteil 6B_80/2013 vom 4. April 2013. In jenem Ausgangsverfahren hatte die SBB AG Strafanzeige wegen Rauchens in einem Fahrzeug des öffentlichen Verkehrs erstattet. In ![]() | 37 |
Wie das Bundesgericht im Urteil 1B_443/2011 vom 28. November 2011 in E. 2 erwog, erbringt die SBB AG als Kernaufgabe Dienstleistungen im öffentlichen Verkehr, namentlich in der Bereitstellung von Infrastruktur (Art. 3 Abs. 1 SBBG). Zur Bereitstellung der Bahninfrastruktur gehört notwendigerweise auch deren ordnungsgemässer Betrieb, zu dessen Gewährleistung die Eisenbahnunternehmen Vorschriften über die Benützung des Bahnhofgebiets erlassen können (Art. 23 EBG). Der Betrieb von Bahnhöfen ist somit zweifelsfrei eine öffentliche Aufgabe, was nicht bedeutet, dass alle Tätigkeiten, die in irgendeiner Weise zum Betrieb eines Bahnhofs gehören, per se als öffentliche Aufgaben zu betrachten wären. Die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung auf dem Bahnareal bzw. der Sicherheit des Bahnbetriebs ist eine polizeiliche und damit öffentliche Aufgabe, die wegen ihres amtlichen Charakters durch Beamte (Art. 110 Abs. 3 StGB) zu erfüllen ist. Eine Durchsetzung des (privatrechtlichen) Hausrechts der SBB AG erfolgt dagegen nicht in Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe.
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Soweit nicht spezialgesetzlich ermächtigte Behörden zuständig sind (Art. 12 und 17 StPO), ist die Staatsanwaltschaft für die ![]() | 40 |
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