![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 06.05.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
1. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und B. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_933/2018 vom 3. Oktober 2019 |
Art. 56 Abs. 3 StGB, Art. 184 f. und 189 StPO; Verwertbarkeit und Beweiswert eines forensisch-psychiatrischen Aktengutachtens; Einholung einer Zweitexpertise; fremdanamnestische Erhebungen des Gutachters. |
Art. 59 und 63 StGB; stationäre oder ambulante Behandlung; Begriff der schweren psychischen Störung. |
Art. 59 et 63 CP; traitement institutionnel ou ambulatoire; notion de grave trouble mental. | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Auch zu seiner "Schülerin" D. habe A. während rund neun Jahren ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Ende 2006 habe er ihr eröffnet, dass er sie zu seiner "geistigen Frau" haben wolle, und ihr die Erleuchtung in Aussicht gestellt. In der Folge sei es nie zu eigentlichem Geschlechtsverkehr, aber zu (näher bezeichneten) sexuellen Übergriffen gekommen, die überwiegend mit (zusätzlicher) Gewaltausübung verbunden gewesen seien. D. sei A. hörig gewesen, habe bei Ablehnung des "Meisters" den Tod gefürchtet und sich nicht gegen die Übergriffe gewehrt. A. habe dieses "Verhältnis" u.a. durch Aussagen, die bei der Privatklägerin Angst und Verunsicherung auslösten, bis im April 2008 aufrecht gehalten (Ziff. 2).
| 2 |
Das Bezirksgericht Zurzach lehnte einen Rücküberweisungsantrag der Staatsanwaltschaft, die inzwischen eine weitere Untersuchung eröffnet hatte, ab (Entscheid vom 6. November 2013).
| 3 |
Daraufhin reichte die Staatsanwaltschaft am 6. März 2015 eine Zusatzanklage mit zusammengefasst folgendem Inhalt ein:
| 4 |
A. habe in seiner "Raja-Yoga-Schule" die Stellung eines autoritären Anführers eingenommen, der sich selbst als den höchsterleuchteten ![]() ![]() | 5 |
Anhand dieser Ausgangslage umschrieb die Zusatzanklage konkrete Vorwürfe, im Einzelnen:
| 6 |
Delikte zum Nachteil von E.: sexuelle Nötigung, begangen im April 2001 (Zusatzanklage-Ziff. 2.1), mehrfache sexuelle Nötigung, begangen zwischen April 2001 und April 2005 (Ziff. 2.2) sowie zwischen April 2005 und Dezember 2006 (Ziff. 2.3), qualifizierte sexuelle Nötigung, begangen Ende 2006 (Ziff. 2.4), Nötigung (zur Falschaussage in einer Strafuntersuchung; Ziff. 2.5), Drohung, begangen im November 2012 (Ziff. 2.6);
| 7 |
Delikte zum Nachteil von F.: mehrfache Ausnützung einer Notlage (Art. 193 Abs. 1 StGB), begangen von Ende April bis Ende September 2008 (Ziff. 3.1), mehrfache sexuelle Nötigung, begangen von Mitte März 2009 bis Ende Mai 2010 (Ziff. 3.2), mehrfache sexuelle Nötigung, begangen von Juni bis August 2010 (Ziff. 3.3), mehrfache sexuelle Nötigung, begangen von September 2010 bis Januar 2011 (Ziff. 3.4); ![]() | 8 |
9 | |
strafbare Handlung gegen die Rechtspflege: Anstiftung zu falschem Zeugnis, begangen im Dezember 2011 (Ziff. 5).
| 10 |
B. Das Obergericht des Kantons Aargau hob auf Berufung von A. hin ein erstes Urteil des Bezirksgerichts Zurzach vom 23. November 2015 auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung an das Bezirksgericht zurück. Im Hinblick auf die beantragte Verwahrung sei ein Ergänzungsgutachten einzuholen (Beschluss vom 14. April 2016).
| 11 |
Das Bezirksgericht Zurzach stellte das Verfahren gegen A. in Bezug auf die Vorwürfe gemäss Anklage-Ziff. 1 und 2 sowie Zusatzanklage-Ziff. 2.1, 2.2 (teilweise) und 3.1 infolge Verjährung ein. Vom Vorwurf der Drohung (Ziff. 2.6) sprach es ihn frei. Für schuldig erkannte es ihn hinsichtlich der Vorwürfe gemäss Zusatzanklage-Ziff. 2.2, 2.3, 2.4, 2.5, 3.2-3.4, 4 und 5. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von insgesamt 9 ¼ Jahren. Eine bedingt erlassene Vorstrafe von 21 Monaten Freiheitsstrafe (Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 22. April 2009) wurde widerrufen. Ausserdem ordnete das Bezirksgericht eine Verwahrung an (Urteil vom 6. Dezember 2016).
| 12 |
C. Das Obergericht hiess die Berufung des A. mit Urteil vom 6. Juni 2018 teilweise gut. Es sprach ihn vom Vorwurf der mehrfachen sexuellen Nötigung zum Nachteil von B. (Zusatzanklage-Ziff. 4) teilweise frei. Im Übrigen sprach es ihn in den gleichen Punkten wie die erste Instanz schuldig. Das Obergericht belegte A. mit einer Freiheitsstrafe von 3 ¾ Jahren als Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 22. April 2009 (für die bis zu diesem Zeitpunkt angeklagten Handlungen) sowie mit einer Freiheitsstrafe von 5 ¼ Jahren für die danach angeklagten Handlungen, das heisst insgesamt mit einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren. Ausserdem ordnete es - statt einer Verwahrung - eine vollzugsbegleitende ambulante Massnahme (Art. 63 StGB) an.
| 13 |
D. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das obergerichtliche Urteil vom 6. Juni 2018 sei insofern abzuändern, als er vom Vorwurf der mehrfachen sexuellen Nötigung zum Nachteil von B. (Zusatzanklage-Ziff. 4) vollständig freizusprechen sei. Demgemäss seien auch diejenigen Dispositivziffern des angefochtenen Urteils aufzuheben, in denen B. Genugtuung und Schadenersatz zugesprochen werde. Für die übrigen Schuldsprüche sei er mit einer Freiheitsstrafe ![]() ![]() | 14 |
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
| 15 |
Aus den Erwägungen: | |
16 | |
17 | |
Das Gericht stützt sich bei seinem Entscheid über die Anordnung einer Massnahme nach den Art. 59-61, 63 und 64 [StGB] auf eine sachverständige Begutachtung (Art. 56 Abs. 3 StGB; BGE 134 IV 315 E. 4.3.1 S. 326). Das Gutachten äussert sich zur Notwendigkeit und zu den Erfolgsaussichten einer Behandlung, zu Art und Wahrscheinlichkeit weiterer möglicher Straftaten und zu den Möglichkeiten des Vollzugs der Massnahme (Art. 56 Abs. 3 lit. a-c StGB).
| 18 |
19 | |
3.2.1 Er macht geltend, die Expertise des med. pract. G. vom 11. Juli 2014 tauge nicht als Grundlage zur Anordnung der angefochtenen Massnahme, weil sie nicht auf eigener Untersuchung beruhe. Aktengutachten seien nur in Ausnahmefällen zulässig (BGE 127 I 54). Der Sachverständige G. gehe nicht auf die Frage ein, inwiefern sich ein solches verantworten lasse. Die Erstgutachterin, H., habe in ihrer Expertise vom 14. Januar 2014 plausibel dargelegt, weshalb vorliegend eine aussagekräftige forensische Begutachtung, namentlich Diagnosestellung, nicht ohne persönliche Untersuchung möglich sei. Der Gutachter ![]() ![]() | 20 |
Die Vorinstanz weist darauf hin, dass dem Experten neben umfangreichen Strafakten u.a. Gutachten über zwei Opfer und ein psychiatrisches Gutachten über den Beschwerdeführer aus dem Jahr 2006 vorlagen; es gebe keine Anhaltspunkte für eine seither eingetretene wesentliche Änderung seines Gesundheitszustandes. Daher habe sich der Sachverständige nachvollziehbar in der Lage gesehen, einen Grossteil der Gutachterfragen zu beantworten. Soweit er gewisse Fragen ohne Exploration nicht beantworten konnte, habe er dies auch so festgehalten. Er habe zudem kenntlich gemacht, an welcher Stelle seine Antworten auf Mutmassungen beruhen. Die Strafverfolgungsbehörden hätten diesen Unsicherheiten im Rahmen der Beweiswürdigung Rechnung tragen können. Zudem habe der Gutachter darauf verzichtet, eine psychische Krankheit zu diagnostizieren, bei der sich gewisse Kriterien ohne Untersuchung nicht erhärten liessen.
| 21 |
3.2.2 Der Beschwerdeführer hat beiden Sachverständigen gegenüber eine persönliche Untersuchung verweigert. Rechtlich gilt dies auch dann als Verzicht auf eine Mitwirkung bei der Beweisaufnahme, wenn die Weigerung Ausdruck einer krankheitswertigen akzentuierten narzisstischen Persönlichkeit sein sollte. Hat es sich der Beschwerdeführer selbst zuzuschreiben, dass eine persönliche Untersuchung unterblieben ist, verhält er sich widersprüchlich, wenn er jetzt rügt, das Aktengutachten sei als Expertise unverwertbar (vgl. BGE 127 I 54 E. 2d S. 57). Unter diesen Umständen stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit eines Aktengutachtens unter dem Aspekt der Beteiligungsrechte hier nicht. Hingegen interessiert, ob die konkreten Gutachterfragen grundsätzlich im Rahmen eines Aktengutachtens beantwortet werden durften. Die persönliche Untersuchung gehört zum Standard einer forensisch-psychiatrischen Begutachtung. Nach der Rechtsprechung ist es in erster Linie Aufgabe des angefragten Sachverständigen zu beurteilen, ob sich ein Aktengutachten ausnahmsweise verantworten lässt (BGE 127 I 54 E. 2e, 2f S. 57 f.; Urteil 6B_257/2018 vom 12. Dezember 2018 E. 7.6.2). Ob und wie sich die fehlende Unmittelbarkeit der sachverständigen Einschätzung auf den Beweiswert eines Aktengutachtens auswirkt, ist nach dem konkreten Gegenstand der Gutachterfrage differenziert zu beurteilen. Der Gutachter soll sich (gegebenenfalls je nach Fragestellung gesondert) dazu äussern, ob eine Frage ohne Untersuchung gar nicht, nur in allgemeiner Form oder ohne Einschränkungen beantwortbar ist. ![]() ![]() | 22 |
23 | |
24 | |
Im Folgenden ist der Frage nachzugehen, ob der Gutachter dieser Vorgabe nachgelebt hat und die Vorinstanz auf seine Expertise abstellen durfte, ohne Bundesrecht zu verletzen.
| 25 |
3.2.5 Bezüglich der gestellten Diagnosen stützt sich der Sachverständige G. auf Gegebenheiten, die auf fünfzehn bis zwanzig Jahre ![]() ![]() | 26 |
3.2.6 Insgesamt hat der Gutachter G. nachvollziehbar dargelegt, in welchen Grenzen gutachterliche Einschätzungen ohne persönliche Exploration möglich sind. Deren Aussagekraft hat er sodann je nach Fragestellung differenziert dargestellt. Die Vorinstanz durfte das Aktengutachten somit als massgebliche Grundlage für den Entscheid über die strittige ambulante Behandlung verwenden. Es ist nicht ![]() ![]() | 27 |
28 | |
29 | |
Die Vorinstanz erwägt, nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung sei es dem Gericht überlassen, ob es die gutachtlichen Erörterungen für überzeugend hält und den Einschätzungen abschliessend folgt oder ob es vor seinem Urteil ein Ergänzungs- resp. ein Obergutachten einholt. Art. 189 StPO über die Ergänzung und Verbesserung des Gutachtens regle, unter welchen Voraussetzungen von Amtes wegen oder auf Parteiantrag hin eine ergänzende Begutachtung durchgeführt werden muss, und nicht, unter welchen Voraussetzungen eine solche zulässig ist. Die Strafverfolgungsbehörden könnten auch unabhängig von den in Art. 189 StPO umschriebenen Situationen ein weiteres Gutachten in Auftrag geben. Vorliegend habe das erste Gutachten massgebliche Fragen offengelassen. Somit seien die Behörden frei gewesen, ein zweites Gutachten einzuholen.
| 30 |
3.3.2 Der Vorinstanz ist beizupflichten. Die Voraussetzungen von Art. 189 StPO sind nicht in dem Sinne abschliessend, dass die Behörde nur in den dort aufgeführten Konstellationen ein weiteres Gutachten einholen dürfte. Offenbar kam die Staatsanwaltschaft im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 10 Abs. 2 StPO) zum Schluss, dass die von der Erstgutachterin ermessensweise gezogenen Grenzen für gutachtliche Festlegungen nicht von vornherein abschliessende ![]() ![]() | 31 |
Dass die Einschätzung der Staatsanwaltschaft begründet war, bestätigt sich im Übrigen, wenn die beiden Gutachten miteinander verglichen werden: Die Erstgutachterin hat keine Grenzen einer forensisch-psychiatrischen Beurteilung ohne persönliche Untersuchung formuliert, in deren Licht die Expertise G. fragwürdig erscheinen könnte. In den wesentlichen Fragen unterscheidet sich diese teilweise vom Erstgutachten, was den Grad an Verbindlichkeit der getroffenen Aussagen angeht, kaum aber inhaltlich. Soweit wegen des Fehlens einer persönlichen Untersuchung Zurückhaltung geboten war, hat der Gutachter dem Rechnung getragen (oben E. 3.2.6).
| 32 |
33 | |
3.4.1 Der Beschwerdeführer argumentiert, der Gutachter G. habe mit den Schwestern des Beschwerdeführers längere Telefonate geführt. Diese seien durch ihre Aussagen zu "zentralen Belastungszeuginnen komplett ausserhalb irgendeines justizförmigen Verfahrens" geworden. In wichtigen Punkten stütze sich der Experte denn auch auf diese Angaben. Die Telefonate seien nicht bloss einfache (fachspezifische) Erhebungen des Sachverständigen im Sinne von Art. 185 Abs. 4 StPO. Belastende Aussagen Dritter dürften nur in ein Gutachten einfliessen, wenn eine justizförmige, parteiöffentliche Befragung stattgefunden habe. Daher hätte es einer formellen Zeugeneinvernahme bedurft. Die beschuldigte Person und ihre Verteidigung seien berechtigt, an zentralen Beweiserhebungen teilzunehmen (Art. 147 Abs. 1 StPO; BGE 144 IV 302). Die Ermächtigung der Staatsanwaltschaft vom 18. Juni 2014 rechtfertige das zweifelhafte Vorgehen von Gutachter und Ermittlungsbehörde nicht. Das geschilderte Vorgehen des Gutachters "kontaminiere" das ganze Aktengutachten. Die Vorinstanz habe dies verkannt, was Willkür begründe und den ![]() ![]() | 34 |
3.4.2 Hält die sachverständige Person Ergänzungen der Akten für notwendig, so stellt sie der Verfahrensleitung einen entsprechenden Antrag (Art. 185 Abs. 3 StPO). Nach Art. 185 Abs. 4 erster Satz StPO kann die sachverständige Person einfache Erhebungen, die mit dem Auftrag in engem Zusammenhang stehen, selbst vornehmen und zu diesem Zweck Personen aufbieten. Vorliegend bedarf es keiner Einordnung der telefonischen Gespräche mit den Schwestern des Beschwerdeführers in diesen gesetzlichen Kontext. Ebenso kann offenbleiben, ob eine "justizförmige" Art der Erhebung überhaupt mit der auf spezifisch medizinische Erforschungszwecke ausgerichteten Informationsbeschaffung des Gutachters vereinbar wäre (vgl. zum Ausschluss des Rechtsvertreters von der gutachterlichen Untersuchung BGE 144 I 253 E. 3; dazu MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, [nachfolgend: Kommentar], Strafrecht Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 64a zu Art. 56 StGB; kritisch: ALAIN SANER, Das Teilnahmerecht der Verteidigung bei der psychiatrischen Exploration der beschuldigten Person, ZStrR 132/2014, S. 121 ff.; vgl. für das Sozialversicherungsrecht BGE 132 V 443). Denn zum einen hat das Bundesgericht in BGE 144 IV 302 E. 3.3-3.5 festgehalten, dass es sich bei Art. 185 Abs. 3 StPO je nach den konkreten Umständen um eine Ordnungsvorschrift handelt, so dass ein davon abweichendes Vorgehen der sachverständigen Person keine Folgen hinsichtlich der Verwertbarkeit ihres Gutachtens hat. Zum andern sind die Äusserungen der Schwestern des Beschwerdeführers weder ihrer Natur noch ihrem Inhalt nach geeignet, zu anderen als rein gutachterlich-medizinischen Zwecken verwendet zu werden. Der Gutachter hat sich nur bei der Schilderung der lebensgeschichtlichen Entwicklung auf die Äusserungen bezogen und dort höchstens zur Abrundung des Eindrucks, der sich schon aus früheren Angaben des Beschwerdeführers selbst ergab. So charakterisierte eine der befragten Schwestern die Wesensart des Beschwerdeführers im Kindesalter. Der Sachverständige nahm sodann den Hinweis auf, dass der Beschwerdeführer im Alter von etwa 15 Jahren in eine Einrichtung für überwiegend verhaltensauffällige Jugendliche aufgenommen worden sei, folgert aber, dies reiche nicht, um von einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung in der Jugend ausgehen zu können. Angaben über mögliche Übergriffe auf eine weitere, sieben Jahre jüngere Schwester waren zu unklar, um in die Beurteilung ![]() ![]() | 35 |
Demnach stellt die Vorinstanz willkürfrei fest, dass der Gutachter G. an keiner Stelle fremdanamnestische Angaben für rechtserhebliche Festlegungen verwendet hat, die Grundlage für Massnahmevoraussetzungen hätten bilden können.
| 36 |
37 | |
38 | |
Die Vorinstanz verwirft diese Argumente. Der Gesetzgeber habe bewusst darauf verzichtet, den Begriff der psychischen Störung an eine Klassifikation zu binden. Eine therapeutische Massnahme solle grundsätzlich für die ganze Bandbreite der nach wissenschaftlichen Kriterien diagnostizierbaren psychischen Phänomene, die vom sogenannt "Normalen" abweichen, zur Verfügung stehen. Ob die vom ![]() ![]() | 39 |
40 | |
![]() | 41 |
Der Begriff der schweren psychischen Störung ist funktionaler Natur, da er sich nach dem Zweck der Massnahme richtet. Gegenstand der Massnahme ist eine Therapie, mit welcher der Zweck verfolgt wird, die "Gefahr weiterer mit dem Zustand des Täters in Zusammenhang stehender Taten" zu reduzieren (Art. 63 und 59 StGB, je Abs. 1 lit. b), d.h. die Legalprognose zu verbessern (QUELOZ/MUNYANKINDI, in: Commentaire romand, Code pénal Bd. I, 2009, N. 15 ff. zu Art. 59 StGB). Eine Verbesserung des Gesundheitszustandes interessiert das Strafrecht grundsätzlich nur insoweit, wie sie der Deliktsprävention - der Verhinderung von Straftaten und der Wiedereingliederung des Täters - dient (BGE 141 IV 236 E. 3.7 S. 242; Urteil 6B_175/2014 vom 3. Juli 2014 E. 3.4 mit Hinweisen; kritisch: CHRIS LEHNER, Das Kriterium der schweren psychischen Störung - Die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts [nachfolgend: Rechtsprechung], in: Die schwere psychische Störung, a.a.O., S. 92 f.). Diese Zielsetzung umreisst sodann auch den Kreis der Behandlungen, die unter den betreffenden Rechtstiteln in Betracht fallen: ![]() ![]() | 42 |
Der funktional konzipierte Begriff der schweren psychischen Störung soll die Fälle rechtlich indizierter Therapiebedürftigkeit abdecken. Entsprechend auf den gesetzlichen Zweck abzustimmen ist der Kreis der Zustände, die Gegenstand entsprechender Therapien bilden. Weil die massnahmerechtliche Behandlungsbedürftigkeit aus der deliktischen Gefährdung folgt, der Einfluss der Störung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit mithin nicht massgebend ist, kann nicht auf das Mass einer Schuldunfähigkeit des Täters abgestellt werden (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, 2. Aufl. 2006, S. 284 Rz. 10); Fälle mit klarer Pathologie, aber gegebener Schuldfähigkeit würden so unzutreffenderweise ausgeklammert (vgl. Urteil 6B_681/2010 vom 7. Oktober 2010 E. 4.1; BORCHARD/GERTH, a.a.O., S. 73).
| 43 |
3.5.4 Der funktionale Gesichtspunkt ist indes nicht allein begriffsbildend: Käme es nur auf die Risikowirksamkeit einer Behandlung an, so könnte sich der Anwendungsbereich der therapeutischen Massnahmen - der eben eine "schwere psychische Störung" voraussetzt - auf andere Gründe für normabweichendes Verhalten ausdehnen. Eine Abgrenzung etwa der dissozialen Persönlichkeit, d.h. einer "massnahmenrechtlich nicht relevanten Dissozialität als Lebensstil", gegenüber einer Krankheit, die sich auch in kriminellen Handlungen äussern kann, wäre letztlich nicht mehr möglich (MARIANNE HEER, Kriterien für eine Umschreibung der Schwere einer psychischen Störung gemäss Art. 59 und Art. 63 StGB [nachfolgend: Kriterien], in:Die schwere psychische Störung, a.a.O., S. 29). Es gilt zu verhindern, dass gewöhnliche Kriminalität medikalisiert und pathologisiert wird (vgl. HEER/HABERMEYER, a.a.O., N. 15a zu Art. 59 StGB; HEER, Kriterien, a.a.O., S. 39). Im "Spannungsfeld von bad or mad " (HABERMEYER/LAU/HACHTEL/GRAF, a.a.O., S. 57 mit Hinweis) sind die Übergänge von Fällen, in denen blosse kriminelle Energie oder eine dissoziale Persönlichkeit Triebfedern der Straftaten sind, zur störungsbedingten Delinquenz fliessend (HABERMEYER/LAU/HACHTEL/GRAF, a.a.O., S. 46; CHRIS LEHNER, Nachträgliche Anordnung stationärer ![]() ![]() | 44 |
Deswegen verbietet sich auch ein einfacher Rückschluss von der Art und dem Ausmass der Delinquenz auf das Vorliegen einer psychi-schen Störung mit rechtserheblicher Schwere. Gefährlichkeit ist kein medizinischer Befund (Urteil 6B_45/2018 vom 8. März 2018 E. 1.4 mit Hinweis auf die Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches [...] BBl 1999 II 1979, 2095; LEHNER, Nachträgliche Anordnung, a.a.O., Rz. 38). Auch bei schweren Straftaten soll eine schwere Störung ausgeschlossen resp. eine solche auch bei minder schweren Delikten bejaht werden können (vgl. HEER, Kriterien, a.a.O., S. 33).
| 45 |
Gemäss Rechtsprechung und Literatur ist die Feststellung eines pathologischen Substrats und dessen Abgrenzung zu blossem "sozial abweichendem" Verhalten daran festzumachen, dass die Persönlichkeitsmerkmale, die in einem Zusammenhang mit der Straftat stehen (Art. 63 und 59 StGB, je Abs. 1 lit. a), sich daneben auch in verschiedenen (nichtdeliktischen) Lebensbereichen dysfunktional auswirken. In der Literatur wird diese Vorgabe vor allem zur Feststellung der Schwere einer psychischen Störung verwendet; zum Tragen kommt sie aber schon bei der grundsätzlichen Weichenstellung, ob es sich um pathologisch grundierte Delinquenz oder (bloss) um durch nichtpathologische persönliche Eigenschaften begünstigte Kriminalität handelt. Relevant sein sollen Auffälligkeiten der Persönlichkeit, die sich in unterschiedlichen Bereichen des Verhaltens und Erlebens manifestieren, so dass das psychosoziale Funktionsniveau ("soziale Kompetenz" in Lebensführung und -gestaltung) insgesamt stark eingeschränkt ist (dazu Urteile 6B_866/2017 vom 11. Oktober 2017 E. 1.3.3; 6B_993/2013 vom 17. Juli 2014 E. 4.6 und 6B_487/2011 vom 30. Januar 2012 E. 3.5; HEER/HABERMEYER, a.a.O., N. 30c und 30g zu Art. 59 StGB; GODENZI, a.a.O., S. 14 f.; HEER, Kriterien, ![]() ![]() | 46 |
Die Regel, dass eine krankheitswertige Störung dann vorliegt, wenn sich die Abweichung auch in anderen Lebensbereichen deutlich manifestiert, kommt indes nicht immer zum Tragen. Es gibt Störungen, die sich wegen ihrer hohen Spezifität nur im kriminellen Handeln ausdrücken, während das beobachtbare Verhalten eher unauffällig bleibt. Sodann ist es möglich, dass ein krankheitswertiger Zustand, gerade weil er sich in anderen Bereichen nicht äussert resp. nicht äussern kann, kompensatorisch im Tatverhalten zum Ausdruck kommt (HEER/HABERMEYER, a.a.O., N. 31b zu Art. 59 StGB).
| 47 |
48 | |
Der gesetzliche Terminus der psychischen Störung ist dem in die deutsche Sprache übersetzten Titel von Kapitel V des Klassifikationssystems ICD-10 (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation entlehnt (Botschaft, a.a.O., BBl 1999 II 1979, 2076 Fn. 224; GODENZI, a.a.O., S. 8 f. mit weiteren Hinweisen). Die dort enthaltenen Codes von Krankheitsbildern - hier von Interesse namentlich das Kapitel V "Psychische und Verhaltensstörungen" (F00-F99) - bezwecken, gleich wie jene des Klassifikationssystems DSM-5 (American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage), in erster Linie ![]() ![]() | 49 |
Werden die Diagnosekataloge für juristische Belange resp. forensisch-psychiatrische Fragen herangezogen, so verwendet man sie zu einem Zweck, für den sie nicht geschaffen worden sind (HEER/HABERMEYER, a.a.O., N. 21 und 22 zu Art. 59 StGB; GODENZI, a.a.O., S. 24). Allein dieser Umstand steht dem strikten Erfordernis, dass eine schwere psychische Störung im massnahmerechtlichen Sinn an eine nach ICD oder DSM kodierte Diagnose geknüpft sein müsse, entgegen. Trotzdem wird die Störung zunächst soweit möglich anhand einer anerkannten Klassifikation zu erfassen sein. Denn die Identifikation einer schweren Störung gelingt nur, wenn sie reproduzierbar beschrieben werden kann. Dies setzt operationale Kriterien voraus. Die diagnostischen Merkmale gemäss den Klassifikationen erlauben es, konkret beobachtbares Verhalten in einer rationalisierten Form als Störung mit einer bestimmten Ausprägung zu erfassen (dazu Urteil 6B_866/2017 vom 11. Oktober 2017 E. 1.3.3; vgl. HEER, Kriterien, a.a.O., S. 29).
| 50 |
Klar ist aber auch, dass ein entsprechend kodierter Befund wegen des (mit Blick auf die Zwecke der Klassifikationssysteme) dort sehr weit angelegten Störungsbegriffs nicht ohne Weiteres den gesetzlichen Begriff einer schweren psychischen Störung erfüllt (HEER/HABERMEYER, a.a.O., N. 21 zu Art. 59 StGB). Umgekehrt kann eine solche Störung auch unabhängig von einem operationalisierten Diagnosesystem nach wissenschaftlichen Massstäben diagnostiziert werden. Es soll "grundsätzlich die ganze Bandbreite der nach wissenschaftlichen Kriterien diagnostizierbaren, vom sog. Normalen abweichenden ![]() ![]() | 51 |
Unter dem Titel von Art. 59 und 63 StGB durchzuführende Therapien sind wie erwähnt deliktorientiert. Ihr Ziel liegt in der Herabsetzung der Rückfallgefahr und der Resozialisierung. Therapeutische Massnahmen müssen demzufolge risikowirksam sein, d.h. die Legalprognose verbessern (oben E. 3.5.3). Der massnahmerechtliche Behandlungsbegriff kann mithin nicht mit demjenigen der allgemeinen medizinischen Versorgung gleichgesetzt werden, auf den die internationalen Klassifikationssysteme abzielen (URBANIOK/ENDRASS/ NOLL/ROSSEGGER, Die "psychische Störung" im Massnahmenrecht aus forensisch-psychiatrischer Sicht, AJP 2016 S. 1675 f. und 1677 f.). Konsequenterweise sind die in ICD-10 oder DSM-5 kodierten Zustände nicht abschliessend. Dies erhellt mit Blick auf den vorliegenden Fall, in dem sich die psychische Störung (erst) aus dem Zusammenwirken von zwei verschiedenen Befunden ergibt, die aus legalprognostischer Sicht gemeinsam behandlungsbedürftig sind (sogleich E. 3.5.6). Selbst wenn jeder Einzelbefund in einem Diagnosesystem kodiert ist, ergibt sich in der Gesamtsicht wohl eine Störung sui generis, die in den diagnostischen Klassifikationen keine Entsprechung finden wird.
| 52 |
Für diejenigen Fälle, in denen die gutachterliche Diagnose nicht nach ICD oder DSM kodiert werden kann, ist eine gesicherte Feststellung einer ausgeprägten psychischen Störung gleichwohl möglich, wenn sichergestellt ist, dass sie massgeblich auf delikt- und risikorelevanten persönlichkeitsnahen Risikofaktoren beruht, die einer risikovermindernden Therapie zugänglich sind (vgl. BORCHARD/GERTH, a.a.O., S. 60 ff., 71 und 74; URBANIOK/ENDRASS/NOLL/ROSSEGGER, a.a.O., passim). Trifft dies zu, ist eine gesetzeszweckkonforme Abgrenzung zur (durch äussere, situative Faktoren aktivierten) nichtpathologischen Neigung zur Delinquenz (oben E. 3.5.4) gewährleistet.
| 53 |
3.5.6 Die von Gesetzes wegen erforderliche Schwere der psychischen Störung ist keine aus sich selbst heraus (resp. allein nach den Kriterien von Klassifikationssystemen) bestimmbare, absolute Grösse. Der funktionale Begriff der psychischen Störung ist auf die Rückfallprävention auszurichten (E. 3.5.3). Die Schwere der psychischen Störung entspricht im Prinzip dem Ausmass, in welchem sich die Störung in der Tat spiegelt (Deliktrelevanz). Die Störung muss (gegebenenfalls im Zusammenwirken mit anderen "kriminogenen" Faktoren, ![]() ![]() | 54 |
Eine bestimmte Diagnoseanordnung kann daher nicht für sich allein genommen und per se als ausreichend schwer (oder nicht ausreichend schwer) bezeichnet werden. Es greift zu kurz, unmittelbar auf die quantifizierende Angabe des Sachverständigen (z.B. "mittelgradig ausgeprägt") abzustellen (vgl. Urteil 6B_487/2011 vom 30. Januar 2012 E. 3.5; a.M. LEHNER, Rechtsprechung, a.a.O., S. 96). Dies zeigt sich gerade auch in einer Konstellation wie der vorliegenden: Die Vorinstanz hat festgestellt, die Diagnosen einer akzentuierten narzisstischen Persönlichkeit einerseits und eines "Dominanzfokus" anderseits, letzterer mit sehr hoher Bedeutung für das Tatverhalten, stellten zwar keine psychische Störung im engeren Sinn dar, aber doch langanhaltende deliktrelevante Persönlichkeitsmerkmale mit Krankheitswert. Das reiche aus, um eine schwere psychische Störung im massnahmerechtlichen Sinn anzunehmen. In der Tat kann eine Kombination von minder schweren Befunden eine Störungsqualität in der gesetzlich vorausgesetzten Schwere begründen. Eine solche Gesamtbetrachtung entspricht geltender Rechtsprechung. Freilich lassen sich einzelne psychiatrische Befunde nicht "addieren". Es ist aber zu prüfen, ob Wechselwirkungen gegeben sind, d.h. ob sich die - je für sich allein keine geistige Anomalie im Rechtssinne bildenden - Befunde gegenseitig beeinflussen und verstärken (so im Urteil 6B_993/2013 vom 17. Juli 2014 E. 4.3-4.6 [mittelgradig ausgeprägte depressiveEpisode, deutlich ausgeprägter Alkoholmissbrauch, emotional instabile Persönlichkeitsakzentuierung vom impulsiven Typ]; anders verhielt es sich im mit Urteil 6B_926/2013 vom 6. März 2014 beurteilten Fall, wo der Gutachter zu einer kombinierten Persönlichkeitsstörung festhielt, die psychische Störung sei durchgehend mässig ausgeprägt[E. 3.2]; ähnlich das Urteil 6B_1083/2017 vom 21. November 2017E. 3.3 f.; zur Rechtsprechung des EGMR im Zusammenhang mit freiheitsentziehenden Massnahmen [Begründung einer"true mental disorder" durch interagierende nichtpathologische Störungen] vgl.DE TRIBOLET-HARDY/LEHNER/HABERMEYER, a.a.O., S. 168).
| 55 |
![]() ![]() | 56 |
57 | |
Der Gutachter findet keine psychischen Störungen im engeren Sinne, aber "deliktrelevante Persönlichkeitsmerkmale mit Krankheitswert". Ausgewiesen sei eine moderat auffällige akzentuierte narzisstische Persönlichkeit (ICD-10 Ziff. Z73.1). Hinzu komme ein sehr stark ausgeprägter sog. "Dominanzfokus", bestehend aus Kontrollbedürfnis, Dominanzstreben und Ignorieren der Bedürfnisse anderer. Damit in einer solchen Ausgangslage grundsätzlich von einem pathologischen Substrat ausgegangen werden darf, ist regelmässig vorausgesetzt, dass die mit der Straftat zusammenhängenden Persönlichkeitsmerkmale sich daneben auch in verschiedenen (nichtdeliktischen) Lebensbereichen dysfunktional auswirken (E. 3.5.4). Dazu erklärt der Gutachter einschränkend, der "Dominanzfokus" müsse nicht zwingend ein durchgängiges Verhaltensmuster in allen Lebenssituationen bilden; es sei auch möglich, dass sich der Täter in anderen Bereichen nicht dominant verhält, "seinen Wünschen nach Dominanz dann aber im Tatverhalten kompensatorisch Ausdruck verleiht". Ausschlaggebend für die Bejahung einer psychischen Störung erscheint die eingehende Analyse des Sachverständigen, wonach persönlichkeitsnahe Faktoren, nicht aber situative Faktoren zur Delinquenz führten (vgl. E. 3.5.4). Die Delinquenz sei weniger durch Eigenschaften der jeweiligen Opfer als durch die manipulativen Fähigkeiten des Täters ermöglicht worden.
| 58 |
Was sodann die gesetzlich vorausgesetzte Schwere der psychischen Störung angeht, kommt es auf die Deliktrelevanz des Zustandes an: Die Schwere der psychischen Störung entspricht der Intensität, mit welcher sich die Störung in der Tat spiegelt (E. 3.5.6). Dem Gutachter zufolge erklärt die akzentuierte narzisstische Persönlichkeit allein das Tatverhalten nicht, weshalb ihr eine "maximal moderate ![]() ![]() | 59 |
60 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |