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5. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen A. und Vollzugs- und Bewährungsdienst des Kantons Luzern (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_95/2020 vom 20. Februar 2020 | |
Regeste |
Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB; stationäre therapeutische Massnahme für junge Erwachsene, Beginn der vierjährigen Höchstdauer. | |
Sachverhalt | |
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Die Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern hatte A. am 29. Oktober 2014 den vorzeitigen Massnahmenvollzug bewilligt.
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B. A. ersuchte am 23. September 2019 um Entlassung aus dem Massnahmenvollzug. Der Vollzugs- und Bewährungsdienst des Kantons Luzern wies das Gesuch mit Entscheid vom 29. Oktober 2019 ab.
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Dagegen erhob A. Verwaltungsgerichtsbeschwerde, welche das Kantonsgericht Luzern am 17. Januar 2020 guthiess und den Vollzugs- und Bewährungsdienst anwies, A. innert drei Tagen nach Eingang des Entscheids aus der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene zu entlassen.
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C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, Ziff. 1 des kantonsgerichtlichen Urteils sei aufzuheben und es sei die Fortführung der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene anzuordnen. Sie ersucht darum, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen und im Sinne einer superprovisorischen Massnahme anzuordnen, dass A. im Vollzug der Massnahme verbleibe.
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D. Der Präsident der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts erteilte der Beschwerde am 23. Januar 2020 bis zum Entscheid über das Gesuch superprovisorisch die aufschiebende Wirkung. Ferner bewilligte er im Hinblick auf die Stellungnahme zum Gesuch um aufschiebende Wirkung die unentgeltliche Rechtspflege und setzte Rechtsanwalt Dr. K. für die Beantwortung des Gesuchs um aufschiebende Wirkung als unentgeltlichen Rechtsbeistand ein.
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A., das Kantonsgericht und der Vollzugs- und Bewährungsdienst äussern sich zum Gesuch um aufschiebende Wirkung.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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Erwägung 2.4 | |
2.4.1 War der Täter zur Zeit der Tat noch nicht 25 Jahre alt und ist er in seiner Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört, so kann ihn das Gericht in eine Einrichtung für junge Erwachsene einweisen, wenn: a. der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das ![]() ![]() | 10 |
2.4.2 Das Bundesgericht hat bisher noch nicht beurteilt, ab wann die Höchstdauer der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene nach Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB zu laufen beginnt beziehungsweise ob der vorzeitige Massnahmenvollzug dabei zu berücksichtigen ist. Jedoch hat es sich im Zusammenhang mit anderen stationären therapeutischen Massnahmen wiederholt mit der Frage der Dauer des mit ihnen verbundenen Freiheitsentzugs beziehungsweise dem Beginn der jeweiligen Frist auseinandergesetzt. Hinsichtlich der stationären therapeutischen Behandlung von psychischen Störungen gelangte es in BGE 142 IV 105 zum Schluss, die in Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB festgesetzte Dauer beginne, sofern dem Betroffenen nach der Massnahmenanordnung bis zum effektiven Behandlungsbeginn die Freiheit entzogen ist, mit dem rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheid, in dem die Massnahme angeordnet wird (a.a.O., E. 5.9 S. 118). Das Bundesgericht liess ausdrücklich offen, ob und inwiefern die vor dem Sachurteil ausgestandene Sicherheitshaft oder ein allfälliger vorzeitiger Massnahmenvollzug für den Fristenlauf zu berücksichtigen ist (a.a.O., E. 4.1 S. 108). Im BGE 145 IV 65 hatte das Bundesgericht sodann die Frage zu beurteilen, ob der vorzeitige Massnahmenvollzug bei der Berechnung der Fünfjahresfrist von Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB einzubeziehen ist. Es erwog, der vorzeitige Massnahmenvollzug sei zwar bei der Gesamtdauer der Massnahme zu berücksichtigen, dies insbesondere bei der zeitlichen Verhältnismässigkeit, jedoch beginne mit dem Sachurteil eine neue Frist zu laufen (a.a.O., E. 2.6.2 S. 75). Es gelangte zum Fazit, sofern die stationäre therapeutische Behandlung von psychischen Störungen nicht aus der Freiheit heraus angetreten werde, sei für den Fristenlauf auf das Datum des in Rechtskraft erwachsenen Anordnungsentscheids abzustellen (a.a.O., E. 2.7.1 S. 76). Im Urteil 6B_1203/2017 vom 1. November 2017 entschied das Bundesgericht, bei der Berechnung der vierjährigen Höchstfrist für eine stationäre ![]() ![]() | 11 |
Bei der Beurteilung der Frage, ob der vorzeitige Massnahmenvollzug in die Berechnung der Frist gemäss Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB einzubeziehen ist oder ob diese erst mit Datum des rechtskräftigen Anordnungsentscheids zu laufen beginnt, sind insbesondere BGE 145 IV 65 und das Urteil 6B_1203/2017 vom 1. November 2017 zu berücksichtigen. Während Ersteres die Fristen gemäss Art. 59 Abs. 4 Satz 1 und 2 StGB zum Gegenstand hat, die anders als Art. 60 Abs. 4 sowie Art. 61 Abs. 4 StGB nicht die Höchstdauer einer Massnahme regeln, sondern bestimmen, innert welcher Frist ein neuer Gerichtsentscheid über die Weiterführung der Massnahme zu ergehen hat, betrifft Letzteres die Höchstdauer gemäss Art. 60 Abs. 4 StGB. Die Beschwerdeführerin vertritt die Ansicht, die im letztgenannten Urteil erwogenen Grundsätze seien nicht auf den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt anwendbar. Auch wurde das Urteil in der Lehre teilweise kritisiert (vgl. MARIANNE HEER, Die Dauer therapeutischer Massnahmen und die Tücken deren Berechnung, forumpoenale 2/2018 [nachfolgend: forumpoenale] S. 185 f.; dieselbe, Nachverfahren bei strafrechtlichen Massnahmen [nachfolgend: Nachverfahren], in: Wege und Irrwege stationärer Massnahmen nach Rechtskraft des Strafurteils, 2018, S. 61 f.). Es rechtfertigt sich daher, die Frage vertieft zu prüfen.
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2.5 In der Lehre wird der Beginn der Vierjahresfrist gemäss Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB nur rudimentär diskutiert. Während MARIANNE HEER sich früher noch dafür aussprach, dass in jedem Fall auf das Datum des Anordnungsentscheids abzustellen ist (MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 78 zu Art. 61 StGB; so wohl auch TRECHSEL/PAUEN BORER, in: Schweizerisches ![]() ![]() | 13 |
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Der vorzeitige Straf- oder Massnahmenantritt stellt seiner Natur nach eine strafprozessuale Zwangsmassnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Damit soll schon vor Erlass des rechtskräftigen Strafurteils ein Haftregime ermöglicht werden, das auf die persönliche Situation der beschuldigten Person zugeschnitten ist; ausserdem können erste Erfahrungen mit der voraussichtlich sachlich gebotenen Vollzugsform gesammelt werden. Für eine Fortdauer der strafprozessualen Haft in den Modalitäten des vorzeitigen Strafvollzugs muss weiterhin mindestens ein besonderer Haftgrund (analog zu Art. 221 StPO) vorliegen. Sodann muss der vorzeitige Vollzug verhältnismässig sein. Der vorzeitige Straf- und Massnahmenvollzug betrifft nur das Vollzugsregime. Die strafprozessuale Haft wird nicht wie üblich in einer Haftanstalt vollzogen, die diesem Zweck vorbehalten ist (vgl. Art. 234 Abs. 1 StPO). Mit dem vorzeitigen Antritt der Strafe oder Massnahme ändern sich allein die Vollzugsmodalitäten, indem das Regime der Vollzugsanstalt zur Anwendung gelangt. Rechtstitel für den mit dem vorzeitigen Vollzug verbundenen Freiheitsentzug ist nicht die zu erwartende Freiheitsstrafe ![]() ![]() | 15 |
Erwägung 2.7 | |
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Dass das Strafgesetzbuch verschiedentlich ähnliche Formulierungen wie in Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB verwendet, kann hingegen nicht als Auslegungskriterium herangezogen werden (vgl. BGE 145 IV 65 E. 2.5.1 S. 73; BGE 142 IV 105 E. 5.2 S. 111).
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2.7.2 Die neuen Bestimmungen zum Massnahmenrecht traten mit der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs am 1. Januar 2007 in Kraft. Aus dem Gesetzgebungsprozess ergibt sich nicht, ob der vorzeitige Massnahmenvollzug bei der vierjährigen Höchstdauer von Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB zu berücksichtigen ist, respektive dass diese Frage im Gesetzgebungsverfahren überhaupt thematisiert wurde. Den Materialien ist jedoch zu entnehmen, dass die Obergrenze von vier Jahren insbesondere unter dem Aspekt der beruflichen Förderung angezeigt sei, da doch diverse Ausbildungen vier Jahre dauern würden (Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des ![]() ![]() | 18 |
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Unter Berücksichtigung dieser Zielsetzung ist die Massnahme für junge Erwachsene auf eine bestimmte Zeit angelegt, die in ihrer Länge auf die Absolvierung einer Lehre ausgerichtet ist (BBl 1999 2082 Ziff. 213.423; MARIANNE HEER, Basler Kommentar 2019, a.a.O., N. 74 zu Art. 61 StGB; QUELOZ/BÜTIKOFER REPOND, a.a.O., N. 30 zu Art. 61 StGB; CHRISTIAN PFENNINGER, Der Beginn der Überprüfungsfrist ![]() ![]() | 20 |
Die vierjährige Höchstdauer dient dazu, der betroffenen Person ihre Freiheit nur solange zu entziehen, wie dies für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und die Absolvierung einer Berufsausbildung notwendig ist. Es soll ihr in der Folge die Möglichkeit gegeben werden, die erlernten Lebenstechniken in Freiheit anzuwenden und sich in die Gesellschaft sowie in das Berufsleben zu integrieren. Damit wird auch der Verhältnismässigkeitsgrundsatz gewahrt. Der Gesetzgeber hat sich entschieden, dass der mit der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene verbundene Freiheitsentzug nicht länger als vier Jahre - im Falle einer Rückversetzung nach bedingter Entlassung nicht länger als insgesamt sechs Jahre - dauern darf. Daran sind die rechtsanwendenden Behörden gebunden. Das Bundesgericht hat bereits im Zusammenhang mit der Frist gemäss Art. 59 Abs. 4 StGB festgehalten, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip nicht nur in Bezug auf die Anordnung der Massnahme beziehungsweise die Massnahmenverlängerung als solche Beachtung verlange, sondern auch hinsichtlich der Dauer der Massnahme. Das Gericht habe daher für die Verhältnismässigkeit der stationären therapeutischen Massnahme gemäss Art. 59 StGB in zeitlicher Hinsicht einen allfälligen vorzeitigen Massnahmenvollzug mitzuberücksichtigen, dies sowohl bei der Prüfung der Erstanordnung der Massnahme als auch im Zusammenhang mit einem Gesuch um Verlängerung derselben (BGE 145 IV 65 E. 2.6.1 S. 74; vgl. auch: BGE 142 IV 105 E. 5.4 S. 112 mit Hinweisen). Ist der vorzeitige Massnahmenvollzug in Nachachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips bei einer grundsätzlich verlängerbaren Massnahme zu berücksichtigen, gilt dies umso ![]() ![]() | 21 |
2.8 Die Beschwerdeführerin begründet ihren Standpunkt in erster Linie mit praktischen Argumenten. Faktisch sei es so, dass die Lehre aus verschiedenen Gründen nicht sofort begonnen werden könne, weshalb es kaum möglich sei, eine drei- oder sogar vierjährige Ausbildung innert vier Jahren nach Antritt des vorzeitigen Massnahmenvollzugs zu beenden. Dieser diene vielmehr der Vorbereitung auf den später anzuordnenden Massnahmenvollzug, so dass die vier Jahre ausreichend seien, um sämtliche Massnahmenziele zu erreichen und damit auch den Zweck der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene, insbesondere die berufliche Integration, zu erfüllen. Das Bundesgericht verkennt die praktischen Schwierigkeiten, welche die Begrenzung der Massnahmendauer mit sich bringen kann, nicht. Allerdings führen diese nicht zu einer anderen Beurteilung der aufgeworfenen Rechtsfrage. Nach dem Gesagten hat der Gesetzgeber klar zum Ausdruck gebracht, dass der mit der stationären therapeutischen Massnahme für junge Erwachsene verbundene Freiheitsentzug nicht länger als vier Jahre - im Falle einer Rückversetzung nach bedingter Entlassung nicht länger als insgesamt sechs Jahre - dauern darf. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin zeigen auf, dass der vorzeitige Massnahmenvollzug in der Praxis zumindest insofern mit der Massnahme verbunden ist, als er deren Vorbereitung dient. Folglich ist auch der mit dem vorzeitigen Massnahmenvollzug einhergehende Freiheitsentzug bei der Berechnung der Höchstdauer der Massnahme zu berücksichtigen. Das Problem, dass vier Jahre unter Umständen nicht ausreichen, um eine Ausbildung zu absolvieren, darf nicht über die faktische Verlängerung des mit der Massnahme verbundenen Freiheitsentzugs gelöst werden. In der Praxis müssen andere Lösungen gesucht werden. Wie dargelegt, wäre beispielsweise denkbar, dass die Betroffenen ihre Ausbildung von einem externen Standort aus fortsetzen (vgl. E. 2.7.3). Auch der Umstand, dass die stationäre therapeutische Massnahme nach Art. 61 StGB mit anderen (ambulanten oder stationären) therapeutischen Massnahmen verbunden werden kann, führt nicht dazu, dass alle (Höchst-)Fristen ab dem gleichen Datum beginnen müssen. Da die Massnahmen beziehungsweise die mit ihnen verbundenen Freiheitsentzüge unterschiedlich lange dauern und die Fristen teilweise verlängert werden können, bedarf es in jedem Fall einer individuellen Handhabung, weshalb die Fristen auch zu verschiedenen Zeitpunkten ![]() ![]() | 22 |
2.9 Zusammengefasst stellt der vorzeitige Massnahmenvollzug einen mit der Massnahme verbundenen Freiheitsentzug dar, der bei der Berechnung der Höchstdauer gemäss Art. 61 Abs. 4 Satz 1 StGB zu berücksichtigen ist. Andernfalls würde der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug über die gesetzlich vorgesehene Maximaldauer hinaus verlängert. Fraglich erscheint noch, ob hinsichtlich des vorzeitigen Massnahmenvollzugs auf das Datum von dessen Anordnung beziehungsweise Genehmigung oder den Eintritt der betroffenen Person in die Einrichtung für junge Erwachsene abzustellen ist. Es erscheint angemessen und praktikabel, auf das Datum der Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenvollzugs abzustellen (vgl. MARIANNE HEER, Nachverfahren, a.a.O., S. 62 f.). Einerseits sollte der vorzeitige Massnahmenvollzug von der Verfahrensleitung im Idealfall erst beziehungsweise nur bewilligt werden, wenn ein Platz in einer Einrichtung für junge Erwachsene zur Verfügung steht (vgl. Art. 56 Abs. 5 StGB; GÜNTER STRATENWERTH, a.a.O., § 11 N. 19; JOSITSCH/EGE/SCHWARZENEGGER, Strafrecht II: Strafen und Massnahmen, 9. Aufl. 2018, § 7 S. 203; MARIANNE HEER, Basler Kommentar 2019, a.a.O., N. 50 ff. zu Art. 61 StGB; QUELOZ/BÜTIKOFER REPOND, a.a.O., N. 20 ff. zu Art. 61 StGB), womit die Bewilligung und der Eintritt mehr oder weniger zusammen fallen sollten. Andererseits erscheint diese Lösung auch praktikabel, da in jedem Einzelfall unabhängig von den konkreten Umständen auf die Bewilligung abgestellt wird und nicht abgeklärt werden muss, ob der Betroffene bereits therapeutisch betreut wurde, als er auf einen Platz in einer Einrichtung wartete, und ob dies gegebenenfalls beim Beginn der Massnahmendauer zu berücksichtigen wäre. Schliesslich spricht auch das Gleichheitsgebot für die aufgezeigte Lösung, da die Betroffenen in der Regel nicht beeinflussen können, wie lange ![]() ![]() ![]() | 23 |
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