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10. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_690/2019 vom 4. Dezember 2019 | |
Regeste |
Art. 66a Abs. 2 StGB, Art. 8 EMRK; Landesverweis, Härtefallprüfung bei in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen Ausländern, Vereinbarkeit mit dem Konventionsrecht. |
Härtefall bei einem chilenischen Staatsangehörigen verneint, der im Alter von 13 Jahren in die Schweiz kam (E. 3.5). |
Prüfung der Vereinbarkeit der Landesverweisung mit den Garantien von Art. 8 EMRK (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Das Bezirksgericht Bülach sprach A. am 12. Februar 2018 der versuchten schweren Körperverletzung schuldig und bestrafte ihn mit einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 28 Monaten, unter Anrechnung der ausgestandenen Haft. Es verwies ihn für fünf Jahre des Landes. Weiter wurde die Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) angeordnet. Zudem wurde die grundsätzliche Schadenersatzpflicht von A. gegenüber C. festgestellt, wobei dieser für die Festsetzung des Umfangs des Schadenersatzanspruchs auf den Zivilweg verwiesen wurde. Schliesslich wurde A. verpflichtet, C. eine Genugtuung von Fr. 1'000.- zu bezahlen.
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B. A. erhob Berufung gegen das Urteil des Bezirksgerichts. Die Staatsanwaltschaft erhob Anschlussberufung. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 28. Februar 2019 den erstinstanzlichen Schuldspruch. Es verurteilte A. zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 36 Monaten und verwies ihn für sieben Jahre des Landes. Im Übrigen wurde das erstinstanzliche Urteil bestätigt.
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C. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Dispositivziffern 2 (Strafmass), 3 (Vollzugsart), 4 (Landesverweis) und 5 (Ausschreibung im SIS) seien aufzuheben. Die Strafe sei auf 24 Monate bedingt zu reduzieren. Eventualiter sei er zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 28 Monaten zu verurteilen. Subeventualiter sei die Sache zur Festsetzung des Strafmasses an die Vorinstanz zurückzuweisen. Von der Anordnung einer Landesverweisung sowie der Ausschreibung im SIS sei abzusehen. Eventualiter sei eine Landesverweisung von fünf Jahren anzuordnen. In prozessualer Hinsicht beantragt A., der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
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Mit Schreiben vom 11. Juni 2019 wurde A. mitgeteilt, dass der Beschwerde in Strafsachen gegen eine Landesverweisung in analoger Anwendung von Art. 103 Abs. 2 lit. b BGG von Gesetzes wegen die aufschiebende Wirkung zukomme, weshalb sich sein Gesuch um auf schiebende Wirkung als gegenstandslos erweise. ![]() | 5 |
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Aus den Erwägungen: | |
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Erwägung 3.4 | |
3.4.1 Das Gericht verweist den Ausländer, der wegen schwerer Körperverletzung (Art. 122 StGB) verurteilt wird, unabhängig von der Höhe der Strafe für 5-15 Jahre aus der Schweiz (Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB). Die obligatorische Landesverweisung wegen einer Katalogtat im Sinne von Art. 66a Abs. 1 StGB greift grundsätzlich unabhängig von der konkreten Tatschwere (BGE 144 IV 332 E. 3.1.3 S. 339). Sie muss zudem unabhängig davon ausgesprochen werden, ob es beim Versuch geblieben ist und ob die Strafe bedingt, unbedingt oder teilbedingt ausfällt (BGE 144 IV 168 E. 1.4.1 S. 171; Urteil 6B_1070/2018 vom 14. August 2019 E. 6.2.1).
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3.4.2 Von der Anordnung der Landesverweisung kann nur "ausnahmsweise" unter den kumulativen Voraussetzungen abgesehen werden, dass sie (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB; sog. Härtefallklausel). Die Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 145 IV 364 E. 3.2 S. 366; BGE 144 IV 332 E. 3.1.2 S. 338; 6B_1070/2018 vom 14. August 2019 E. 6.2.2; je mit Hinweisen). Sie ist restriktiv anzuwenden (BGE 144 IV 332 E. 3.3.1 S. 340). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich zur kriteriengeleiteten Prüfung des Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB der Kriterienkatalog der Bestimmung über den "schwerwiegenden persönlichen Härtefall" in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) heranziehen (BGE 144 IV 332 E. 3.3.2 S. 340 f.; Urteil 6B_689/2019 vom 25. Oktober 2019 E. 1.7).
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3.4.3 Im Zentrum der Argumentation des Beschwerdeführers steht die Auslegung von Art. 66a Abs. 2 Satz 2 StGB, gemäss dessen Wortlaut bei der Beurteilung des Härtefalls und der Interessenabwägung der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen ![]() ![]() | 10 |
Verschiedene Autoren sind der Ansicht, wenn eine Person als in der Schweiz aufgewachsen gelte, liege automatisch ein schwerer persönlicher Härtefall vor. Damit sei zwingend eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei der betroffenen Person ein entsprechend grosses privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz zuzubilligen sei (BUSSLINGER/UEBERSAX, a.a.O., S. 98; BERGER, a.a.O., Rz. 88 und 105).
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3.4.4 Sinn und Zweck der Altersvorgaben im Migrationsrecht ist es, sicherzustellen, dass ein Kind mindestens die Hälfte der obligatorischen Schulzeit in der Schweiz verbringt, was der Integration und der Förderung der sprachlichen Fähigkeiten zuträglich sei (vgl. Art. 42 Abs. 4 des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom 16. Dezember ![]() ![]() | 12 |
Die Härtefallprüfung ist vielmehr in jedem Fall anhand der gängigen Integrationskriterien (vgl. BGE 144 IV 332 E. 3.3.2 S. 340 f.) vorzunehmen. Der besonderen Situation von in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen ausländischen Personen wird dabei Rechnung getragen, indem eine längere Aufenthaltsdauer, zusammen mit einer guten Integration - beispielsweise aufgrund eines Schulbesuchs in der Schweiz - in aller Regel als starkes Indiz für das Vorliegen von genügend starken privaten Interessen und damit für die Bejahung eines Härtefalls zu werten ist (1. kumulative Voraussetzung; vgl. E. 3.4.2). Bei der allenfalls anschliessend vorzunehmenden Interessenabwägung (2. kumulative Voraussetzung) ist der betroffenen Person mit zunehmender Anwesenheitsdauer ein gewichtigeres privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz zuzubilligen. Hingegen kann davon ausgegangen werden, dass die in der Schweiz verbrachte Zeit umso weniger prägend war, je kürzer der Aufenthalt und die in der Schweiz absolvierte Schulzeit waren, weshalb auch das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz weniger stark zu gewichten ist.
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Erwägung 4 | |
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4.2 Art. 8 EMRK verschafft praxisgemäss keinen Anspruch auf Einreise oder Aufenthalt oder auf einen Aufenthaltstitel. Der EGMR anerkennt das Recht der Staaten, die Einwanderung und den Aufenthalt von Nicht-Staatsangehörigen auf ihrem Territorium zu regeln (BGE 144 I 266 E. 3.2 S. 272; Urteil 6B_48/2019 vom 9. August 2019 E. 2.5 mit Hinweisen). Die Staaten sind berechtigt, Delinquenten auszuweisen; berührt die Ausweisung indes Gewährleistungen von Art. 8 Ziff. 1 EMRK, sind die Voraussetzungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu prüfen (Urteil des EGMR in Sachen I.M. gegen die Schweiz vom 9. April 2019, Nr. 23887/16, § 68). Erforderlich ist zunächst, dass die aufenthaltsbeendende oder -verweigernde Massnahme gesetzlich vorgesehen ist, einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK entspricht (Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten etc.) und verhältnismässig ist (Urteil 6B_1070/2018 vom 14. August 2019 E. 6.3.3 mit Hinweisen). Die nationalen Instanzen haben sich unter anderem von folgenden Kriterien leiten zu lassen: Natur und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts im ausweisenden Staat, seit der Straftat abgelaufene Zeit und Verhalten während dieser Zeit, familiäre Situation usw. (Urteil des EGMR in ![]() ![]() | 17 |
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Des Weiteren sind in der Beschwerde auch keine überzeugenden Vorbringen ersichtlich, die ein überwiegendes persönliches Interesse an einem Verbleib in der Schweiz nahelegen würden. Die in der Schweiz verbrachte Zeitdauer sowie der hiesige Schulbesuch sprechen noch nicht für ein starkes Interesse an einem Verbleib in der Schweiz. Diesbezüglich kann grundsätzlich auf das bereits Ausgeführte verwiesen werden (vgl. E. 3.5). Gleiches gilt für die familiäre und soziale Situation sowie die berufliche Integration des Beschwerdeführers. Es sind keine besonders intensiven, über eine normale Integration hinausgehenden privaten Bindungen gesellschaftlicher oder beruflicher Natur ersichtlich. Schliesslich spricht auch der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers nicht gegen den Landesverweis.
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Die Würdigung der Gesamtsituation ergibt, dass die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in der Schweiz angesichts der Schwere des begangenen Delikts und der eher schwachen familiären und sozialen Beziehungen in der Schweiz das ![]() | 20 |
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