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5. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen A. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_895/2019 vom 15. September 2020 | |
Regeste |
Art. 400 Abs. 3 lit. b und Art. 401 StPO; Art. 15 Abs. 2 StBOG; Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung. | |
Sachverhalt | |
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B.
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B.a A. und diverse Privatkläger meldeten gegen das Urteil des Bezirksgerichts Laufenburg Berufung an. In der Berufungserklärung vom 22. Mai 2017 erklärte A., vier Schuldsprüche, das Strafmass, die Ersatzforderung, die Einziehung seiner Vermögenswerte in Thailand sowie die Kosten- und Entschädigungsfolgen anzufechten. Die Privatkläger beantragten in ihrer Berufungserklärung vom 29. Mai ![]() ![]() | 3 |
B.b Die Staatsanwaltschaft erklärte am 16. August 2017 Anschlussberufung zur Berufung von A. bezogen auf die Strafzumessung und die Höhe der staatlichen Ersatzforderung.
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B.c Mit Eingabe vom 21. August 2017 erklärte A. Anschlussberufung zur Berufung der Privatkläger vom 29. Mai 2017, wobei die Anträge mit denjenigen in der Berufungserklärung vom 22. Mai 2017 deckungsgleich waren. Die Anschlussberufung erfolgte "vorsorglich und ausdrücklich unter Aufrechterhaltung der (Haupt-)Berufungserklärung vom 22. Mai 2017".
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B.d Mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 erklärte A., seine Berufung vollumfänglich und seine Anschlussberufung bezüglich Dispositiv-Ziff. 4.29 des erstinstanzlichen Urteils (Einziehung der Vermögenswerte in Thailand) zurückzuziehen. Im Übrigen hielt er im Schreiben vom 6. Dezember 2017 an seiner Anschlussberufung vom 21. August 2017 fest.
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B.e Die Staatsanwaltschaft beantragte am 18. Dezember 2017, auf die Anschlussberufung von A. sei nicht einzutreten.
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B.f Das Obergericht des Kantons Aargau entschied mit Beschluss vom 13. März 2018, die Berufung von A. vom 22. Mai 2017 sei infolge Rückzugs gegenstandslos geworden, die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft vom 16. August 2017 sei hinsichtlich der Berufung von A. dahingefallen und die Anschlussberufung von A. vom 21. August 2017 sei bezüglich Dispositiv-Ziff. 4.29 des erstinstanzlichen Urteils infolge Rückzugs gegenstandslos geworden.
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Im Übrigen trat das Obergericht des Kantons Aargau im Urteil vom 1. Februar 2019 auf die Anschlussberufung von A. ein. Es hiess diese teilweise gut, sprach A. vom Vorwurf der mehrfachen Falschbeurkundung gemäss Art. 251 Ziff. 1 StGB (Steuerbescheinigungen J.) frei, erklärte ihn im Sachverhaltskomplex G. anstelle des gewerbsmässigen Betrugs der mehrfachen qualifizierten ungetreuen Geschäftsbesorgung schuldig und bestätigte die übrigen erstinstanzlichen Schuldsprüche. Vom Vorwurf der qualifizierten Geldwäscherei (Alternativinvestments; Berufung der Privatkläger) sprach es ihn ebenfalls frei. Es verurteilte A. zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und bestätigte die Ersatzforderung von Fr. 2'940'597.50 unter Hinweis auf das Verbot der reformatio in peius. ![]() | 9 |
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D. Die Vorinstanz und A. stellen Antrag auf Abweisung der Beschwerde. A. ersucht zudem um unentgeltliche Rechtspflege.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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2.2 Die Vorinstanz verweist in ihrer Vernehmlassung auf ihren Beschluss vom 13. März 2018. Sie erwägt darin zusammengefasst, es sei nicht zulässig, neben der eigenen Hauptberufung eine Anschlussberufung zu führen, die mit ihren Anträgen nicht über die eigenen Berufungsanträge hinausgehe. Entsprechend sei bei parallel ![]() ![]() | 14 |
2.3 Der Beschwerdegegner macht in seiner Stellungnahme vor Bundesgericht im Wesentlichen geltend, Haupt- und Anschlussberufung seien angesichts der Akzessorietät der Anschlussberufung (Art. 401 Abs. 3 StPO) und der Einschränkung der Anschlussberufung in Bezug auf die Parteien (Art. 401 Abs. 2 StPO) trotz ähnlich formulierter Anträge nicht identisch. Eine Anschlussberufung zusätzlich zur eigenen Hauptberufung sei nicht sinnlos. Das eigene Prozessverhalten hänge im Berufungsverfahren stark von demjenigen der übrigen Parteien ab. Wie sich die übrigen Parteien positionieren, werde einer Partei jedoch regelmässig mit Verspätung zur Kenntnis gebracht, da sie erst nach Ablauf der eigenen Rechtsmittelfrist erfahre, ob die übrigen Parteien Berufung bzw. Anschlussberufung erklärt hätten. Auch über die Frage des Eintretens auf die Berufung werde regelmässig erst nach Ablauf der Frist für die Anschlussberufung entschieden. Dass er zusätzlich zur Hauptberufung auch Anschlussberufung erhoben habe, habe daher einen praktischen Nutzen gehabt. Dies habe sich auch aus Gründen der anwaltlichen Sorgfaltspflicht aufgedrängt, da nachträglich bezüglich der Hauptberufung ein Nichteintretensentscheid z.B. infolge Verspätung hätte ergehen können. Ein Nichteintreten auf seine Anschlussberufung wäre überspitzt formalistisch. Es würde zudem gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossen, da die Beschwerdeführerin, nachdem ihr die Anschlussberufung zur Kenntnis gebracht worden sei, darauf verzichtet habe, in ihrer Eingabe vom 18. September 2017 in Anwendung von Art. 400 Abs. 3 lit. a StPO einen Antrag auf Nichteintreten zu stellen. Die Beschwerdeführerin verhalte sich daher widersprüchlich, wenn sie nach dem Rückzug der Hauptberufung vehement einen solchen Nichteintretensentscheid fordere. Da weder die Beschwerdeführerin noch die Vorinstanz irgendwelche Vorbehalte in Bezug auf seine Anschlussberufung erhoben hätten, habe er auf deren Zulässigkeit vertrauen dürfe. Alleine vor diesem Hintergrund habe er schliesslich seine Hauptberufung zurückgezogen. Selbst wenn seiner Argumentation nicht gefolgt würde, wäre von einer ![]() ![]() | 15 |
Erwägung 2.4 | |
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2.4.3 Zulässig ist es hingegen, die eigene Hauptberufung in eine Anschlussberufung umzuwandeln, wenn dies rechtzeitig innert der Frist für die Anschlussberufung gemäss Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO geschieht (HUG/SCHEIDEGGER, a.a.O., N. 6 zu Art. 401 StPO). Nach Ablauf der Frist von 20 Tagen seit Empfang der gegnerischen Berufungserklärung (vgl. Art. 400 Abs. 3 lit. b StPO) ist eine solche Umwandlung indes nicht mehr möglich (HUG/SCHEIDEGGER, a.a.O., N. 6 zu Art. 401 StPO; in diesem Sinne auch SCHMID/JOSITSCH, Praxiskommentar, a.a.O., N. 3 zu Art. 401 StPO; dies., Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts[nachfolgend: Handbuch], 3. Aufl. 2017, S. 697 Fn. 294), da in diesem Zeitpunkt nicht mehr gültig Anschlussberufung erhoben werden kann. Die Möglichkeit, eine Berufung auch nach Ablauf der Frist im Sinne von Art. 400 ![]() ![]() | 18 |
Erwägung 2.5 | |
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Selbst wenn Art. 401 Abs. 3 StPO bei einer Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung zur Anwendung gelangen sollte - was vorliegend offenbleiben kann -, läge im Umstand, dass damit das Rechtsmittel des Anschlussberufungsklägers zum Dahinfallen gebracht wird, kein legitimes Interesse, welches für die jederzeitige Umwandelbarkeit einer Berufung in eine Anschlussberufung spricht. Ziel des Gesetzgebers war es wie dargelegt vielmehr, der mit einer Angelegenheit befassten Berufungsinstanz eine möglichst umfassende Würdigung des Anklagesachverhalts zu ermöglichen. Es sind daher keine Gründe ersichtlich, weshalb eine Verunmöglichung der Anschlussberufung der Gegenpartei über eine extensive Gesetzesauslegung geschützt werden soll. Gleiches gilt für die übrigen, nicht näher erläuterten prozesstaktischen Überlegungen des Beschwerdegegners.
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Unbeantwortet bleiben kann damit auch die vom Beschwerdegegner in seiner Stellungnahme aufgeworfene und in der Lehre umstrittene Frage, ob eine Anschlussberufung zu einer Anschlussberufung zulässig ist (bejahend HUG/SCHEIDEGGER, a.a.O., N. 5 zu Art. 401 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Handbuch, a.a.O., N. 1555; a.M. EUGSTER, a.a.O., N. 3 zu Art. 401 StPO). ![]() | 21 |
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2.5.3 Dies steht entgegen den Vorbringen des Beschwerdegegners auch nicht im Widerspruch zu Art. 15 Abs. 2 StBOG und den Materialien zu dieser Bestimmung. Das StBOG regelt die Behördenorganisation, welche nur in rudimentärer Form Eingang in die StPO fand, im Übrigen jedoch Bund und Kantonen überlassen wurde (vgl. Art. 14 StPO; Art. 1 Abs. 1 StBOG; BGE 142 IV 70 E. 3.1 S. 75 f.; Botschaft vom 10. September 2008 zum Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes, BBl 2008 8125 ff., 8129). Als weitere Regelungsmaterie im StBOG zu berücksichtigen sind einzelne Sachbereiche, die keine Aufnahme in die StPO gefunden haben (BBl 2008 8130). Da sich Art. 15 Abs. 2 StBOG nur zur Behördenorganisation äussert und nicht bestimmt, innert welcher Frist ![]() ![]() | 23 |
Erwägung 2.6 | |
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Allerdings gab es im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Verfahrens noch keine höchstrichterlichen Grundsatzentscheide zur Zulässigkeit der Umwandlung der Berufung in eine Anschlussberufung. Das Bundesgericht befasst sich im vorliegenden Entscheid erstmals vertieft mit den Voraussetzungen für die Umwandlung einer Berufung in eine Anschlussberufung. Die Vorinstanz hätte dem Beschwerdegegner unter den gegebenen Umständen daher ausnahmsweise eine Frist ansetzen müssen zur Stellungnahme, ob er am Rückzug seiner ![]() ![]() | 26 |
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Die Rüge der Beschwerdeführerin, die Vorinstanz sei auf die Anschlussberufung des Beschwerdegegners zu Unrecht eingetreten, ist nach dem Gesagten begründet. Die Beschwerde ist insoweit gutzuheissen. Eine Behandlung der weiteren Rügen der Beschwerdeführerin betreffend das rechtliche Gehör erübrigt sich damit. ![]() | 30 |
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