BGE 147 IV 137 | |||
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14. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_537/2019 vom 25. November 2020 | |
Regeste |
Art. 73 Abs. 2, Art. 80 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2, Art. 199, Art. 263 Abs. 2, Art. 384 lit. b und Art. 396 Abs. 1 StPO; Beginn der Beschwerdefrist gegen Kontensperren nach Aufhebung einer Stillschweigeverpflichtung an die Bank. | |
Sachverhalt | |
A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Uznach, führte eine (am 21. Mai 2019 von der Staatsanwaltschaft March/SZ übernommene) Strafuntersuchung gegen A. wegen des Verdachts des mehrfachen Betruges und weiterer Delikte. Mit Verfügung vom 30. April 2019 hatte die (damals noch mit der Strafuntersuchung betraute) Staatsanwaltschaft March des Kantons Schwyz u.a. die Sperre eines Kontos der Beschuldigten bei einem Finanzinstitut verfügt.
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B. Gegen die Kontensperre erhob die Beschuldigte am 19. Juli 2019 als Kontoinhaberin Beschwerde bei der Anklagekammer des Kantons St. Gallen. Diese trat darauf mit Entscheid vom 25. September 2019 (wegen Fristablaufs bzw. Verwirkung des Beschwerderechts) nicht ein.
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C. Gegen den Entscheid der Anklagekammer gelangte die Beschuldigte mit Beschwerde vom 6. November 2019 an das Bundesgericht. Sie beantragt die Aufhebung des Nichteintretensentscheides und die Anweisung an die Vorinstanz, diese habe auf das bei ihr eingelegte Rechtsmittel einzutreten.
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Die Vorinstanz hat am 15. November 2019 auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt mit Stellungnahme vom 25. November 2019 die Abweisung der Beschwerde. Eine Replik hat die Beschwerdeführerin (innert der auf den 9. Dezember 2019 angesetzten fakultativen Frist) nicht eingereicht. Am 18. Februar 2020 übermittelte die Staatsanwaltschaft dem Bundesgericht und dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin die Anklageschrift vom 17. Februar 2020 betreffend mehrfachen Betrug und weitere Delikte.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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Erwägung 4 | |
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4.2 Gegen Verfügungen der Staatsanwaltschaft ist die Beschwerde an die kantonale Beschwerdeinstanz zulässig (Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO). Die Beschwerde gegen schriftlich oder mündlich eröffnete Entscheide ist innert 10 Tagen schriftlich und begründet bei der Beschwerdeinstanz einzureichen (Art. 396 Abs. 1 StPO). Gemäss Artikel 384 StPO beginnt die Rechtsmittelfrist im Falle eines Urteils mit der Aushändigung oder Zustellung des schriftlichen Dispositivs (lit. a), bei andern Entscheiden mit der Zustellung des Entscheides (lit. b), und bei einer nicht schriftlich eröffneten Verfahrenshandlung mit der Kenntnisnahme (lit. c). Sieht das Gesetz die (sofortige oder nachträgliche) schriftliche Zustellung von Entscheiden vor, berechnet sich der Fristbeginn nach Artikel 384 lit. b StPO; lit. c bezieht sich auf Verfahrenshandlungen, die laut Gesetz nicht schriftlich zu eröffnen sind (Urteil des Bundesgerichtes 1B_210/2014 vom 17. Dezember 2014 E. 5.2 und 5.4; vgl. BOMMER/GOLDSCHMID, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung [nachfolgend: BSK StPO], 2. Aufl. 2014, N. 61-63 zu Art. 263 StPO; RICHARD CALAME, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse [nachfolgend: CR CPP], 2. Aufl. 2019, N. 3 zu Art. 384 StPO; PATRICK GUIDON, in: BSK StPO, N. 1 f. zu Art. 396 StPO; STEFAN HEIMGARTNER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [nachfolgend: ZHK StPO], Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers [Hrsg.], 3. Aufl. 2020, N. 23-25 zu Art. 263 StPO; ANNE VALÉRY JULEN BERTHOD, in: CR CPP, N. 34 zu Art. 263 StPO; ANDREAS KELLER, in: ZHK StPO, N. 2 zu Art. 396 StPO; VIKTOR LIEBER, in: ZHK StPO, N. 3-4 zu Art. 384 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 4-5 zu Art. 384 StPO; ZIEGLER/KELLER, in: BSK StPO, N. 3 f. zu Art. 384 StPO).
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Erwägung 5 | |
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5.2 Eine Kontensperre ist mit Beschlagnahmebefehl schriftlich anzuordnen und dem betroffenen Konteninhaber (gegen Empfangsbescheinigung) zuzustellen. Erfolgt sie zunächst als geheime Untersuchungsmassnahme, etwa verbunden mit einer Stillschweigeverpflichtung an die kontenführende Bank nach Art. 73 Abs. 2 StPO, ist sie den betroffenen Konteninhabern nachträglich schriftlich und mit Rechtsmittelbelehrung zu eröffnen (Art. 80 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2, Art. 199 und Art. 263 Abs. 2 i.V.m. Art. 266 Abs. 1 und Abs. 4 StPO; Urteil des Bundesgerichtes 1B_210/2014 vom 17. Dezember 2014 E. 5.2). Nur mündlich eröffnete Zwangsmassnahmen dieser Art wären demgegenüber weder gesetzmässig noch sachgerecht, sondern mit grossen Beweisschwierigkeiten und Rechtsunsicherheit verbunden. Die Problematik würde durch die kurze 10-tägige Beschwerdefrist von Art. 396 Abs. 1 StPO noch zusätzlich akzentuiert. Der Fristenlauf richtet sich hier folglich nach Art. 384 lit. b StPO. Die Frist beginnt ab schriftlicher Zustellung des Beschlagnahmebefehls bzw. entsprechender Akteneinsicht (vgl. zit. Urteil 1B_210/2014 E. 5.4).
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In der vorliegenden Konstellation wäre nicht erkennbar und wird auch von den kantonalen Strafbehörden nicht dargelegt, wie die Verteidigung vor dem 10. Juli 2019 (Zustellung der Verfügung vom 30. April 2019) faktisch in der Lage gewesen sein könnte, wirksam Beschwerde zu erheben: Die massgeblichen Einzelheiten, darunter das Verfügungsdatum, die verfügende Behörde, die mit der Kontensperre verknüpften weiteren Zwangsmassnahmen oder eine Rechtsmittelbelehrung, ergaben sich erst aus der Verfügung vom 30. April 2019. Die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft behaupten - mit Recht - nicht, die für die Beschwerdeinstruktion erheblichen Fakten seien schon im informellen Telefongespräch vom 17. Juni 2019 ausreichend erörtert worden. Die StPO sieht denn auch ausdrücklich vor, dass sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform bedienen, soweit das Gesetz nichts Abweichendes bestimmt (Art. 85 Abs. 1 StPO). Mit einer Rechtsmittelbelehrung versehene Kontensperrbefehle sind den Konteninhabern (wenigstens nachträglich) gegen Empfangsbestätigung zuzustellen (Art. 80 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2, Art. 199 und Art. 263 Abs. 2 StPO; zit. Urteil 1B_210/2014 E. 5.2 und 5.4). Die Beschwerde erfolgte am 19. Juli 2019 somit fristgerecht innert 10 Tagen seit Zustellung der Verfügung.
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Zwar kann die Beschwerdefrist in gewissen Konstellationen schon mit der tatsächlichen Kenntnisnahme der anfechtbaren Verfügung ausgelöst werden, selbst wenn keine förmliche Eröffnung erfolgt ist. Wenn die Direktbetroffenen ausreichend bekannt sind, muss jedoch in allen Fällen von Art. 384 lit. b StPO eine förmliche Zustellung der Verfügung erfolgen, welche die Beschwerdefrist auslöst. Im vorliegenden Fall besteht keine Ausnahme vom gesetzlich vorgesehenen Fristbeginn. Für die Staatsanwaltschaft war klar ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin als Kontoinhaberin von der streitigen Kontensperre direkt betroffen und damit beschwerdebefugt war. Ihr gegenüber konnte lediglich eine förmliche Zustellung der Verfügung bzw. die am 10. Juli 2019 erfolgte Akteneinsicht den Fristbeginn nach Art. 384 lit. b i.V.m. Art. 396 Abs. 1 StPO auslösen. Dass die Untersuchungsleitung der mitbetroffenen Bank eine provisorische Stillschweigeverpflichtung auferlegt und gleichzeitig auf eine förmliche Eröffnung der Zwangsmassnahmenverfügung gegenüber der Kontoinhaberin vorläufig verzichtet bzw. nur telefonisch darüber kommuniziert, darf im Ergebnis nicht dazu führen, dass das gesetzlich verankerte Beschwerderecht der Kontoinhaberin (Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO; s.a. Art. 29a BV) faktisch vereitelt oder erheblich erschwert wird. Eine abweichende altrechtliche Praxis (insbesondere des Bundesstrafgerichtes bzw. des Bundesgerichtes in Rechtshilfefällen und vor Inkrafttreten der StPO), wonach bei Kontensperren bereits eine blosse Mitteilung der Bank an die Konteninhaber fristauslösend wirken könne, wurde in der Literatur mit Recht kritisiert und in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtes korrigiert (oben zitiertes Urteil 1B_210/2014 E. 5.4; vgl. auch GUIDON, a.a.O., N. 5 zu Art. 396 StPO).
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