![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 11.09.2021, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
16. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und B. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_1370/2019 vom 11. März 2021 | |
Regeste |
Art. 404 Abs. 1 StPO; Art. 329 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 zweiter Satz, Art. 333 Abs. 1 und 2, je in Verbindung mit Art. 379 StPO; Art. 391 Abs. 1 und 2 StPO; Unzulässigkeit eines zusätzlichen Schuldspruchs aufgrund eines im Berufungsverfahren erweiterten Anklagesachverhalts. |
Art. 329 Abs. 2 StPO erlaubt nur Anklageergänzungen im Rahmen des erstinstanzlich fixierten Verfahrensgegenstandes (E. 1.3). |
Auch Art. 333 Abs. 1 StPO bietet keine Grundlage, um bisher nicht verfolgte Tatvorgänge in das Verfahren einzubeziehen (E. 1.4). |
Ein zusätzlicher Schuldspruch wegen einer erst während des Berufungsverfahrens bekannt gewordenen Straftat (vgl. Art. 333 Abs. 2 StPO) scheitert am Verbot der reformatio in peius (Art. 391 Abs. 2 StPO): Das zu Lasten der beschuldigten Person erhobene Rechtsmittel hebt das Verschlechterungsverbot schon innerhalb des bisherigen Verfahrensgegenstands nur im Umfang der gestellten Anträge auf. Umso weniger darf das Berufungsgericht einen zusätzlichen Schuldpunkt in das Verfahren einführen. Daher ist Art. 333 Abs. 2 StPO im Berufungsverfahren generell nicht anwendbar (E. 1.5.1-1.5.3). |
Im Sinn von Art. 333 Abs. 2 StPO "neue Straftaten" sind auch keine Tatsachen, die im Sinn von Art. 391 Abs. 2 zweiter Satz StPO zu einer strengeren Bestrafung führen können (E. 1.5.4). | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.a Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl beschuldigt A. der sexuellen Nötigung. Zusammen mit der Mitbeschuldigten C. habe er die Geschädigte B. zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen. Bei dieser Gelegenheit hätten die beiden Beschuldigten der Geschädigten Schlaftabletten verabreicht, um an ihr sexuelle Handlungen zu begehen. Nachdem die Geschädigte eingeschlafen sei, hätten die ![]() ![]() | 2 |
Das Bezirksgericht Zürich sprach A. der sexuellen Nötigung schuldig. Es belegte ihn mit einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Weiter stellte es fest, dass die Beschuldigten gegenüber der Privatklägerin B. im Grundsatz schadenersatzpflichtig sind. Zur Feststellung des Umfangs des Anspruchs verwies es die Privatklägerin auf den Zivilweg. Schliesslich verpflichtete das Bezirksgericht die Beschuldigten solidarisch, der Privatklägerin eine Genugtuung von Fr. 12'000.- zu bezahlen (Urteil vom 13. November 2017 und Beschluss vom 6. Juni 2018).
| 3 |
A.b A. reichte Berufung ein, mit der er u.a. einen Freispruch beantragte. Die Staatsanwaltschaft führte Anschlussberufung mit dem Antrag, der vorinstanzliche Schuldspruch sei zu bestätigen und die Freiheitsstrafe auf 41/2 Jahre anzusetzen.
| 4 |
A.c Anlässlich der Berufungsverhandlung vom 15. Januar 2019 beschloss das Obergericht des Kantons Zürich, die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklage einzuladen.
| 5 |
A.d Mit ergänzter Anklageschrift vom 15. Februar 2019 beschuldigte die Staatsanwaltschaft A. zusätzlich folgender Handlungen: Er habe die sich in seinem Bett befindliche Geschädigte ins Gesicht geschlagen, sie an den Haaren gerissen und aufgefordert, die Mitbeschuldigte zu küssen und oral zu befriedigen. Dadurch habe er sich der sexuellen Nötigung, eventuell des Versuchs dazu, schuldig gemacht.
| 6 |
B. Das Obergericht des Kantons Zürich erkannte den Berufungskläger der sexuellen Nötigung und der versuchten sexuellen Nötigung für schuldig. Es sprach eine Freiheitsstrafe von vier Jahren aus. In den Zivilpunkten bestätigte es den erstinstanzlichen Entscheid (Urteil vom 22. Oktober 2019).
| 7 |
C. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, von Schuld und Strafe vollumfänglich freigesprochen zu werden. Eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Zivilforderungen der Privatklägerin seien auf den Zivilweg zu verweisen. Für das Strafverfahren seien ihm eine Entschädigung und eine Genugtuung zuzusprechen.
| 8 |
9 | |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
10 | |
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von strafprozessualen Bestimmungen betreffend die Prüfung, Änderung und Erweiterung der Anklage (Art. 329 und 333 StPO), zudem eine Verletzung des Verschlechterungsverbots (Art. 391 Abs. 2 StPO).
| 11 |
12 | |
Nach Art. 404 Abs. 1 StPO überprüft das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil nur in den angefochtenen Punkten (Dispositionsmaxime). In den nicht angefochtenen Punkten wird das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig (Urteil 6B_533/2016 vom 29. November 2016 E. 4.2 mit Hinweisen; vgl. GILBERT KOLLY, Zum Verschlechterungsverbot im schweizerischen Strafprozess, ZStrR 113/1995 S. 299). Zugleich beschränkt Art. 404 Abs. 1 StPO den Streitgegenstand im Berufungsverfahren grundsätzlich auf Punkte, die bereits im erstinstanzlichen Urteil beurteilt worden sind. Die Vorinstanz ist von dieser Regel abgewichen und hat das Schulderkenntnis der ersten Instanz um einen zusätzlichen, vor erster Instanz nicht angeklagten Sachverhalt erweitert. Es stellt sich die Frage nach der Rechtsgrundlage.
| 13 |
1.3 Art. 329 StPO bietet keine Handhabe. Gestützt auf Abs. 1 lit. a und Abs. 2 zweiter Satz dieser Bestimmung weist das erstinstanzliche Gericht resp. das Berufungsgericht (Art. 379 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], 3. Aufl. 2018, N. 10 zu Art. 329 StPO; STEPHENSON/ZALUNARDO-WALSER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, ![]() ![]() | 14 |
15 | |
Erwägung 1.5 | |
16 | |
![]() ![]() | 17 |
18 | |
![]() | 19 |
Da die Staatsanwaltschaft mit Anschlussberufung eine Verschärfung des erstinstanzlichen Strafmasses verlangt, verhält es sich zwar nicht so, dass nur ein zu Gunsten des Beschwerdeführers ergriffenes Rechtsmittel vorliegt. Dennoch wird das vorinstanzliche Verständnis der gesetzgeberischen Absicht nicht gerecht. Das Verschlechterungsverbot bezweckt, dass die beschuldigte Person ihr Recht auf Weiterzug eines belastenden Entscheids wahrnehmen kann, ohne dadurch Gefahr zu laufen, dass der angefochtene Entscheid zu ihrem Nachteil abgeändert wird ( BGE 144 IV 35 E. 3.1.1 S. 43; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1311). Die möglichen Gegenstände einer Anschlussberufung der Gegenseite beschränken sich indessen nicht auf den Umfang der Hauptberufung (Art. 401 Abs. 2 StPO; BGE 140 IV 92 ). Um das mit einer Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft oder Privatklägerschaft verbundene Verschlechterungsrisiko zu beseitigen, muss die beschuldigte Person die Hauptberufung zurückziehen (Art. 401 Abs. 3 StPO) und damit auf Rechtsschutz verzichten. ![]() | 20 |
![]() | 21 |
Dies gilt sinngemäss auch, wenn zulasten der beschuldigten Person eigenständige Berufung erhoben wird. Art. 404 Abs. 1 StPO definiert - und begrenzt - den im Berufungsverfahren zulässigen Streitgegenstand (oben E. 1.2). Ein zulasten des Beschuldigten erhobenes Rechtsmittel macht den erstinstanzlichen Entscheid im Rahmen der gestellten Anträge zum Gegenstand des zweitinstanzlichen Prozesses. Freilich werden auch Gesichtspunkte erfasst, die sachlich eng mit diesen Anträgen zusammenhängen (vgl. BGE 144 IV 383 E. 1.1; Urteil 6B_492/2018 vom 13. November 2018 E. 2.3). Wenn die Staatsanwaltschaft beispielsweise (wie hier) einzig in Bezug auf das Strafmass Berufung erhoben hat, kann die Berufungsinstanz etwa auch einen materiellrechtlichen Strafmilderungsgrund verneinen, der im angefochtenen Urteil anerkannt wurde (Urteil 6B_724/2017 vom 21. Juli 2017 E. 2.3). Eine weitere Ausdehnung jedoch ist dem Berufungsgericht schon innerhalb des bisherigen Verfahrensgegenstands nicht erlaubt. Umso mehr noch fehlt es an der Möglichkeit, den Verfahrensgegenstand im Sinn von Art. 333 Abs. 2 StPO zu erweitern und einen zusätzlichen Schuldpunkt in das Verfahren einzuführen. Zumal es auch an einem einschlägigen Antrag fehlt (oben E. 1.5.2), dürfen die Tatvorwürfe nicht um einen Sachverhalt ergänzt werden, der erstinstanzlich nicht zu beurteilen war. Art. 333 Abs. 2 StPO ist daher im Berufungsverfahren generell nicht anwendbar.
| 22 |
23 | |
Bisher unbekannte Tatsachen im Sinn von Art. 391 Abs. 2 zweiter Satz StPO sind beispielsweise die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse, die für die Bemessung der Höhe des Tagessatzes nach ![]() ![]() | 24 |
25 | |
26 | |
© 1994-2021 Das Fallrecht (DFR). |