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20. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_1073/2020 vom 13. April 2021 | |
Regeste |
Art. 13 StGB; Krankheitsbedingter Irrtum. | |
Sachverhalt | |
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Nachdem er im Jahr 2008 nach einem Verkehrsunfall vergeblich versucht hatte, Versicherungsgelder von der B. Versicherung und der C. zu erhalten, wandte sich A. ca. Anfang Juli 2017 erneut an die B. Versicherung und machte Ansprüche aus einer Ferien- und Reisegepäckversicherung geltend. Zu diesem Zweck besuchte er zweimal die Filiale der B. Versicherung an der U. in Schaffhausen. Dabei eröffneten ihm die Mitarbeitenden der Versicherung, dass er wegen nicht bezahlter Versicherungsprämien keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen habe. A. beschlich derweil das Gefühl, die Mitarbeitenden der B. Versicherung hätten bei bzw. nach diesen Besuchen angefangen, mit "Geistkräften" auf ihn einzuwirken bzw. ihn damit anzugreifen. Diese Einwirkung von "Geistkräften" erlangte für ihn am Sonntagabend, 23. Juli 2017, den Höhepunkt, als er glaubte, beinahe sterben zu müssen.
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Am Tag darauf, um ca. 9.00 Uhr, hielt A. sich am Bahnhof in Schaffhausen auf. Er hatte einen Rucksack, eine weisse Umhängetasche und einen schwarzen Sack dabei, in dem er eine Motorsäge mit sich führte. Damit begab er sich zur Filiale der B. Versicherung an der U., wo er um ca. 10.30 Uhr eintraf. Dort nahm er die Motorsäge aus dem Sack, liess sie laufen und betrat die Büroräumlichkeiten im 2. Obergeschoss, wo sich D., Mitarbeiter der B. Versicherung, an seinem Schreibtisch im Hauptbüro sitzend auf ein Kundengespräch vorbereitete. In einem der beiden an das Hauptbüro angrenzenden Besprechungsräume führte E., ebenfalls ein Mitarbeiter der B. Versicherung, mit geschlossener Türe ein Beratungsgespräch mit zwei Kunden durch.
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A. ging mit der laufenden, auf Höhe Oberkörper gehaltenen Motorsäge bestimmt, zügig und mit starrem, "gläsernem'' Blick auf D. zu, worauf dieser vom Stuhl aufsprang, zu schreien begann, mit den Händen herumfuchtelte und zum Schutz seines Kopfes den rechten Arm hob. Daraufhin verletzte ihn A. mit der Motorsäge am Handrücken. Weiter verletzte er D. am Hinterkopf und an der Schläfe.
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Da D. während des Angriffs permanent laut "nei, nei, nei" schrie, öffnete E. die Bürotüre. Er sah den blutenden D., halb kniend hinter dessen Bürostuhl, einen Arm zum Schutz hochhaltend und A., die laufende Kettensäge nach unten auf Kopfhöhe von D. haltend. E. rief dem ihm den Rücken zudrehenden A. - um ihn von D. ![]() ![]() | 5 |
A. verliess mit der Motorsäge und seinen anderen Sachen die Liegenschaft, begab sich zum Bahnhof und fuhr mit dem Zug nach V., wo er am folgenden Tag festgenommen wurde. Bei der Festnahme führte er in einer Coop-Tasche zwei mit je 16 cm langen Pfeilen geladene Armbrüste und diverses Zubehör mit sich, da er Angst vor Menschenhändlern hatte, die ihn angeblich verschleppen wollten.
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A. wurde mit forensisch-psychiatrischem Gutachten vom 15. Februar 2018 eine schwere chronifizierte paranoid-halluzinatorische Schizophrenie diagnostiziert.
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B. Mit Urteil vom 11. September 2019 hielt das Kantonsgericht Schaffhausen den Anklagesachverhalt für erstellt und fest, dass A. den Tatbestand der mehrfachen versuchten vorsätzlichen Tötung im Sinne von Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB im Zustand der nicht selbst verschuldeten Schuldunfähigkeit erfüllt habe. Hierfür ordnete es eine stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB an.
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C. Mit Urteil vom 26. Mai 2020 wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen die von A. gegen das erstinstanzliche Urteil erhobene Berufung ab.
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D. Dagegen führt A. Beschwerde in Strafsachen vor Bundesgericht. Er beantragt, es sei der angefochtene Berufungsentscheid aufzuheben und festzustellen, dass er keine mehrfache versuchte Tötung im Sinne von Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB im Zustand der nicht ![]() ![]() | 10 |
Die kantonalen Akten wurden eingeholt. Auf die Einholung von Vernehmlassungen wurde verzichtet.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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Erwägung 1.4 | |
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1.4.2 Dem Beschwerdeführer ist insoweit zuzustimmen, als auch in der Lehre mitunter ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass der Gesetzestext von Art. 13 Abs. 1 StGB zu den Ursachen des Irrtums keine Aussagen treffe. Das bedeute, dass ein rechtlich relevanter Irrtum jedenfalls nicht a priori deshalb ausscheide, nur weil er seine Grundlage in einer wahnhaften Vorstellung des Täters finde (so THOMMEN/HABERMEYER/GRAF, Tatenlose Massnahmen?, sui generis 2020 S. 334 Rz. 26). Wenn die Ursachen des Irrtums aber unerheblich wären, bedeutete dies nach dieser Lehrmeinung, dass ein schizophrener Täter nach Art. 13 Abs. 1 StGB zu seinen Gunsten so gestellt werden müsste, wie wenn eine Angriffssituation vorgelegen ![]() ![]() | 15 |
1.4.3 Die gleichen Autoren weisen aber auch auf die deutsche Rechtsprechung betreffend krankheitsbedingte Irrtümer hin (THOMMEN/HABERMEYER/GRAF, a.a.O., S. 335 Rz. 37). Der dieser Rechtsprechung zugrunde liegende § 63 des deutschen Strafgesetzbuchs ist mit Art. 19 Abs. 3 i.V.m. Art. 59 des schweizerischen Strafgesetzbuchs vergleichbar. Im Urteil 1 StR 510/52 vom 11. November 1952, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1953 S. 111, führte der deutsche Bundesgerichtshof aus, dass Vorstellungsausfälle, die durch die Geisteskrankheit bedingt seien, nur die Verantwortlichkeit des Beschuldigten beeinträchtigten, jedoch nicht dazu führten, dass die sonst vorhandenen inneren Tatbestandsmerkmale verneint werden müssten. An dieser Rechtsprechung hielt der Gerichtshof im Urteil 5?StR 199/ 57 vom 9. Juli 1957, in: NJW 1957 S. 1484, fest, indem er ausführte, ein Irrtum, der durch dieselbe geistige Erkrankung des Beschuldigten bedingt sei, auf der auch seine Zurechnungsunfähigkeit beruhe, schliesse die Annahme einer tatbestandsmässigen Handlung nicht aus. Diese Rechtsprechung wurde in jüngeren Entscheiden bestätigt (Beschlüsse des Bundesgerichtshofs 3 StR 344/11 vom 11. Oktober 2011, in: Online-Zeitschrift für Strafrecht [HRRS] 2011 Nr. 1240; 1 StR 327/03 vom 27. August 2003, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Rechtsprechungs-Report Strafrecht [NStZ-RR] 2004 S. 10). Danach ist zwischen allgemeinen und krankheitsbedingten Fehlvorstellungen zu differenzieren. Irrtümer, die ihren Grund in der für die Schuldfähigkeit relevanten Pathologie haben, sind nicht zugunsten des Täters zu berücksichtigen und schliessen die Tatbestandsmässigkeit seines Handelns somit nicht aus. Begründet wird dies namentlich mit dem Schutzgedanken von § 63 des deutschen Strafgesetzbuchs. In der deutschen Lehre wird dazu ausgeführt, wenn krankheitsbedingte Irrtümer zur Verneinung der Anwendbarkeit der Norm führen würden, würde ihr Schutzgedanke versagen und der mit ihr verfolgte Zweck gerade in den Fällen vereitelt, in denen sich der abnorme Zustand des Täters besonders gefährlich erweise, weil er ihm die Erkenntnis der Gemeinschädlichkeit seines Handelns verwehre (HEINZ SCHÖCH, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2008, N. 46 zu § 63 StGB). Der Schutz vor gefährlichen ![]() ![]() | 16 |
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Das kann nun aber auch strafrechtlich nicht anders sein: Es entspricht dem Konzept der Strafrechtsordnung, als Normalfall von einem Individuum auszugehen, das in der Lage ist, die Gebote und Verbote des Strafrechts zu erkennen und sein Verhalten danach auszurichten (FELIX BOMMER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 16 zu Vor Art. 19 StGB). Wer folglich aufgrund einer psychischen Krankheit "irrt", irrt - wie bereits die Vorinstanz zutreffend ausführt - nicht im Sinne des Art. 13 Abs. 1 StGB. Die irrige Annahme eines schuldunfähigen Beschuldigten, die bei einem geistig gesunden Täter einen Sachverhaltsirrtum darstellen würde, ist mithin unbeachtlich, wenn sie auf die zur Schuldunfähigkeit führende Erkrankung des Beschuldigten zurückgeht. ![]() | 20 |
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