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34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_370/2020 vom 10. Mai 2021 | |
Regeste |
Art. 19 Abs. 2 lit. b und Art. 334 Abs. 1 StPO; Urteilskompetenz des Einzelgerichts. | |
Sachverhalt | |
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B. Am 29. Januar 2020 erkannte der a.o. Amtsgerichtsstatthalter von Solothurn-Lebern (im Folgenden: Einzelrichter) A. schuldig des mehrfachen Führens eines Motorfahrzeugs in qualifiziert fahrunfähigem Zustand, der versuchten Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, des mehrfachen Führens eines Motorfahrzeugs ohne Führerausweis, des Führens eines Motorfahrzeugs ohne Haftpflichtversicherung, der mehrfachen Entwendung eines Motorfahrzeugs zum Gebrauch und des Nichtmitführens des Fahrzeugausweises. Er verurteilte A. zu 16 Monaten Freiheitsstrafe (unbedingt), unter Anrechnung von 67 Tagen Untersuchungshaft; dies als teilweise Zusatzstrafe zum Urteil des Bezirksgerichts Pfäffikon. Im Weiteren auferlegte er A. eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je Fr. 10.- und eine Busse von Fr. 100.-. Die vom Bezirksgericht Pfäffikon angeordnete ambulante Behandlung hob er auf.
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) und A. meldeten Berufung an.
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Die Staatsanwaltschaft ersuchte in ihrer Berufungserklärung das Obergericht des Kantons Solothurn darum, von Amtes wegen zu prüfen, ob die Beurteilung der vorliegenden Strafsache in die Kompetenz des Einzelrichters oder des Amtsgerichts (als Dreiergericht) falle. ![]() | 4 |
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C. Mit Zwischenentscheid vom 10. Juni 2020 wies das Obergericht des Kantons Solothurn (Strafkammer) den Antrag auf Rückweisung der Sache zur erstinstanzlichen Beurteilung durch das Amtsgericht ab. Das Obergericht befand, der Einzelrichter habe seine Urteilskompetenz nicht überschritten.
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D. A. führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Zwischenentscheid des Obergerichts aufzuheben. Es sei die Nichtigkeit des Urteils des Einzelrichters sowie die Unverwertbarkeit der von diesem abgenommenen Beweise festzustellen und die Sache zur Durchführung einer erstinstanzlichen Hauptverhandlung an das dafür zuständige Amtsgericht zurückzuweisen.
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(...)
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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Gelangt das Gericht zum Schluss, in einem bei ihm hängigen Verfahren komme eine Strafe oder Massnahme in Frage, die seine Urteilskompetenz überschreitet, so überweist es nach Art. 334 Abs. 1 StPO den Fall spätestens nach Abschluss der Parteivorträge dem zuständigen Gericht. Dieses führt ein eigenes Beweisverfahren durch. ![]() | 12 |
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In der parlamentarischen Beratung wurde der Vorschlag des Bundesrates teilweise immer noch als zu weit angesehen. Im Ständerat beantragte die Minderheit, die Urteilskompetenz des Einzelgerichts auf ein Jahr zu begrenzen (AB 2006 S 995 f.); im Nationalrat auf 6 Monate (AB 2007 N 947 f.). Beides lehnten die Räte ab und stimmten dem Entwurf des Bundesrates zu.
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Nur die Kantone Bern (Art. 55 Abs. 2 sowie Art. 56 Abs. 1 und 2 lit. a EG ZSJ; BSG 271.1), Genf (Art. 95 f. LOJ; rs/GE E 2 05), Jura (Art. 20 LiCPP; RSJU 321.1), Neuenburg (Art. 25 f. OJN; RSN 161.1), Tessin (Art. 50 Abs. 4 LOG; RL 177.100), Wallis (Art. 12 Abs. 1 lit. a EGStPO; SGS 312.0) und Zug (§ 32 Abs. 3 GOG; ![]() ![]() | 18 |
Nebst dem Kanton Solothurn beschränkt der Kanton Freiburg (Art. 75 JG; SGF 130.1) die Urteilskompetenz des Einzelgerichts auf 18 Monate.
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Aargau (§ 11 EG StPO; SAR 251.200), Appenzell Ausserrhoden (Art. 17 Abs. 1 lit. b JG; bGS 145.31), Basel-Landschaft (§ 14 Abs. 1 lit. a EG StPO; SGS 250), Basel-Stadt (§ 79 Abs. 3 Ziff. 3 GOG; SG 154.100), Luzern (§ 35 Abs. 2 lit. b JusG; SRL 260), Nidwalden (Art. 15 GerG; NG 261.1), Obwalden (Art. 49 f. GOG; GDB 134.1), St. Gallen (Art. 16 EG-StPO; sGS 962.1), Schaffhausen (Art. 33 JG; SHR 173.200), Uri (Art. 19d GOG; RB 2.3221), Waadt (Art. 7 f. LVCPP; RSV 312.01) und Zürich (§ 27 GOG; LS 211.1) legen die Grenze bei 12 Monaten fest.
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Der Kanton Schwyz sieht die Zuständigkeit des Einzelgerichts nur bei Übertretungen und Einsprachen gegen Strafbefehle vor (§ 21 und § 32 Abs. 3 JG; SRSZ 231.110), der Kanton Glarus lediglich bei Übertretungen (Art. 14 Abs. 2 GOG; GS III A/2).
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Kein Einzelgericht kennen Appenzell Innerrhoden (Art. 9 EG StPO; GS 312.000), Graubünden (Art. 19 EGzSTPO; BR 350.100) und Thurgau (§ 21 ZSRG; RB 271.1).
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Auch im Schrifttum wird der von Art. 19 Abs. 2 StPO vorgesehene Kompetenzrahmen für das Einzelgericht als zu weit kritisiert. Er sei rechtsstaatlich bedenklich (DANIEL KIPFER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 19 StPO). Die Zurückdrängung des Kollegialprinzips im Bereich mittelschwerer Kriminalität stelle eine fragwürdige Rationalisierung dar (MARK PIETH, Schweizerisches Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2016, S. 74).
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2.7 Dieses Unbehagen gegenüber einer (zu) weiten Urteilskompetenz des Einzelrichters ist nachvollziehbar. Bei Beurteilung eines Falles durch diesen findet keine Beratung im Richtergremium statt. Eine solche erhöht aber in der Regel die Qualität des Urteils, weil ![]() ![]() | 25 |
2.8 Dies alles spricht für eine restriktive Anwendung von Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO. Die Grenze von 2 Jahren ist daher streng zu handhaben. Sie darf unter keinen Umständen überschritten werden. Massgeblich ist dabei, welchen Freiheitsentzug der Betroffene aufgrund des Urteils des Einzelgerichts insgesamt zu erdulden hat. Dies ergibt sich aus der in Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO ausdrücklich enthaltenen Regelung, wonach widerrufene bedingte Sanktionen mit zu berücksichtigen sind bei der Beurteilung, ob die Kompetenz des Einzelgerichts noch gegeben ist. Es besteht kein Grund, dies beim Widerruf der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug gemäss Art. 89 Abs. 1 StGB anders zu handhaben (ebenso SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 11 zu Art. 19 StPO; dieselben, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, S. 136 Rz. 376; JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale, 2. Aufl. 2018, S. 187 Fn. 30). Art. 352 Abs. 1 StPO, der die Strafbefehlskompetenz der Staatsanwaltschaft (bis höchstens 6 Monate Freiheitsstrafe) regelt, sieht die Einrechnung einer zu widerrufenden bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug vor. Bei der Urteilskompetenz des Einzelgerichts kann nichts anderes gelten. Dafür, dass der Gesetzgeber insoweit eine zu ![]() ![]() | 26 |
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Wäre der Auffassung der Vorinstanz zu folgen, wären im Übrigen noch deutlich krassere Fälle denkbar als hier, da nach der Rechtsprechung der Aufschub selbst einer langen Freiheitsstrafe zugunsten einer ambulanten Behandlung ausnahmsweise in Betracht kommen kann ( BGE 119 IV 309 E. 8b [6 Jahre Freiheitsstrafe]).
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2.11 Die Beschwerde wird demnach, soweit darauf einzutreten ist, gutgeheissen. Der angefochtene Beschluss und das Urteil des Einzelrichters werden aufgehoben. Die Sache wird dem Amtsgericht ![]() ![]() | 30 |
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