BGE 107 V 161 | |||
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34. Auszug aus dem Urteil vom 29. Juni 1981 i.S. Ritschard gegen Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung "Krankenfürsorge Winterthur" und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn | |
Regeste |
Art. 1 Abs. 2 und Art. 4 KUVG. | |
Aus den Erwägungen: | |
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Nach der Rechtsprechung ist es den Kassen gestattet, das statutarische Taggeld nach Eintritt der AHV-Rentenberechtigung des Versicherten auf das gesetzliche Minimum von Fr. 2.-- herabzusetzen. Das gilt auch dann, wenn der Rentenberechtigte weiterhin erwerbstätig ist (EVGE 1969 S. 18 und nicht veröffentlichtes Urteil Perrig vom 9. März 1977; vgl. auch BGE 97 V 130). Die in Art. 55 Ziff. 6 AVB 1971 bzw. Art. 63 Abs. 1 der Statuten vorgesehene Rückstufung auf das gesetzliche Minimaltaggeld ist demnach gesetzmässig.
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Nach der Rechtsprechung können die Krankenkassen grundsätzlich innerhalb der gesetzlichen Schranken Beiträge und Leistungen jederzeit anpassen. Das Recht zur Abänderung der Versicherungsbedingungen hat aber nicht notwendigerweise zur Folge, dass die neue Ordnung in jedem Fall für alle Versicherten ohne weiteres auch verbindlich ist. Für den Versicherten ist es wichtig zu wissen, in welchem Umfange er Versicherungsschutz geniesst. Die Kasse hat daher den von einer Änderung betroffenen Mitgliedern zumindest jene Beschlüsse bekanntzugeben, welche die Leistungen, mit welchen sie rechnen konnten, in erheblichem Masse einschränken. Teilt eine Kasse eine solche Änderung nicht mit und befindet sich der Versicherte infolge dieser Unterlassung in einem Irrtum über seine Rechtsansprüche, so kann ihm der betreffende Beschluss nicht entgegengehalten werden. Es ist hier ein billiger Ausgleich zu wahren zwischen den Anforderungen einer gesunden Kassenführung einerseits und der Sorge um die Respektierung der Rechte eines jeden Versicherten anderseits. Mitteilungsbedürftige Statuten- oder Reglementsänderungen sind für den Versicherten erst vom Zeitpunkt der gehörigen Bekanntgabe an gültig (BGE 96 V 97; RSKV 1971 Nr. 107 S. 191, 1970 Nr. 71 S. 139 und 1969 Nr. 47 S. 85).
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a) Entgegen der vom Bundesamt für Sozialversicherung anscheinend vertretenen Ansicht kann dem Beschwerdeführer nicht die Beweisführungslast für eine allfällige Unterlassung der rechtzeitigen Bekanntgabe der neuen Bestimmungen auferlegt werden.
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Die den Sozialversicherungsprozess beherrschende Offizialmaxime schliesst die Beweislast im Sinne einer Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Die Parteien tragen mithin in diesem Verfahrensbereich in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (BGE 103 V 66 und 175 mit Hinweisen). Weil die Kasse aus der Tatsache der Kenntnisgabe neuer statutarischer oder reglementarischer Bestimmungen an die Versicherten Rechte ableiten will, hat sie die Folgen allfälliger Beweislosigkeit zu tragen.
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b) Die Kasse hat in der kantonalen Beschwerdevernehmlassung ausdrücklich zugegeben, dass sie die AVB den Versicherten nur auf Verlangen aushändige. Nichts spricht dafür, dass es sich im vorliegenden Fall ausnahmsweise anders verhalten hat. Ebensowenig ist erwiesen, dass der Beschwerdeführer die geänderten Bestimmungen von sich aus bei der Kasse angefordert hat. Daher ist davon auszugehen, dass die Kasse die Zustellung der revidierten AVB bzw. Statuten unterlassen hat.
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c) Die Einwendungen der Kasse erweisen sich als unbehelflich. Sie macht vorab geltend, dass sie den Versicherten im AHV-Rentenalter mit einer Taggeldversicherung von mehr als Fr. 2.-- pro Tag periodisch (Formular-)Schreiben zusende, in welchen auf die beschränkte Leistungsdauer von 180 Tagen aufmerksam gemacht werde. Der Beschwerdeführer, der diese Mitteilungen ebenfalls erhalten habe, sei dadurch über die neue Taggeldordnung genügend unterrichtet gewesen. Die hier wesentlichen Passagen dieses Formularschreibens lauten wie folgt:
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"... Auf Grund von Art. 27, lit. d des 2. Statutennachtrages kann deshalb ein Mitglied in die Taggeldklasse von Fr. 2.-- herabgesetzt werden, wenn es ins AHV-Rentenalter eintritt und nicht mehr erwerbstätig ist. Sofern dies bei Ihnen der Fall ist, werden wir Ihre gegenwärtige Taggeldversicherung auf Fr. 2.-- reduzieren. Ihre zuständige Geschäftsstelle wird Sie nach vollzogener Versicherungsänderung über den reduzierten Monatsbeitrag orientieren.
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Sofern Sie jedoch immer noch beruflich tätig sind und Ihr gegenwärtiges Kranken- und Unfallgeld den Lohnausfall bei allfälliger Erwerbsunfähigkeit nicht übersteigt, dann wollen Sie dies bitte Ihrer zuständigen Geschäftsstelle innert 30 Tagen nach Erhalt dieses Schreibens schriftlich mitteilen. Gleichzeitig wollen Sie Namen und Adresse Ihres Arbeitgebers bekanntgeben. Bei selbständig Erwerbenden kann die Kasse dementsprechende Beweisunterlagen (Steuerrechnung über Erwerbseinkommen etc.) zur Einsichtnahme verlangen. Eine weitere Ausnahme bilden Mitglieder, welche bei Eintritt ins AHV-Rentenalter arbeitsunfähig waren oder eine Invalidenrente bezogen. Diese haben ab Eintritt ins AHV-Rentenalter noch Anspruch auf volle Taggeldleistung während max. 180 Tagen.
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Im ersten Abschnitt dieses Schreibens wird auf die Notwendigkeit der Herabsetzung des versicherten Taggeldes für den Fall verwiesen, dass der AHV-Rentner nicht mehr erwerbstätig ist. Der zweite Abschnitt nimmt Bezug auf die überversicherten erwerbstätigen AHV-Rentner. Beides trifft auf den Beschwerdeführer nicht zu. Dann führt die Kasse mit der Wendung "eine weitere Ausnahme bilden Mitglieder..." eine dritte Gruppe an, nämlich die Versicherten, "welche bei Eintritt ins AHV-Rentenalter arbeitsunfähig waren oder eine Invalidenrente bezogen". Für diese soll ab Eintritt ins AHV-Rentenalter nur noch während 180 Tagen ein Anspruch auf das versicherte Taggeld bestehen. Diese Regelung musste jedoch der Beschwerdeführer nach Treu und Glauben nicht auf sich beziehen, denn es findet sich nirgends ein Hinweis, dass er beim Eintritt ins AHV-Rentenalter im Jahre 1974 arbeitsunfähig oder Bezüger einer Invalidenrente gewesen wäre. Art. 55 Ziff. 6 AVB 1971 bzw. Art. 63 Abs. 1 der Statuten mag in diesem Formularschreiben ungenau wiedergegeben sein. Dem Beschwerdeführer vermag das indessen nicht zu schaden. Denn die mangelnde Klarheit kasseninterner Bestimmungen oder Mitteilungen darf sich nach der Rechtsprechung nicht zum Nachteil des Versicherten auswirken (vgl. dazu BGE 106 V 33 Erw. 4 mit Hinweisen). Das Formularschreiben der Kasse vermochte demnach die fragliche Neuregelung in der Taggeldversicherung im vorliegenden Falle nicht hinreichend zu vermitteln.
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Nicht stichhaltig ist der Einwand der Kasse, dass nach Art. 6 Abs. 1 AVB 1971 jeder Versicherte das Recht und die Möglichkeit habe, die Versicherungsbedingungen beim Arbeitgeber oder bei der Kasse einzusehen, und dass der Versicherte allfällige Folgen aus der Unkenntnis der Kassenbestimmungen selber zu vertreten habe. In diesem Sinne lautete schon Art. 5 Abs. 1 der AVB aus dem Jahre 1952. Dem Versicherten kann indes nicht zugemutet werden, dass er sich mehr oder weniger regelmässig nach allfälligen Änderungen der Versicherungsbedingungen erkundigt. Vielmehr darf er sich darauf verlassen, dass ihm die Kasse wesentliche Neuerungen rechtzeitig mitteilt.
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d) Die gehörige Bekanntgabe der neuen Taggeldordnung an die davon sofort oder in naher Zukunft betroffenen Versicherten stellt entgegen der Auffassung der Kasse keinen übermässigen administrativen Aufwand dar. Dass ein solches Vorgehen tatsächlich ohne weiteres auch möglich wäre, beweist der Versand der oben erwähnten Formularschreiben. Wohl sind damit für die Kasse gewisse Kosten verbunden. Doch haben hier wirtschaftliche Überlegungen gegenüber dem Interesse zurückzutreten, das die Kassenmitglieder an der Kenntnis des Umfangs ihres Versicherungsschutzes haben.
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Entgegen der Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung kann dem Beschwerdeführer Art. 55 Abs. 6 AVB 1971 bzw. Art. 63 Abs. 1 der Statuten nicht nur dann nicht entgegengehalten werden, wenn er infolge der Nichtbekanntgabe der geänderten Bestimmungen den Abschluss einer neuen Krankentaggeld-Versicherung bei einer andern Kasse unterlassen oder verpasst hätte. Dergleichen findet auch in der oben angeführten Rechtsprechung keine Stütze. Dass der von einer Änderung betroffene Versicherte die Möglichkeit haben soll, zur Abwendung von Nachteilen gewisse Vorkehren zu treffen, bildet lediglich den Grund dafür, dass die Kasse wichtige Neuerungen beförderlich eröffne. Für die Unverbindlichkeit einer mitteilungsbedürftigen, aber nicht rechtzeitig bekanntgegebenen Änderung ist dagegen nicht erforderlich, dass der betroffene Versicherte einen Schaden oder Nachteil infolge der von der Kasse verschuldeten Unkenntnis nachweist. Neue statutarische oder reglementarische Bestimmungen sind für die Versicherten grundsätzlich erst ab gehöriger Bekanntgabe verbindlich. In diesem Sinne ist die in BGE 97 V 132 Erw. 3 in fine offengelassene Frage zu beantworten.
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