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54. Urteil vom 30. Dezember 1982 i.S. Paolucci gegen Schweizerische Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons Aargau | |
Regeste |
Art. 104 lit. a, 105 Abs. 2 und Art. 132 OG, Art. 3 Abs. 3 KUVG. |
- Der Kassenausschluss setzt ein besonders schweres Verschulden des Versicherten voraus (Erw. 2, 3). |
- Berät ein Kassenfunktionär den Aufnahmebewerber oder hilft er ihm bei der Beantwortung der im Gesuchsformular gestellten Fragen, so entbindet dies den Gesuchsteller weder von der Pflicht zu Wahrheit und sachgemässer Sorgfalt noch von seiner Verantwortlichkeit für die unterschriftlich bestätigten Angaben. Ein Abweichen von diesem Grundsatz rechtfertigt sich nur, wenn das Verhalten des Kassenfunktionärs eine Behaftung des Bewerbers bei den unvollständigen oder wahrheitswidrigen Angaben als gegen Treu und Glauben verstossend erscheinen lässt (Erw. 4a). |
- Selbständige Abklärungspflicht der Krankenkasse (Erw. 4b)? | |
Sachverhalt | |
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Mitte Oktober 1979 begab sich Donato Paolucci wegen Rückenschmerzen in ärztliche Behandlung und vom 5. bis 26. Februar 1980 musste er sich in der Rheumaklinik Bad Schinznach hospitalisieren lassen. Die Abklärungen der Kasse ergaben, dass Donato Paolucci bereits im Jahre 1976 und von Februar bis Juli 1979 wegen Rückenbeschwerden ärztlicher Hilfe bedurft hatte. Da im Aufnahmegesuch angegeben worden war, es bestünden zur Zeit keine Krankheiten und es hätte in den letzten 5 Jahren keine ärztliche Behandlung stattgefunden, schloss ihn die Kasse mit Verfügung vom 8. Juli 1980 rückwirkend auf den 1. Juli 1979 aus und behielt sich die Rückforderung der erbrachten Krankenpflege- und Krankengeldleistungen von Fr. 21'027.20 abzüglich der geleisteten Monatsbeiträge vor.
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B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Obergericht (Versicherungsgericht) des Kantons Aargau am 3. Februar 1981 ab.
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Donato Paolucci sinngemäss die Aufhebung des Kassenausschlusses.
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Die Kasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt, die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen (einschliesslich deren Rückforderung) erstreckt sich dagegen die Überprüfungsbefugnis des Eidg. Versicherungsgerichts auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG; erweiterte Kognition).
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b) Der Streit um die Mitgliedschaft (Kassenausschluss) unterliegt der Kognition gemäss Art. 104 lit. a OG (BGE 97 V 191; RSKV 1982 Nr. 496 S. 156, 1970 Nr. 82 S. 215 Erw. 2; nicht veröffentlichte Urteile Cochard vom 4. Februar 1981 und Vacchelli vom 4. April 1978). Häufig ist jedoch im gleichen Beschwerdeverfahren nebst dem Kassenausschluss auch die mit diesem begründete Verweigerung von Kassenleistungen oder die Rückforderung bereits erbrachter Kassenleistungen streitig. Diesfalls muss für beide Streitfragen der gleiche Sachverhalt zugrundegelegt werden, der vom Eidg. Versicherungsgericht mit der erweiterten Kognition überprüft wird (Attraktionsprinzip; BGE 98 V 276 Erw. 3). Dagegen richtet sich die rechtliche Beurteilung nach der Natur der einzelnen Streitpunkte; für den Leistungsstreit ist das Eidg. Versicherungsgericht nicht an die Parteibegehren gebunden und es kann die Angemessenheit frei prüfen; für den streitigen Kassenausschluss aber gilt die Kognition gemäss Art. 104 lit. a OG.
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c) Nach Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung besteht im vorliegenden Fall ein genügend enger Zusammenhang zwischen dem Kassenausschluss und der Rückforderung, um die erweiterte Kognition zum Zuge kommen zu lassen; zwar sei die Rückerstattung noch nicht formell verfügt worden, mit dem Vorbehalt der Rückforderung in der Ausschluss-Verfügung habe die ![]() | 9 |
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Der Kassenausschluss ist die strengste Sanktion und für den Betroffenen meist mit einschneidenden Folgen verbunden. Daher setzt er ein besonders schweres Verschulden des Versicherten bzw. Umstände voraus, welche die fragliche Mitgliedschaft für die Kasse schlechthin als unzumutbar erscheinen lassen (RSKV 1978 Nr. 322 S. 95, nicht veröffentlichtes Urteil Amacher vom 5. April 1982).
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b) Schuldhaft verletzt ein Gesuchsteller die Anzeigepflicht, wenn er der Kasse auf deren Frage hin eine bestehende Krankheit oder eine vorher bestandene, zu Rückfällen neigende Krankheit nicht anzeigt, obwohl er darum wusste oder bei der ihm zumutbaren Aufmerksamkeit darum hätte wissen müssen (BGE 106 V 173 Erw. 2 mit Hinweisen). Der Aufnahmebewerber ist bereits auf dem Beitrittsformular an gut sichtbarer Stelle mit einem ausdrücklichen, von den andern Bestimmungen deutlich abgehobenen Hinweis auf die im Falle einer Anzeigepflichtverletzung möglichen schwersten Sanktionen, den Ausschluss aus der Kasse und den Entzug der Leistungen, aufmerksam zu machen. Vorbehalten bleiben Ausnahmefälle, in denen das zu beanstandende Verhalten eines Versicherten oder Aufnahmebewerbers als so schwerwiegend erscheint, dass nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die ![]() | 12 |
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b) Zu prüfen ist, ob das Verschulden des Beschwerdeführers so schwer wiegt, dass sich der Ausschluss aus der Kasse rechtfertigt. Das ist zu bejahen. Es handelt sich bei den verschwiegenen Leiden um erhebliche gesundheitliche Störungen, die intensive ärztliche Behandlung notwendig machten und Rückfälle erwarten liessen. Darüber war oder musste sich der Beschwerdeführer im klaren sein. Die Vorinstanz hat erkannt, dass er sodann die ihm im Gesuchsformular gestellten Fragen verstanden hat und sich sowohl der Bedeutung wie der Unrichtigkeit seiner Antworten bewusst gewesen ist. Hinzu kommt die weitere, für das Eidg. Versicherungsgericht verbindliche Feststellung der Vorinstanz, dass das Beitrittsgesuch als Reaktion auf die von der früheren Kasse (Schweizerische Krankenkasse Zurzach) aus gesundheitlichen Gründen verweigerte Versicherung für Krankengeld und Spitalzusatz erfolgt ist und dass der Beschwerdeführer seine Leiden offensichtlich in der Absicht verschwiegen hat, einen Versicherungsschutz zu erwirken, den ihm die bisherige Kasse nicht hat gewähren wollen. Damit ist ein wesentliches Kennzeichen eines besonders schweren Verschuldens gegeben, nämlich jenes dolose ![]() | 14 |
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b) Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Kasse hätte seine Angaben bei der Krankenkasse Zurzach ohne weiteres überprüfen können und wäre namentlich im Hinblick auf die schweren Folgen bei einer Anzeigepflichtverletzung hiezu auch verpflichtet gewesen. Ob die Krankenkassen zu solchen Abklärungen verhalten werden können und inwieweit im Lichte der Schweigepflicht der Kassen gemäss Art. 40 KUVG Auskünfte überhaupt zulässig sind, liesse sich indessen höchstens fragen, wenn der Gesuchsteller die aufnehmende Kasse auf die Leistungen oder Unterlagen der ![]() | 16 |
c) Verfehlt ist schliesslich die Geltendmachung eines Zügerrechts. Der Beschwerdeführer erfüllt die hiefür erforderlichen Voraussetzungen des Art. 7 oder Art. 8 Abs. 1 bis 3 KUVG nicht. Die Statuten der Kasse räumen keine weitergehende Freizügigkeit ein.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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