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46. Urteil vom 22. August 1984 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen A. und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel | |
Regeste |
Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV. |
- Die Verordnungsbestimmung kann nur so weit Anwendung finden, als der zur Wiedererwägung führende Fehler bei der Beurteilung eines spezifisch invalidenversicherungsrechtlichen Gesichtspunktes unterlaufen ist. Sie ist analog auf die Wiedererwägung von Abweisungsverfügungen anwendbar (Erw. 3d). |
- Wann hat der Mangel gemäss Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV als "entdeckt" zu gelten (Erw. 4)? | |
Sachverhalt | |
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Im November 1982 suchte Giacomo A. erneut um Zusprechung einer Rente nach, worauf die Invalidenversicherungs-Kommission eine stationäre Abklärung im Zentrum für Medizinische Begutachtung der Chrischonaklinik in Bettingen anordnete. In ihrem ![]() | 2 |
B.- In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde setzte die Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel, den Rentenbeginn auf den 1. November 1981 fest. Als massgebend hiefür erachtete sie, dass sich die erste Verfügung vom 12. Juli 1982 aufgrund des Gutachtens vom 24. Februar 1983 als zweifellos unrichtig erweise und die Korrektur eines fehlerhaften Verwaltungsaktes grundsätzlich rückwirkend zu erfolgen habe (Entscheid vom 8. September 1983).
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C.- Das BSV erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei die Verfügung der Ausgleichskasse Basel-Stadt vom 25. Mai 1983 wiederherzustellen. Der Versicherte und die Vorinstanz lassen sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
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Von der Wiedererwägung ist die sogenannte prozessuale Revision von Verwaltungsverfügungen zu unterscheiden. Danach ist die Verwaltung verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 109 V 121, BGE 108 V 168, BGE 106 V 87, BGE 102 V 17).
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2. a) Die Vorinstanz stellt unter Hinweis auf Art. 68 VwVG fest, im vorliegenden Fall bestehe ein Revisionsgrund, weil durch ![]() | 7 |
b) Demgegenüber kann als unbestritten gelten, dass aufgrund der ergänzten Akten davon auszugehen ist, dass der Versicherte seit November 1980 in rentenbegründendem Ausmass arbeits- bzw. erwerbsunfähig ist und der Versicherungsfall somit im November 1981 eingetreten ist. Die Verfügung vom 12. Juli 1982, mit welcher das im November 1981 erhobene Rentenbegehren abgewiesen worden ist, erweist sich damit als zweifellos unrichtig, weshalb die Verwaltung hierauf zu Recht zurückgekommen ist. Streitig ist die Frage des Rentenbeginns.
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3. a) Die - gemäss einer Stellungnahme des BSV erlassene - Verfügung vom 25. Mai 1983, mit welcher dem Versicherten eine ganze Rente ab 1. März 1983 zugesprochen wurde, stützt sich auf Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV, wonach in Fällen, in denen festgestellt wird, dass der Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission zum Nachteil des Versicherten zweifellos unrichtig war, die Erhöhung der Rente oder der Hilflosenentschädigung frühestens von dem Monat an erfolgt, in dem der Mangel entdeckt wurde. Die Vorinstanz verneint die Anwendbarkeit dieser Bestimmung, weil es im vorliegenden Fall um die erstmalige Festsetzung einer Rente und nicht um die Änderung einer laufenden Rente gehe. Sie lehnt auch eine bloss analogieweise Anwendung der ![]() | 9 |
b) Über die Frage der Gesetzmässigkeit von Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV hatte das Eidg. Versicherungsgericht bisher nicht zu entscheiden. In BGE 109 V 112 hat es lediglich festgestellt, dass es sich hiebei - entgegen der systematischen Stellung - nicht um eine Revisionsbestimmung im Sinne von Art. 41 IVG, sondern um den Fall der Wiedererwägung einer zweifellos unrichtigen Verfügung handle. Dass die Bestimmung nicht die Revision von Leistungen gemäss Art. 41 IVG betrifft und damit systematisch nicht unter Art. 86 ff. IVV gehört, bedeutet nicht, dass sie als gesetzwidrig zu betrachten wäre. Die Bestimmung entbehrt zwar einer konkreten gesetzlichen Grundlage; das Institut der Wiedererwägung hat jedoch den Charakter eines allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsatzes (vgl. Art. 58 VwVG), der insbesondere auch in der Sozialversicherung Geltung hat. Insofern erweist sich Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV als zulässige Teilkodifikation des allgemeinen Grundsatzes der Wiedererwägung mit Bezug auf Verfügungen über Renten und Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung. Fraglich kann lediglich sein, ob die Bestimmung auch insofern bundesrechtskonform ist, als die Wiedererwägung nicht ex tunc, sondern mit Wirkung ex nunc ab Entdeckung des Mangels erfolgt.
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c) Die Vorinstanz begründet die rückwirkende Zusprechung der Rente auf den 1. November 1981 damit, dass die Korrektur eines fehlerhaften Beschwerdeentscheides gemäss Art. 68 VwVG bei Vorliegen eines Revisionsgrundes rückwirkend auf den Zeitpunkt des unrichtigen Entscheides zu erfolgen habe und dass diese Bestimmung als allgemeine verwaltungsrechtliche Richtlinie auch bei der Korrektur fehlerhafter erstinstanzlicher Verfügungen grundsätzlich anwendbar sei. Im vorliegenden Fall geht es nach dem Gesagten indessen nicht um eine sog. prozessuale Revision, sondern um die Wiedererwägung einer zweifellos unrichtigen Verfügung. Weil für die Revision besondere Voraussetzungen bestehen, ![]() | 11 |
In der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertritt die Vorinstanz die Auffassung, auch die Wiedererwägung fehlerhafter Verfügungen habe grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Verfügung zu erfolgen. Nach den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen sei bezüglich der Widerruflichkeit von Verfügungen und der Modalitäten des Widerrufs entscheidend darauf abzustellen, ob es sich um belastende oder begünstigende Verfügungen handle. Bei begünstigenden Verfügungen könne die Widerruflichkeit aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes fraglich sein, oder es habe die Wirkung jedenfalls lediglich ex nunc zu erfolgen. Wo aber - wie hier - eine belastende Verfügung in Wiedererwägung gezogen werde, müssten schon besondere Gründe vorliegen, um nicht eine Wirkung ex tunc eintreten zu lassen.
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Dem BSV ist indessen darin beizupflichten, dass in Lehre und Praxis keine einheitliche Auffassung hinsichtlich der zeitlichen Wirkung der Wiedererwägung besteht. Dies namentlich auch in dem Sinne nicht, dass die Wiedererwägung belastender Verfügungen mit Wirkung ex tunc und diejenige begünstigender Verfügungen mit Wirkung ex nunc zu erfolgen hätte. Ebensowenig besteht ein Grundsatz, wonach die Wiedererwägung negativer Verwaltungsakte regelmässig ex tunc vorzunehmen wäre. IMBODEN/RHINOW (Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Bd. I, S. 249), worauf sich die Vorinstanz beruft, unterscheiden zwar zwischen begünstigenden und belastenden Verfügungen, jedoch nur mit Bezug auf die Voraussetzungen der Wiedererwägung, nicht hinsichtlich ihrer zeitlichen Wirkung. GRISEL (Droit administratif suisse, S. 218) spricht lediglich davon, dass die Wiedererwägung je nach den Umständen mit Wirkung ex tunc oder ex nunc erfolgt, und beantwortet die Frage nur für den besondern Fall der dolosen Erwirkung einer begünstigenden Verfügung im Sinne der Wirkung ex tunc. KNAPP (Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 159) äussert sich dahin, dass die Wiedererwägung grundsätzlich vom Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Verfügung an wirksam sei, ohne zwischen begünstigenden und belastenden Verfügungen zu unterscheiden (vgl. im übrigen auch FLEINER-GERSTER, Grundzüge des allgemeinen und schweizerischen Verwaltungsrechts, 2. Aufl., S. 234 f. und 265 ff.; ![]() | 13 |
d) Dem Wortlaut nach bezieht sich Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV lediglich auf die Erhöhung von Renten und Hilflosenentschädigungen, somit auf laufende Leistungen. Eine unterschiedliche Regelung der zeitlichen Wirkung der Wiedererwägung je nachdem, ob dem Versicherten zu Unrecht keine oder eine zu geringe Leistung zugesprochen worden ist, liesse sich jedoch nicht rechtfertigen. Die Verordnungsbestimmung ist daher analog auf Fälle anzuwenden, ![]() | 14 |
Im Hinblick auf Art. 85 Abs. 1 IVV in Verbindung mit Art. 77 AHVV kann Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV indessen nur so weit Anwendung finden, als der zur Wiedererwägung führende Fehler bei der Beurteilung eines spezifisch invalidenversicherungsrechtlichen Gesichtspunktes unterlaufen ist (vgl. mit Bezug auf die Rückerstattung zu Unrecht ausgerichteter Leistungen: BGE 110 V 298, 107 V 36, 105 V 170). Im vorliegenden Fall geht es aber um die Beurteilung eines spezifisch invalidenversicherungsrechtlichen Gesichtspunktes, weshalb der Anwendbarkeit der Verordnungsbestimmung nichts im Wege steht.
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b) Im vorliegenden Fall hat die Verwaltung auf den Eingang des Gutachtens des Zentrums für Medizinische Begutachtung bei der Invalidenversicherungs-Kommission am 3. März 1983 abgestellt. Aufgrund dieses Berichtes stand fest, dass die ursprüngliche Verfügung zweifellos unrichtig war. Es stellt sich indessen die Frage, ob der Mangel nicht schon in einem früheren Zeitpunkt als entdeckt gelten konnte. Laut einem Schreiben des Sekretariates der Invalidenversicherungs-Kommission an den Versicherten vom 30. November 1982 war die Verwaltung zunächst nicht bereit, auf das neue Begehren vom November 1982 einzutreten. In der Folge änderte sie diese Meinung jedoch aufgrund einer telephonischen und schriftlichen Intervention der Hausärztin Dr. S., welche auf eine vollständige Arbeitsunfähigkeit schloss und sinngemäss eine ![]() | 17 |
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid der Kantonalen Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel, vom 8. September 1983 und die Kassenverfügung vom 25. Mai 1983 aufgehoben, und es wird die Ausgleichskasse Basel-Stadt verhalten, dem Beschwerdegegner eine ganze Invalidenrente ab 1. Dezember 1982 auszurichten.
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