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19. Urteil vom 21. April 1986 i.S. W. gegen Krankenfürsorge Winterthur und Versicherungsgericht des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 7 Abs. 1 KUVG: Freizügigkeit. |
- Kommt eine Krankenkasse der Aufklärungspflicht nicht oder nicht rechtzeitig nach, so dass das Mitglied das Zügerrecht nicht innert der gesetzlichen Dreimonatsfrist ausüben kann, fällt der Freizügigkeitsanspruch dahin (Erw. 2b). |
Art. 4 BV: Treu und Glauben. |
- Anspruch auf eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung aufgrund des Vertrauensschutzes, wenn eine gesetzlich gebotene Aufklärung nicht erfolgt (Erw. 3). |
- Das aus Art. 3 Abs. 3 KUVG fliessende Gebot der Gleichbehandlung der Kassenmitglieder ist keine unmittelbar und zwingend aus dem Gesetz sich ergebende Sonderregelung, welche die Berufung auf den Vertrauensschutz ausschliesst (Erw. 4a-c). |
- Verpflichtungen der Krankenkasse in bezug auf die Prämienbelastung, wenn sie durch Verletzung ihrer gesetzlichen Aufklärungspflicht dem Mitglied die Ausübung des Zügerrechts verunmöglicht (Erw. 4d). | |
Sachverhalt | |
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Mit Schreiben vom 5. Juli 1983 machte Pierre W. gegenüber der KFW geltend, mangels Aufklärung über die Fusion der Krankenkasse La Jurassienne mit der KFW hätten er und seine Familie den dabei entstandenen Anspruch auf Freizügigkeit nicht ausnützen können. Dies wirke sich nun nachteilig aus, weil die Prämien der KFW wesentlich über denjenigen anderer Kassen liegen würden. Er verlange deshalb die Vergütung der entsprechenden Prämiendifferenz. Dieses Begehren lehnte die KFW mit Brief vom 26. Juli 1983 ab. Pierre W. trat in der Folge mit seinen beiden Kindern aus der KFW aus, hielt jedoch in bezug auf die aus Gesundheitsgründen bei dieser Kasse verbliebene Ehefrau an seinem Antrag auf Vergütung der Prämiendifferenz fest. Da keine Einigung zustande kam, teilte die KFW Pierre W. am 21. Mai 1984 verfügungsweise mit, der Anspruch auf Freizügigkeit sei am 31. März 1983 abgelaufen; ![]() | 2 |
B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies die hiegegen erhobene Beschwerde nach Durchführung eines Beweisverfahrens mit Entscheid vom 20. November 1984 ab.
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C.- Adelheid W. lässt durch ihren Ehemann Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Anträgen, die KFW sei zu verpflichten, ihr rückwirkend die monatlichen Prämiendifferenzen von Fr. 147.80 zu Fr. 253.90 (seit 1. Juli 1983 bis Ende 1984) und von Fr. 147.80 zu Fr. 219.80 (ab anfangs 1985) zu erstatten; ferner sei die KFW anzuweisen, ihre Prämie zeitlich unbeschränkt auf Fr. 147.80 herabzusetzen; schliesslich sei das vorliegende Urteil allen früheren kollektivversicherten Mitgliedern der Krankenkasse Omega zu eröffnen.
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Die KFW und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) beantragen Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
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2. a) Gemäss Art. 5bis Abs. 4 KUVG haben Versicherte bei Dahinfallen des Kollektivversicherungsvertrages das Recht, in die Einzelversicherung der Kasse überzutreten, wenn sie in deren Tätigkeitsgebiet wohnen (Satz 1); die Kassen sind verpflichtet, den Übertretenden im Rahmen der Einzelversicherung den bisherigen Umfang der Leistungen zu wahren (Satz 2). Zur Gewährleistung der Weiterversicherung bei Dahinfallen eines Kollektivversicherungsvertrages auferlegt Art. 12 Vo II zum KUVG (SR 832.132 in der bis Ende 1984 gültig gewesenen Fassung) den Krankenkassen folgende Aufklärungspflicht: Die Kassen haben dafür zu sorgen, dass die Versicherten bei Ausscheiden aus der Kollektivversicherung oder bei Dahinfallen des Kollektivversicherungsvertrages über das Recht zum Übertritt in die Einzelversicherung aufgeklärt werden (Satz 1); eine entsprechende Aufklärungspflicht obliegt der Kasse gegenüber Versicherten, die als Züger zu einer andern Kasse übertreten können (Satz 2). Ein Freizügigkeitsgrund, über den die Kasse im Sinne dieser Verordnungsbestimmung den Versicherten aufzuklären hat, liegt insbesondere dann vor, wenn die Krankenkasse sich auflöst (Art. 7 Abs. 1 lit. e KUVG). Tritt ein Freizügigkeitsfall ein, so ist die Kasse nicht nur verpflichtet, den Versicherten über den Anspruch auf Freizügigkeit aufzuklären; sie hat ihm ![]() | 7 |
b) Das kantonale Gericht hat aufgrund des anlässlich der Parteiverhandlung vom 6. August 1984 durchgeführten Beweisverfahrens in für das Eidg. Versicherungsgericht verbindlicher Weise (Art. 105 Abs. 2 OG) festgestellt, dass die Beschwerdeführerin erst am 30. März 1983 über die Möglichkeit der Freizügigkeit orientiert wurde; daher habe sie von ihrem Recht, während drei Monaten nach Auflösung der Krankenkasse La Jurassienne und deren Fusion mit der KFW (31. Dezember 1982) zu erleichterten Bedingungen in eine andere Kasse überzutreten, nicht Gebrauch machen können. Damit steht fest, dass die Beschwerdeführerin wegen der Verletzung der gesetzlichen Aufklärungspflicht durch die Krankenkasse La Jurassienne bzw. durch die sie übernehmende KFW den Freizügigkeitsanspruch verlor, wie er in Art. 9 KUVG umschrieben ist. Die herzkranke Beschwerdeführerin büsste somit insbesondere das Recht ein, ohne Versicherungsvorbehalt zu einer andern Krankenkasse ziehen zu können (Art. 9 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3 KUVG). Bezüglich der Mitgliederbeiträge kann sie sich sodann zufolge Verlusts des Zügerrechtes nicht mehr auf Art. 9 Abs. 3 KUVG berufen. Fehlt dem Begehren auf Übernahme der Prämiendifferenzen somit die gesetzliche Grundlage, ist zu prüfen, ob der Anspruch sich auf Treu und Glauben stützen lässt.
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2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn der Bürger die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte;
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3. wenn der Bürger die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte;
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4. wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können;
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5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunfterteilung keine Änderung erfahren hat (BGE 110 V 155 Erw. 4b mit Hinweis).
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b) In sinngemässer Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Tatbestand einer - entgegen gesetzlicher Verpflichtung (Erw. 2a) - nicht erteilten Auskunft ergibt sich, dass die fünf Voraussetzungen erfüllt sind: Die KFW, welche sich das Verhalten der aufgelösten und mit ihr fusionierten Krankenkasse La Jurassienne anrechnen lassen muss, hat die Beschwerdeführerin entgegen der klaren gesetzlichen Verpflichtung nicht rechtzeitig über den Freizügigkeitsgrund und die daraus sich ergebenden Ansprüche orientiert (Ziff. 1 und 2). Sodann konnte die Beschwerdeführerin im massgeblichen Zeitraum den Freizügigkeitsgrund und die damit verbundenen Rechte nicht erkennen, weil sie aufgrund des Zirkularschreibens vom 5. Januar 1983 - für welches noch die Krankenkasse La Jurassienne verantwortlich zeichnete - auf eine Fortsetzung des Kollektivversicherungsvertrages mit der KFW vertrauen durfte (Ziff. 3). Ferner steht nach der Aktenlage fest und wird von der KFW nicht bestritten, dass die Beschwerdeführerin bei rechtzeitiger Ausübung des Zügerrechts in die Christlichsoziale Kranken- und Unfallkasse der Schweiz (CKUS) hätte eintreten können, wo ihr während längerer Zeit eine erheblich tiefere Prämienbelastung entstanden wäre (ab 1. Juli 1983 Fr. 155.60; ab 1. Januar 1984 Fr. 178.40; ab 1. Juli 1984 Fr. 200.40). Unter diesen Umständen hätte die Beschwerdeführerin wahrscheinlich bei rechtzeitiger Aufklärung von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht, weil ihr andernfalls wegen ihres Herzleidens bei der Bewerbung um Aufnahme in eine andere Krankenkasse ein Versicherungsvorbehalt drohte (Art. 5 Abs. 3 KUVG) und weil sie die erheblich höheren Prämien in der Einzelversicherung bei der KFW nicht akzeptiert hätte, wenn ihr das Zügerrecht offengestanden wäre (Ziff. 4). Die letzte Voraussetzung (Ziff. 5) ist ebenfalls erfüllt.
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b) Im Schreiben vom 26. Juli 1983 erläuterte die KFW gegenüber dem Ehemann der Beschwerdeführerin die Höhe der für die Einzelversicherten geltenden Prämien. Die Kasse führte dort unter Bezugnahme auf den Fusionsvertrag aus, die bei ihr nun einzelversicherten Mitglieder der ehemaligen Krankenkasse La Jurassienne müssten "als geschlossene Prämieneinheit" behandelt werden; die "Prämienpolitik" sei in der Weise zu betreiben, "dass voraussichtlich keine oder nur geringe Reservemittel von den bisherigen KFW-Versicherten aufgebracht werden müssen"; vor diesem Hintergrund sei es nicht zu verantworten, Versicherte aus Kassen, die mangels Aktiven zur Fusion gezwungen worden seien, "uneingeschränkt vom Vermögen des alten versicherten Bestandes profitieren zu lassen"; korrekt sei, "eine Sanierung soweit als möglich in jenem Bestand vorzunehmen, der auch jahrelang durch sachlich unbegründet tiefe Prämien profitiert" habe. Die Beschwerdeführerin bezahlte dementsprechend in der Folge höhere Prämien als die andern bei der KFW zu den gleichen Leistungen Versicherten. Erst im Dezember 1984 informierte die KFW die ehemals bei der Krankenkasse La Jurassienne versicherten und nun der gleichnamigen KFW-Agentur angeschlossenen Mitglieder, sie werde nach zwei Übergangsjahren ("après deux années de transition") den normalen Tarif der KFW ("le tarif normal de la KFW") anwenden, was im Falle der Beschwerdeführerin eine Ermässigung der Monatsprämie von Fr. 253.90 auf Fr. 219.80 zur Folge hatte. Von einer Gleichbehandlung der Beschwerdeführerin mit den andern Kassenmitgliedern, wie das kantonale Gericht meint, kann bei dieser Sachlage von vornherein nicht die Rede sein.
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c) Im weitern trifft es zwar zu, dass das Eidg. Versicherungsgericht den Voraussetzungen, unter denen die Berufung auf den Vertrauensschutz begründet ist (BGE 110 V 155 Erw. 4b), beigefügt hat, dass keine unmittelbar und zwingend aus dem Gesetz sich ergebende Sonderregelung vorliegen darf, vor welcher das Vertrauensprinzip ![]() | 18 |
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Gemäss Art. 9 Abs. 3 KUVG haben Züger höchstens diejenigen Mitgliederbeiträge zu bezahlen, welche die Kasse von Neueintretenden des gleichen Alters erhebt (Satz 1); für Züger, welche das Höchsteintrittsalter der übernehmenden Kasse überschritten haben, ist bei der Festsetzung der Mitgliederbeiträge das dem Höchsteintrittsalter folgende Altersjahr massgebend (Satz 2). Unter Hinweis auf diese Bestimmung wendet das BSV ein, kein Mitglied einer Kasse habe einen Rechtsanspruch auf unveränderte Mitgliederbeiträge bzw. auf gleich hohe Mitgliederbeiträge bei einem Kassenwechsel. Diese Auffassung trifft zwar an sich zu und bedeutet im vorliegenden Fall, dass die Beschwerdeführerin, wenn sie von ihrem Zügerrecht fristgemäss Gebrauch gemacht hätte, von der andern Krankenkasse nicht hätte beanspruchen können, weiterhin nur Beiträge in der Höhe der bei der aufgelösten Krankenkasse La Jurassienne bezahlten (Fr. 87.70 monatlich) zu entrichten. Das BSV übersieht jedoch, dass die Beschwerdeführerin bei Ausübung des Zügerrechts von der neuen Krankenkasse hätte verlangen können, höchstens diejenigen Mitgliederbeiträge zu bezahlen, welche diese Kasse von Neueintretenden des gleichen Alters erhebt. Diesen gesetzlichen Anspruch als Zügerin hat die Beschwerdeführerin, wie erwähnt, zufolge der nicht rechtzeitigen Aufklärung durch die KFW eingebüsst. Der Verlust des Zügerrechts in bezug auf die Mitgliederbeiträge wird, entgegen der Auffassung des BSV, nicht dadurch ausgeglichen, dass die KFW der anderen Pflicht nachkam, die Weiterversicherung der Beschwerdeführerin durch Gewährung der bisherigen Leistungen gemäss dem dahingefallenen Kollektivversicherungsvertrag im Rahmen einer Einzelmitgliedschaft sicherzustellen. Eine Krankenkasse, welche bei Eintritt eines Freizügigkeitsgrundes ihrer gesetzlichen Aufklärungspflicht mit der Wirkung nicht nachkommt, dass der Versicherte seine Freizügigkeitsrechte verliert, hat nicht nur hinsichtlich der Leistungen im bisherigen Umfang einzustehen, sondern auch in bezug auf die Prämienbelastung jenen gesetzlichen Anforderungen zu genügen, welche eine andere Krankenkasse kraft des Gesetzes (Art. 9 Abs. 3 KUVG) bei Ausübung des Zügerrechts hätte beachten müssen. Bei dieser Rechtslage kann von einer gesetzlichen Sonderregelung, welche die Berufung auf den Vertrauensschutz im Sinne der Rechtsprechung ausschliesst, nicht gesprochen werden.
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Die Beschwerdeführerin ist mit ihrem Antrag insoweit durchgedrungen, als sie die grundsätzliche Verpflichtung der KFW zur Prämienvergütung erreicht hat (Erw. 4). In masslicher Hinsicht hat die Versicherte dagegen nur teilweise obsiegt (Erw. 5). Daher rechtfertigt es sich, die Gerichtskosten zu drei Vierteln der KFW und zu einem Viertel der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 135 OG).
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I. In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 20. November 1984 und die Kassenverfügung vom 21. Mai 1984 aufgehoben, und es wird die Krankenfürsorge Winterthur verpflichtet, der Beschwerdeführerin den Betrag von Fr. 1'301.40 zu bezahlen.
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