BGE 112 V 164 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
29. Auszug aus dem Urteil vom 24. Juli 1986 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen T. und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich | |
Regeste |
Ziff. 3 des Schlussprotokolls zum Abkommen zwischen der Schweiz und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 1. Mai 1969. | |
Sachverhalt | |
A.- Der 1978 geborene türkische Staatsangehörige T. leidet an Epilepsie und an geistiger Behinderung, welche zunächst mit einer gewissen Ängstlichkeit sowie mit erzieherischen Problemen erklärt wurden. Im Juni 1982 reiste er mit seinen Eltern in die Schweiz ein. In der Folge wurde er zu Pflegeeltern im Kanton Zürich verbracht, wo er seither ununterbrochen lebt. Nachdem seine leiblichen Eltern im Januar 1983 aus der Schweiz ausgewiesen worden waren, bestellte die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich dem Kind einen Beistand. Am 26. September 1984 teilte die Fremdenpolizei des Kantons Zürich dem Beistand mit, es werde ein dauernder Pflegeaufenthalt in der Schweiz bewilligt, sobald u.a. eine Vormundschaft errichtet sei. Daraufhin wurde das Verfahren zum Entzug der elterlichen Gewalt eingeleitet und die Aufenthaltsbewilligung bis 18. Dezember 1986 verlängert.
| 1 |
Am 17. August 1984 war T. von seinem Beistand bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet worden. Entsprechend einem Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Zürich das Begehren ab, da die versicherungsmässigen Voraussetzungen in bezug auf den schweizerischen Wohnsitz gemäss dem schweizerisch-türkischen Abkommen über Soziale Sicherheit vom 1. Mai 1969 nicht erfüllt seien (Verfügung vom 8. November 1984).
| 2 |
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich mit Entscheid vom 30. Oktober 1985 teilweise gut, hob die angefochtene Verfügung vom 8. November 1984 auf und wies die Akten zur materiellen Beurteilung des Leistungsbegehrens an die Verwaltung zurück.
| 3 |
C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung vom 8. November 1984 wiederherzustellen.
| 4 |
Der Beistand des T. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Die Ausgleichskasse verweist auf die Vernehmlassung der Invalidenversicherungs-Kommission, welche die Gutheissung der Beschwerde beantragt.
| 5 |
Aus den Erwägungen: | |
6 | |
a) Im Lichte der von der Rechtsprechung entwickelten Auslegungsgrundsätze (BGE 111 V 119 Erw. 1b) ist zu prüfen, welche Bedeutung der Wendung "sich gewöhnlich aufhalten" gemäss Ziff. 3 des Schlussprotokolls zum erwähnten Abkommen zukommt. Den nämlichen Terminus "sich gewöhnlich aufhalten" kennt auch das Abkommen zwischen der Schweiz und Spanien über Soziale Sicherheit vom 13. Oktober 1969 in Ziff. 2 des Schlussprotokolls. Eine übereinstimmende Formulierung findet schliesslich auch im internationalen Privatrecht Verwendung, indem der "Wohnsitz" zunehmend durch den Begriff der "résidence habituelle" bzw. des "gewöhnlichen Aufenthaltes" ersetzt wird, welcher einen Aufenthalt von einer gewissen Dauer am Ort voraussetzt, wo sich der "Schwerpunkt der Lebensverhältnisse" befindet (VISCHER, Internationales Privatrecht, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. I, S. 544 f.; STEIN, Das internationale Sozialversicherungsrecht der Schweiz mit Einschluss seiner Beziehungen zum Haftpflichtrecht, SZS 1971, S. 21 f.; BUCHER, N 52 und 94 zu Vorbemerkungen vor Art. 22-26 ZGB; SCHNITZER, Handbuch des internationalen Privatrechts, Bd. I, S. 127 f.; vgl. auch BGE 110 II 121 f., BGE 94 I 243, BGE 89 I 314). - Das Eidg. Versicherungsgericht hat sich bisher zum Begriff des "gewöhnlichen Aufenthaltes" nicht ausdrücklich ausgesprochen. Es hat lediglich im Zusammenhang mit der Gewährung ausserordentlicher Renten der AHV und der Invalidenversicherung sowie von Ergänzungsleistungen festgestellt, dass unter anderem neben dem zivilrechtlichen Wohnsitz auch der effektive Aufenthalt in der Schweiz und der Wille, diesen Aufenthalt aufrechtzuerhalten, massgebend sind, und zusätzlich dazu den "Schwerpunkt aller Beziehungen in der Schweiz" als erforderlich bezeichnet (BGE 111 V 182 Erw. 4a, BGE 110 V 172 Erw. 2b und 173 Erw. 3b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 110 V 283, BGE 108 V 77, BGE 105 V 168 mit Hinweisen).
| 7 |
b) Bei der Auslegung der genannten Bestimmungen ist von Bedeutung, dass im Vertragstext - anders als z.B. im Abkommen zwischen der Schweiz und Italien über Soziale Sicherheit vom 14. Dezember 1962 in Ziff. 9 des Schlussprotokolls - nicht von "Wohnsitz" im Sinne des Schweizerischen Zivilgesetzbuches die Rede ist. Da der Wortlaut des Sozialversicherungsabkommens mit der Türkei - auch in dem gemäss Ziff. 16 lit. b in fine des Schlussprotokolls nebst dem türkischen in gleicher Weise verbindlichen französischen Originaltext - nicht der Klarheit entbehrt, kann insoweit der zivilrechtliche Wohnsitz nach schweizerischem Recht nicht massgebend sein (BBl 1969 II 1433unten), weshalb insbesondere auch die gesetzlichen Wohnsitzfiktionen nach Art. 25 Abs. 1 ZGB ausser Betracht fallen (vgl. dazu BGE 106 V 162 f. mit Hinweisen). Anderseits wird im Vertragstext der Begriff "Aufenthalt" ebenfalls nicht verwendet, so dass der fraglichen Bestimmung auch der schweizerische Aufenthaltsbegriff im Sinne des unter Umständen bloss vorübergehenden Verweilens (Art. 24 Abs. 2 und Art. 26 ZGB) nicht zugrunde gelegt werden kann (vgl. in diesem Zusammenhang auch ZAK 1965 S. 304). Der fraglichen Wendung ist deshalb unter Weiterführung der in Erw. 1a hievor dargelegten Grundsätze jene Bedeutung beizumessen, wie sie sich im wesentlichen aus dem internationalen Privatrecht und der damit - unter Vorbehalt des zivilrechtlichen Wohnsitzes - grundsätzlich übereinstimmenden Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts über die ausserordentlichen Renten ergibt. Demnach ist für den "gewöhnlichen Aufenthalt" der effektive Aufenthalt in der Schweiz und der Wille, diesen während einer gewissen Dauer aufrechtzuerhalten, massgebend; zusätzlich dazu muss sich der Schwerpunkt aller Beziehungen in der Schweiz befinden.
| 8 |
9 | |
a) Das BSV vertritt in seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Auffassung, das "Wohnen" des Beschwerdegegners sei im vorliegenden Fall "bestimmt kein gewöhnlicher Aufenthalt". Die von der Fremdenpolizei des Kantons Zürich ausgestellte Aufenthaltsbewilligung zeige nämlich, dass für den Knaben nur ein vorübergehender Aufenthalt vorgesehen gewesen sei. Die entsprechende Bewilligung datiere vom 26. Juli 1984 und sei lediglich bis zum 18. Dezember 1984 gültig. Es sei daher ungewiss, ob das Pflegeverhältnis verlängert werde, zumal sich die leiblichen Eltern auch wieder melden könnten.
| 10 |
b) Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Wie die Vorinstanz mit Recht festhält, sind die Eltern des Beschwerdegegners bereits im Januar 1983 aus der Schweiz ausgewiesen worden und haben sich seither nicht mehr ernstlich um das Kind gekümmert. Schon vor ihrer Ausweisung erklärten sie am 6./7. Januar 1983 gegenüber der Vormundschaftsbehörde ausdrücklich, das Kind könne bei den Pflegeeltern "so lange in Pflege bleiben, als diese es wünschen". Die daraufhin von der Fremdenpolizei am 26. Juli 1984 erteilte Aufenthaltsbewilligung trug zwar den Vermerk "Vorübergehender Pflegeaufenthalt" und war nur bis zum 18. Dezember 1984 gültig. Das ist jedoch für die Belange des vorliegenden Falles insofern unerheblich, als eine Aufenthaltsbewilligung normalerweise ohnehin stets befristet ist und die Behörden der Fremdenpolizei dem Ausländer, auch wenn er voraussichtlich dauernd im Lande bleibt, zunächst in der Regel nur (befristeten) Aufenthalt zu bewilligen haben (Art. 5 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 ANAG).
| 11 |
Die Aufenthaltsbewilligung des Beschwerdegegners wurde von der Fremdenpolizei des Kantons Zürich denn auch wiederholt verlängert und letztmals mit Wirkung bis 18. Dezember 1986 erteilt. Aufgrund dieser fortlaufend verlängerten Bewilligung hält sich der Beschwerdegegner - wie die Invalidenversicherungs-Kommission bereits am 1. Oktober 1984 bemerkte - tatsächlich und rechtmässig am Wohnsitz seiner Pflegeeltern auf, wo sich anscheinend auch seine Schwester befindet. Zudem wurde dort - nach der im Februar 1983 erfolgten Ernennung eines Beistandes - auch das Verfahren zum Entzug der elterlichen Gewalt sowie zur Bestellung eines Vormundes eingeleitet, welches zur Zeit noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Bei diesen Gegebenheiten liegt nach den zutreffenden Ausführungen der Vorinstanz ein Sachverhalt vor, der zur Annahme des Schwerpunktes aller Beziehungen des Beschwerdegegners in der Schweiz führt. Da dem Kinde im Rahmen seiner intellektuellen Fähigkeiten auch der Wille zur Aufrechterhaltung des weiter dauernden Aufenthalts bei seinen Pflegeeltern nicht abgesprochen werden kann, sind die in Erw. 1b in fine erwähnten Voraussetzungen für den gewöhnlichen Aufenthalt des Beschwerdegegners in der Schweiz erfüllt. Daran ändert auch der vom BSV unter Bezugnahme auf die vorinstanzliche Vernehmlassung der Invalidenversicherungs-Kommission erhobene Einwand nichts, der Beschwerdegegner sei nur wegen der hier bestehenden und in seiner Heimat offenbar fehlenden Möglichkeiten zu seiner Pflege und Betreuung in die Schweiz verbracht worden; hiefür fehlen jegliche Anhaltspunkte in den Akten.
| 12 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |