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18. Urteil vom 12. Juli 1988 i.S. Ausgleichskasse des schweizerischen Gewerbes gegen B. und Versicherungsgericht des Kantons Aargau | |
Regeste |
Art. 85 Abs. 2 AHVG, Art. 81 Abs. 3 AHVV: Anforderungen an das Klageverfahren. Die Anforderungen, welche der Bundesgesetzgeber für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren aufgestellt hat, gelten im erstinstanzlichen Klageverfahren sinngemäss (Erw. 3). | |
Sachverhalt | |
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Mit Entscheid vom 31. März 1987 wies das Versicherungsgericht die Klage gegen Peter B. ab und verpflichtete die Ausgleichskasse, ihm "die richterlich festzusetzenden Parteikosten zu ersetzen".
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Nachdem der Entscheid in Rechtskraft erwachsen war, reichte Rechtsanwalt Dr. R. als Vertreter des Peter B. dem Versicherungsgericht eine Kostennote über den Betrag von Fr. 9'300.-- ein. Diese stützte sich auf den aargauischen Anwaltstarif und umfasste u.a. einen "Streitwertzuschlag" von Fr. 7'750.--. Das Versicherungsgericht setzte die Parteientschädigung zu Lasten der Ausgleichskasse auf Fr. 9'300.-- fest (Beschluss vom 8. Juli 1987).
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Rechtsanwalt Dr. R. trägt für Peter B. auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.
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Das Bundesamt für Sozialversicherung stellt den Antrag auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde...
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
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Für die Deckung von Schäden, die von einem Arbeitgeber im Sinne von Art. 52 AHVG vorsätzlich oder grobfahrlässig verursacht worden sind, bestimmt Art. 81 Abs. 3 AHVV, dass die Ausgleichskasse bei der Rekursbehörde des Kantons, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat, schriftlich Klage einreichen muss, wenn sie nach Erhebung des Einspruchs des Arbeitgebers (Art. 81 Abs. 2 AHVV) auf ihrer Schadenersatzforderung beharrt. Absatz 3 verpflichtet ferner die Kantone, das Klageverfahren vor der Rekursbehörde im Rahmen der Bestimmungen zu regeln, "die sie gemäss Artikel 85 AHVG zu erlassen haben". Das bedeutet, dass die Anforderungen, welche der Bundesgesetzgeber in Art. 85 Abs. 2 AHVG für das Beschwerdeverfahren aufgestellt hat, im kantonalen Klageverfahren sinngemäss gelten.
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4. a) Gemäss Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG hat der obsiegende Beschwerdeführer Anspruch auf Ersatz der Kosten der Prozessführung und Vertretung vor der kantonalen Rekursbehörde nach gerichtlicher Festsetzung. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Parteientschädigung besteht, beurteilt sich somit nach Bundesrecht. Dieses enthält jedoch im AHV-Bereich - so wie in den meisten andern Sozialversicherungszweigen - keine Bestimmung über die Bemessung der Parteientschädigung und insbesondere keinen Tarif. Die Regelung dieser Frage ist dem kantonalen Recht überlassen. Mit diesem hat sich das Eidg. Versicherungsgericht grundsätzlich nicht zu befassen (Art. 128 OG in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG und Art. 5 Abs. 1 VwVG). Dieses darf die Höhe einer Parteientschädigung nur daraufhin überprüfen, ob die Anwendung der für ihre Bemessung einschlägigen kantonalen Bestimmungen zu einer Verletzung von Bundesrecht geführt hat (Art. 104 lit. a OG). Das Eidg. Versicherungsgericht hat befunden, dass in diesem Bereich "praktisch" nur das Willkürverbot des Art. 4 Abs. 1 BV in Betracht fällt (BGE 112 V 112, BGE 111 V 49 Erw. 3, BGE 110 V 58 Erw. 3a, 133 Erw. 3 und 363 Erw. 1b; ZAK 1985 S. 533 Erw. 3; vgl. auch BGE 104 Ia 13). Nach der Rechtsprechung ist eine Entschädigung dann willkürlich, wenn ![]() | 11 |
b) Praxisgemäss ist dem erstinstanzlichen Richter bei der Bemessung der Parteientschädigung ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen (BGE 111 V 49 Erw. 4a und BGE 110 V 365 Erw. 3c). Ermessensmissbrauch liegt vor, wenn die Behörde zwar im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens bleibt, sich aber von unsachlichen, dem Zweck der massgebenden Vorschriften fremden Erwägungen leiten lässt oder allgemeine Rechtsprinzipien, wie das Verbot von Willkür oder von rechtsungleicher Behandlung, das Gebot von Treu und Glauben sowie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt (BGE 110 V 365 Erw. 3b, BGE 108 Ib 205 Erw. 4a und BGE 98 V 131 Erw. 2; IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Bd. I, S. 417).
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Im Rahmen seines Ermessens hat der erstinstanzliche Richter für die Bestimmung der Höhe des Anwaltshonorars die Wichtigkeit und Schwierigkeit der Streitsache, den Umfang der Arbeitsleistung und den Zeitaufwand des Anwalts zu berücksichtigen (vgl. Art. 2 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht vom 26. Januar 1979 und GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II, S. 848 f.). Die Wichtigkeit der Streitsache entscheidet sich nicht nach dem frankenmässigen Streitwert im zivilprozessualen Sinne (BGE 110 V 365 Erw. 3c). Indessen darf das wirtschaftliche Interesse an der Streitsache mit berücksichtigt werden (BGE 98 V 126 Erw. 4c). Bei der Beurteilung des Arbeits- und Zeitaufwandes darf der Sozialversicherungsrichter auch beachten, dass der Sozialversicherungsprozess im Unterschied zum Zivilprozess von der Untersuchungsmaxime beherrscht wird, wodurch in zahlreichen Fällen die Tätigkeit des Anwalts erleichtert wird (BGE 111 V 49 Erw. 4a und BGE 110 V 365 Erw. 3c). Dessen Tätigkeit soll nur insoweit berücksichtigt werden, als sich der Anwalt bei der Erfüllung seiner Aufgabe in einem vernünftigen Rahmen hält, unter Ausschluss nutzloser oder sonstwie überflüssiger Schritte. Im weiteren fallen Bemühungen, welche der Anwalt vor der Einleitung des Prozesses unternommen hat, bei der gerichtlichen Festsetzung seines Honorars ausser Betracht ![]() | 13 |
c) Diese Grundsätze hat das Eidg. Versicherungsgericht in den in ZAK 1986 S. 130 und S. 133 publizierten Urteilen erneut bestätigt. Daran ist auch heute festzuhalten. Der vorliegende Fall veranlasst indessen das Gericht, diese Praxis zu verdeutlichen: Eines der Kriterien für die Bemessung des Anwaltshonorars ist - wie gesagt - nebst der Schwierigkeit des Falles, des Umfanges der Arbeitsleistung und des Zeitaufwandes die "Wichtigkeit der Streitsache". Wann eine Streitsache wichtig ist, lässt sich nicht ein für allemal festlegen, sondern bestimmt sich nach den Gegebenheiten des konkreten Falles. Zu diesen Gegebenheiten kann auch die materielle Bedeutung des vom Rechtsuchenden angestrebten Prozessausganges gehören. Das ist aber nur eines neben andern Kriterien, nach denen sich die Wichtigkeit einer Streitsache beurteilt. Diese lässt sich daher nicht massgebend durch den Streitwert bestimmen, wie er für die Festsetzung der Parteientschädigung im Zivilprozess weitgehend entscheidend ist. Deshalb darf der Streitwert im Sozialversicherungsprozess unter dem Gesichtspunkt der Wichtigkeit der Sache für die Festsetzung der Parteientschädigung lediglich mit berücksichtigt werden; ausschlaggebend ist er jedoch nicht. Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Verfahrensgrundsatz des Sozialversicherungsrechts, der in allen erstinstanzlichen Sozialversicherungsprozessen, für welche das Bundesrecht der obsiegenden Partei einen Anspruch auf Parteientschädigung einräumt, zu gelten hat. Der Anwendungsbereich dieses allgemeinen Grundsatzes findet dort eine Grenze, wo der Bundesgesetzgeber - vom gleichen Grundgedanken ausgehend - eine besondere, allenfalls weitergehende Vorschrift aufgestellt hat. Dies trifft auf Art. 108 Abs. 1 lit. g zweiter Satz UVG zu, wonach die Parteikosten "ohne Rücksicht auf den Streitwert" bemessen werden (vgl. BBl 1976 III 226).
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5. Es steht fest und wird von der Ausgleichskasse nicht bestritten, dass die Parteientschädigung von Fr. 9'300.-- gestützt auf § 9 des aargauischen Anwaltstarifs vom 10. März 1949 zugesprochen worden ist. Von der gesamten Entschädigung entfällt ein Betrag von Fr. 620.-- auf die in § 9 für Streitsachen mit einem Streitwert bis zu Fr. 2'000.-- vorgesehenen Positionen für Aktenstudium, ![]() | 15 |
Für Streitsachen mit einem Streitwert von über Fr. 2'000.-- sieht § 11 des Anwaltstarifs einen variablen Zuschlag zu dem gemäss § 9 festgesetzten Honorar vor, der unmittelbar von der Höhe des frankenmässigen Streitwertes abhängig ist und bei einem die Summe von Fr. 150'000.-- übersteigenden Streitwert 500% beträgt, was im vorliegenden Fall, in dem sich der Streitwert auf Fr. 304'770.-- beläuft, einen Zuschlag von Fr. 7'750.-- ergibt. Auf diese Weise errechnete die Vorinstanz die Parteientschädigung von total Fr. 9'300.--. Damit hat das Versicherungsgericht einerseits in willkürfreier Weise von den massgeblichen kantonalen Rechtsgrundlagen Gebrauch gemacht. Daraus erhellt aber anderseits, dass der kantonale Richter bei der Bemessung der Parteientschädigung durch die Anwendung des aargauischen Anwaltstarifs entscheidend auf die Höhe des Streitwertes im zivilprozessualen Sinne abgestellt hat. Dieses Vorgehen steht mit dem in Erwägung 4c dargelegten allgemeinen Verfahrensgrundsatz des Bundessozialversicherungsrechts nicht im Einklang. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben, und die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Parteientschädigung im Sinne der Erwägungen neu festsetze. Sie darf dabei - im Rahmen des Kriteriums der Wichtigkeit der Streitsache - und bei gebührender Würdigung auch der weiteren massgeblichen Gesichtspunkte (Schwierigkeit, Arbeitsaufwand usw.) berücksichtigen, dass der Ausgang eines Schadenersatzprozesses über eine Forderung von rund 300'000 Franken für die Parteien von bedeutendem wirtschaftlichem Interesse ist.
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