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46. Auszug aus dem Urteil vom 29. Dezember 1988 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen B. und Versicherungsgericht des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 65 ff. IVV: Unentgeltliche Verbeiständung im IV-Abklärungsverfahren. | |
Sachverhalt | |
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B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 16. Juni 1987 gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Ausgleichskasse an, Velimir B. für das Administrativverfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides.
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Velimir B. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.
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D.- Das Bundesgericht und das Eidg. Versicherungsgericht führten zu den verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einen Meinungsaustausch durch.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat in BGE 103 V 46 seine frühere Rechtsprechung (BGE 98 V 116 Erw. 2; EVGE 1962 S. 163) bestätigt, wonach der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Beschwerdeverfahren in allen Zweigen der bundesrechtlichen Sozialversicherung unter gleichen Voraussetzungen besteht. Der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung ist nach dieser Rechtsprechung im kantonalen Beschwerdeverfahren somit auch dort gewährleistet, wo weder das kantonale ![]() | 7 |
Anderseits hat die Rechtsprechung gemäss BGE 98 V 116 Erw. 2 und BGE 103 V 46 den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im kantonalen Beschwerdeverfahren nicht etwa aus Art. 4 BV abgeleitet, sondern - nebst Art. 65 Abs. 2 VwVG - aus der Existenz zahlreicher Bestimmungen in den Bundessozialversicherungserlassen, welche eine unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Rechtsmittelverfahren vorsehen (Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG in Verbindung mit Art. 69 IVG, Art. 7 Abs. 2 ELG, Art. 22 Abs. 3 FLG und Art. 24 EOG; Art. 56 Abs. 1 lit. d MVG; Art. 30bis Abs. 3 lit. f KUVG; Art. 108 Abs. 1 lit. f UVG). Weil es für die verschiedenen sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren im Sinne der nichtstreitigen Verfahren bis zum Erlass der Verfügung durch den Sozialversicherungsträger an entsprechenden Vorschriften fehlt, kommt eine Anerkennung des Anspruches auf unentgeltliche Verbeiständung von vornherein nur gestützt auf Art. 4 BV in Frage. Es kann folglich nicht darum gehen, die Rechtsprechung gemäss BGE 103 V 46, welche den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Beschwerdeverfahren gleichsam als Ausdruck eines spezifisch sozialversicherungsrechtlichen Grundsatzes betrachtet, weiterzuführen, weil eben der einzig mögliche Ansatzpunkt ein spezifisch verfassungsrechtlicher (Art. 4 BV) ist.
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Das Eidg. Versicherungsgericht hat es schliesslich in ständiger Rechtsprechung abgelehnt, auf dem Wege der Rechtsprechung einen von Bundesrechts wegen bestehenden Parteientschädigungsanspruch für das kantonale Beschwerdeverfahren dort einzuführen, ![]() | 9 |
4. a) In jüngster Zeit hat das Bundesgericht aus Art. 4 BV einen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nicht nur für den Zivil- und Strafprozess (vgl. BGE 112 Ia 15 Erw. 3a mit Hinweisen), sondern auch für das verwaltungsgerichtliche Verfahren abgeleitet (Urteil der II. Öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. März 1985, auszugsweise publiziert in ZBl 86/1985, S. 412-414, und EuGRZ 1985, S. 485 ff., bestätigt in BGE 111 Ia 276). In BGE 111 Ia 5 hat es die Frage aufgeworfen, ob sich unmittelbar aus Art. 4 BV ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im kantonalen Verwaltungsverfahren ableiten lasse, einen solchen Anspruch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes vor einem Bezirksamt des Kantons Aargau indessen verneint, da dessen Entscheid (betreffend den Entzug der elterlichen Gewalt) an das Obergericht weitergezogen werden konnte, welches mit voller Prüfungsbefugnis entscheidet und vor welchem Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung besteht. Einen Schritt weiter ging es in BGE 112 Ia 14, wo es feststellte, es sei "ein unmittelbar aus Art. 4 BV fliessender Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsgerichtsverfahren anzuerkennen", wie er in jüngerer Zeit auch von der Lehre befürwortet werde. Dieser Anspruch befreie ganz oder teilweise von der Bezahlung der Verfahrenskosten und damit auch eines Kostenvorschusses, jedoch nicht von der Entrichtung einer allfälligen Entschädigung an die obsiegende Gegenpartei für ihre Umtriebe. Wo dies zur Wahrung der Interessen des unbemittelten Bürgers erforderlich sei, ergebe sich aus Art. 4 BV zudem ein Anspruch auf die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsgerichtsverfahren. Ausser der Bedürftigkeit der um unentgeltliche Rechtspflege ersuchenden Partei sei Voraussetzung, dass das Rechtsbegehren nicht zum vornherein aussichtslos erscheine und die verlangten Prozesshandlungen ![]() | 10 |
b) Aus der erwähnten Rechtsprechung und insbesondere dem grundlegenden BGE BGE 112 Ia 14 schliesst das Eidg. Versicherungsgericht, dass der aus Art. 4 BV fliessende Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege auf das streitige Verwaltungsbeschwerde- und Verwaltungsgerichtsverfahren ausgedehnt wurde, ohne gleichzeitig einen entsprechenden Anspruch für das vorausgehende nichtstreitige Verwaltungsverfahren, das mit dem Erlass der anfechtbaren Verfügung abgeschlossen wird, zu verneinen oder zu bejahen. Das Bundesgericht hat diese Auffassung in dem nach Art. 16 OG in Verbindung mit Art. 127 Abs. 2 und 4 OG durchgeführten Meinungsaustauschverfahren bestätigt. In der Lehre wird ebenfalls angenommen, dass mit BGE 112 Ia 14 die unentgeltliche Rechtspflege nicht auch auf das nichtstreitige Verwaltungsverfahren ausgedehnt werden wollte (J.P. MÜLLER, Ausbau sozialer Gerechtigkeit im Prozess, in: recht 1986, S. 100; G. MÜLLER, Kommentar BV, Art. 4, S. 53, Fn. 316 in fine). Eine solche Ausdehnung auf das nichtstreitige Verwaltungsverfahren wird von einem Teil der Lehre nicht für erforderlich gehalten (vgl. - allerdings vor Erscheinen des BGE BGE 112 Ia 14 - HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 181), von anderen Stimmen der Doktrin aber doch als konsequente Weiterführung der bisherigen Rechtsprechung ernsthaft erwogen (KNAPP, Précis de droit administratif, 3. Aufl., 1988, S. 129 f., Nrn. 716 und 721; J.P. MÜLLER, a.a.O., S. 100 vor Ziff. 6).
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c) Das kantonale Gericht meint, aus der neuesten bundesgerichtlichen Rechtsprechung gehe nicht klar hervor, ob sich der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege auf das gesamte Verwaltungsverfahren oder nur auf das Verwaltungsbeschwerdeverfahren beziehe. Indessen sei nicht einzusehen, weshalb sich der grundrechtlich geschützte Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nur gerade auf das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren, nicht aber auf das gesamte Verwaltungsverfahren beziehen solle. Denn die vom Bundesgericht angeführten Gründe, welche für die Ausdehnung des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege im Bereiche ![]() | 12 |
d) Gegen die vom kantonalen Gericht auf das gesamte Verwaltungsverfahren vorgenommene Ausdehnung des aus Art. 4 BV fliessenden Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege wendet das BSV im wesentlichen ein, im IV-Verwaltungsverfahren fehle es an einer dem Prozessrisiko mit Obsiegen und Unterliegen vergleichbaren Situation und damit grundsätzlich am Bedürfnis nach unentgeltlicher Verbeiständung; es gebe keinen Streit im eigentlichen Sinne und keinen Richter, der ihn entscheide; der Versicherte könne eine ihm nicht genehme Verfügung in zweifachem ![]() | 13 |
5. a) Bei der Entscheidung der im Streite liegenden Frage ist von der Natur des IV-rechtlichen Verwaltungsverfahrens auszugehen. Dieses dient der Abklärung der für die verschiedenen Leistungen (Eingliederungsmassnahmen, Renten usw.) massgeblichen persönlichen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Leistungsansprechers (vgl. hiezu die Art. 65 ff. IVV und das Kreisschreiben des BSV über das Verfahren in der Invalidenversicherung, gültig ab 1. Juli 1987). Es beginnt mit der Einreichung des Leistungsgesuches an die zuständige Invalidenversicherungs-Kommission, welche die Leitung des Verwaltungsverfahrens innehat. Die Invalidenversicherungs-Kommission ist zur Objektivität und Neutralität verpflichtet. Der Untersuchungsgrundsatz und die Rechtsanwendung von Amtes wegen gelten integral, allerdings ergänzt durch die verschiedenen Mitwirkungspflichten des Leistungsansprechers. Betrachtet die Invalidenversicherungs-Kommission die Abklärungen als genügend, fasst sie über die in Betracht ![]() | 14 |
b) Die Erwägungen, welche zur Anerkennung eines Anspruches auf unentgeltliche Rechtspflege im streitigen verwaltungsinternen Beschwerdeverfahren geführt haben (vgl. besonders BGE 112 Ia 16 Erw. 3b), sprechen für die Gewährleistung eines in engen sachlichen und zeitlichen Grenzen gehaltenen Anspruches auf unentgeltliche Verbeiständung im IV-rechtlichen Verwaltungsverfahren. Denn es sind auch hier heikle Rechts- oder Abklärungsfragen oder schwierige Verfahrenssituationen denkbar, wo es erforderlich sein kann, dass der unbemittelte Versicherte gegenüber der Verwaltung durch einen Anwalt verbeiständet ist. Die unentgeltliche Verbeiständung kann mithin verfassungsrechtlich geboten und darüber hinaus - im Hinblick auf die vermittelnde Funktion des Anwaltes zwischen Versichertem und Versicherung - für eine korrekte Verfahrensabwicklung nützlich sein. Dabei ist es allerdings mit den erforderlichen sachlichen Voraussetzungen streng zu nehmen (nebst der Bedürftigkeit die fehlende Aussichtslosigkeit bzw. prozessuale Unzulässigkeit des Leistungsbegehrens bzw. der verlangten Handlungen; erhebliche Tragweite der Sache für die gesuchstellende Partei; Schwierigkeit der aufgeworfenen Fragen; fehlende Rechtskenntnisse des Versicherten; vgl. BGE 112 Ia 17 Erw. 3c). Ein strenger Massstab wird insbesondere an die Notwendigkeit der Verbeiständung zu legen sein. Wo eine an den Untersuchungsgrundsatz gebundene Behörde wie die Sozialversicherungsorgane im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren über das Leistungsgesuch eines Versicherten zu befinden hat, dürfte die Mitwirkung eines Rechtsanwaltes regelmässig nicht erforderlich sein. Ein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung entfällt insbesondere dann, wenn die geltend gemachten Leistungsansprüche durch das normale Abklärungsverfahren ausgewiesen werden bzw. die Verwaltung dem Leistungsgesuch entspricht. Sodann drängt sich ![]() | 15 |
Zusätzlich zu diesen engen sachlichen Voraussetzungen muss auch in zeitlicher Hinsicht eine Limitierung eines aus Art. 4 BV abzuleitenden Anspruches auf unentgeltliche Verbeiständung erfolgen. Denn bei Eingang eines Leistungsgesuches bzw. bei Beginn des IV-rechtlichen Abklärungsverfahrens ist in der Regel völlig ungewiss, welche Leistungen überhaupt in Betracht fallen. Es können somit in diesem Verfahrensstadium regelmässig noch gar keine Prozess- bzw. Verfahrensaussichten festgestellt werden. Vielmehr muss die Invalidenversicherungs-Kommission zunächst einmal pflichtgemäss tätig werden. Erst wenn nach diesen Abklärungen sich ein Verfahrensergebnis abzuzeichnen beginnt, lässt sich überhaupt beurteilen, ob die vom Ansprecher geltend gemachten Leistungsarten begründet sind oder nicht. Kristallisationspunkt ist diesbezüglich der Erlass des Vorbescheides nach dem erwähnten Art. 73bis IVV. In diesem Anhörungsverfahren, das, wenn der Versicherte Einwendungen vorträgt oder vortragen lässt, eindeutig schon Elemente eines streitigen Verfahrens aufweist, kann es unter den erwähnten sachlichen Voraussetzungen verfassungsrechtlich geboten sein, dem Leistungsansprecher die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen. Damit ist dem Versicherten auf der Stufe des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens und im Stadium des unmittelbar bevorstehenden Verfügungserlasses der verfassungsrechtliche Minimalanspruch auf unentgeltliche Verbeiständung gewahrt.
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c) Den vom BSV in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgetragenen Bedenken gegen die Ausdehnung des Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung auf das IV-rechtliche Abklärungsverfahren kann, soweit ihnen mit der zeitlichen Limitierung des Anspruchs nicht bereits Rechnung getragen worden ist, nicht gefolgt werden. So bestehen namentlich zwischen Verwaltungsbeschwerde- und Verwaltungsgerichtsverfahren einerseits und dem nichtstreitigen Verwaltungsverfahren anderseits keine wesensmässigen Verschiedenheiten, welche gegen eine solche Ausdehnung sprechen würden. Im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren, welches mit dem Erlass der Verfügung abgeschlossen wird (Art. 5 VwVG; ![]() | 17 |
Schliesslich sprechen auch die vom BSV erwähnten Kostengesichtspunkte nicht gegen eine Ausdehnung des Anspruches auf unentgeltliche Verbeiständung. Insoweit kantonale und Verbandsausgleichskassen sowie die Invalidenversicherungs-Kommissionen ![]() | 18 |
6. Im vorliegenden Fall ist es zum Vorbescheidsverfahren noch gar nicht gekommen. Dennoch will die Vorinstanz dem Beschwerdegegner die unentgeltliche Verbeiständung für das gesamte IV-rechtliche Verwaltungsverfahren gewähren, dies mit dem einzigen Hinweis, es handle sich vorliegend um einen "Ausnahmefall". Indessen wird vom kantonalen Gericht nicht dargetan, inwiefern der vorliegende Fall ein Ausnahmefall sein soll. Die vorinstanzlichen Erwägungen vermögen in diesem Punkt nicht zu überzeugen, weil lediglich die sachlichen Voraussetzungen für die unentgeltliche Verbeiständung berücksichtigt werden, nicht jedoch die zeitlichen Bedingungen, d.h. die Durchführung des Vorbescheids- und Anhörungsverfahrens. Im vorliegenden Fall hätte der Rechtsvertreter des Beschwerdegegners sämtliche Einwände gegen die von der Verwaltung in Aussicht genommene Begutachtung durch den Psychiater Dr. med. H. im Anhörungsverfahren vortragen können. Dass der Anwalt bereits vorher intervenierte und seinem Klienten hiefür die unentgeltliche Verbeiständung zugesprochen werden soll, ist verfassungsrechtlich nicht erforderlich. Der kantonale Gerichtsentscheid ist daher aufzuheben. Dem Beschwerdegegner bleibt die Möglichkeit gewahrt, nach Erlass des Vorbescheides ein Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung zu stellen oder stellen zu lassen.
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